von Lutz Götze

Reflexionen über die Zeit beherrschen das philosophische Denken wie auch das Regeln von Alltagsproblemen seit altersher (eine historische Darstellung dessen findet sich in Götze 2004, 2011). Freilich ist die Frage des Augustinus, was eigentlich Zeit sei, bis heute nicht beantwortet. Der Kirchenvater hatte geschrieben, er wisse zwar des Rätsels Lösung, könne sie aber nicht in Worte fassen und einem Anderen deshalb nicht erklären. Mit heutigen Worten hatte er damit auf den Unterschiede von deklarativem und prozeduralem Wissen hingewiesen.

Neuere Entwicklungen im Zuge  der Globalisierung legen eine Differenzierung des Zeitbegriffes jenseits der traditionellen Scheidung in lineare und zirkuläre Zeitvorstellungen nahe, mithin ein System unterschiedlicher Zeitkonzepte: Zeit der Realwirtschaft vs. Zeit der virtuellen Wirtschaft und Zeit der virtuellen Wirtschaft vs. Prozesse demokratischer Willensbildung.

Zeit der Realwirtschaft vs. Zeit der virtuellen Wirtschaft

Mit der ›Liberalisierung‹ der Finanzmärkte in der Nachfolge der Theoreme Milton Friedmans, fußend auf Adam Smith´s Annahme von der die Märkte lenkenden unsichtbaren Hand, hat sich die Weltwirtschaft fundamental verändert. Börsenkurse klettern und stürzen ab, Länder wie Griechenland oder Spanien, freilich auch Japan oder die Vereinigten Staaten von Nordamerika, versinken im Schuldensumpf, Hedge-Fonds und andere Investmentstrategen spekulieren auf fallende Kurse sowie den Bankrott ganzer Staaten und treiben, legalisiert durch Gesetze, die von unwissenden oder kriminellen Strategen in öffentlichen Ämtern erlassen wurden, die Politik vor sich her. Seit der Computerhandel von Aktien rund um die Uhr freigegeben worden ist, werden an den Börsen der Welt in Sekundenschnelle Milliardenbeträge veräußert und aufgekauft, werden solide wirtschaftende Unternehmen über Nacht in den  Ruin getrieben und vertrauensselige Anleger in großem Stil betrogen. Die verantwortlichen Jongleure, zumal in der angelsächsischen Welt beheimatet, ziehen heuschreckenartig über Länder und Kontinente hinweg und lassen eine Spur der Verwüstung hinter sich. Freilich finden sie ehrgeizige Nachfolger keineswegs nur in den Schwellenländern, neuerdings BRIC-Staaten genannt, also Brasilien, Russland, Indien und China, sondern weltweit. Der Tanz um das Goldene Kalb scheint unaufhörlich an Tempo zu gewinnen. Dieser Kapitalismus in seiner reinen Ausprägung, nämlich der radikalen Mehrwerterwirtschaftung, packt den Menschen in seinem innersten und wirkmächtigsten, weil lebenslangen, Trieb. Deshalb ist die Strategie der ›liberalisierten‹ Märkte so ungemein erfolgreich: Jeder will der Erste und Reichste im Wettbewerb sein.

Freilich ist nicht erst seit der Lehman Brothers-Katastrophe deutlich, was schon Johann Wolfgang Goethe im Zauberlehrling verkündete: »Die ich rief, die Geister, wird´ ich nicht mehr los!« Die Wölfe, durch Reagan, Thatcher, Schröder und andere Staatenlenker von der Kette gelassen, sind mit herkömmlichen Mitteln nicht mehr zu bändigen.
Zweierlei wird aber auch deutlich: Zum einen fehlt es nicht an ergebenen Wirtschaftswissenschaftlern, die unverändert ihren Studenten klarzumachen versuchen, dass die bekannten Theorien ihrer Sparte nach wie vor gelten und die Arbitrarität der Märkte zu erklären vermögen; zum zweiten wird deutlich, dass der Satz, im Kapitalismus würden Gewinne privatisiert und Verluste sozialisiert, nie so überzeugend bestätigt wurde wie gerade heute. Banken wie die Hypo-Real-Estate hatten in besseren Zeiten sämtliche Gewinne behalten und wurden nun, da sie durch kriminelle Praktiken Milliardenverluste eingefahren hatten, als »systemrelevant« deklariert. Die Zeche hatte und hat bis heute der Steuerbürger zu zahlen.
Die atemlose Welt der computergesteuerten virtuellen Wirtschaft – ohne Innehalten und sich ständig beschleunigend – schafft ein Zeitkonzept, das jenem der Realwirtschaft diametral gegenüber steht. Dieser Bereich, also die Produktion von Gütern wie Maschinen, Verkehrsmittel und Anlagen, folgt im Regelfall seinen traditionellen Gesetzen: Die Herstellung eines Kraftwagens ist auch im Zeitalter der automatisierten Produktion ein langwieriger Prozess: von der Schmelze des Eisenerzes und der Stahlgewinnung bis zum Endprodukt dauert es eine geraume Zeit. Ähnliches gilt für die überwiegende Zahl aller anderen produzierten Güter.

Dabei muss festgehalten werden, dass das Zeitkonzept der Realwirtschaft zukünftig in wachsendem Maße jenem der virtuellen Wirtschaft geopfert und damit, so ist zu prognostizieren, die Welt von morgen durch ein einziges Zeitkonzept dominiert werden wird, nämlich jenem der digitalisierten Virtualität und dem engen Zusammenspiel von Hedge-Fonds und Rating-Agenturen – wenn nicht entschieden gegengesteuert wird und die ›Märkte‹ gebändigt werden. Denn, anders als es das Gerede von den sich selbst steuernden und vermeintlich anonymen Finanzmärkten suggerieren will, gilt: Diese Entwicklung ist von Menschen gemacht, weil gewollt! Hier geht es nicht um automatisch ablaufende oder determinierte Abläufe, sondern um von Menschen geschaffene und daher auch, durch Menschen, korrigierbare Prozesse. Hier muss neues Denken ansetzen, das sich fundamental unterscheidet vom Mythos einer von Gott gegebenen und von Menschenhand nicht beeinflussbaren Entwicklung rund um den Globus.

Dies gilt umso mehr seit dem November 1989: Mit dem von Bürgerrechtlern vorangetriebenen Sturz der Berliner Mauer und dem Ende des vermeintlich sozialistischen Systems gilt weltweit das kapitalistische Wirtschafts- und Finanzsystem als einzige Gesellschaftsform, die Überleben garantiere. In zwei Publikationen, die allgemeine Zustimmung und nur geringfügigen Protest oder Widerstand erfuhren, ist dieser vermeintliche endgültige Sieg des Kapitalismus gefeiert und scheinbar bewiesen worden: Francis Fukuyama proklamierte 1992 in Das Ende der Geschichte eben diesen Sieg über den Kommunismus Moskauer Prägung und wähnte sich dabei obendrein im Recht, Hegel als Zeugen anrufen zu können. In Wahrheit freilich hatte er Gottfried Wilhelm Friedrich Hegel entweder nicht gelesen oder nicht verstanden. Der hatte, nach dem Triumph der napoleonischen Truppen über Preußen in der Doppelschlacht von Jena und Auerstedt 1806, den Erfolg der Ideen der Französischen Revolution – Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – verkündet und damit das Ende der absolutistischen Ära vorausgesehen: nicht ahnend freilich, dass alsbald Napoleon eben dieses Ideenwerk usurpierte.

Samuel Huntington veröffentlichte im Folgejahr, also 1993, sein Buch The Clash of Civilizations and the Remaking of World Order. Huntington sah, nach dem Zusammenbruch des östlichen Systems und dem Ende des Kalten Krieges, die zentrale Auseinandersetzung der Zukunft im Kampf des westlichen Systems mit den islamischen Ländern einerseits und China andererseits (Schulze 2012).
Auch diese Prognose war falsch. ›Der‹ Westen als vermeintlich monolithisches System existiert ebenso wenig wie ›der‹ Islam. Beide Systeme leben als Blöcke nur in den Köpfen ihrer Protagonisten und sind in Wahrheit vollkommen zerstritten, wie die Auseinandersetzung um Griechenland, Spanien und Portugal einerseits sowie der Streit um Syrien andererseits belegen. Die Frontlinien der Zukunft verlaufen anders, wie ebenso die Geschichte 1989 natürlich nicht an ihr Ende gelangt ist.

Gleichwohl feiern andere Mythen fröhliche Urständ: Die Behauptung der deutschen Bundeskanzlerin, das westliche Wirtschafts- und Finanzsystem sei nach 1989 das einzig reale und zukunftsträchtige, mithin »alternativlos«, erfuhr nur geringen Widerspruch. Es gehe, so Angela Merkel, deshalb darum, die Politik den Sachzwängen der Märkte anzupassen. Gefordert sei eine »marktkonforme Demokratie«, also die Unterordnung demokratischer Grundsätze unter das Diktat der Märkte.

Zeit der virtuellen Wirtschaft vs. Prozesse demokratischer Willensbildung

Diese zweite Dichotomie ist von ungleich größerer Bedeutung für das Zusammenleben der Menschen auf demokratischer Grundlage. Wie beschrieben, verlaufen die Prozesse der virtuellen Wirtschaft rasend schnell, dauern vierundzwanzig Stunden rund um die Uhr und sind zu wesentlichen Teilen von Menschen initiierte Computerentscheidungen. Dieser Handel mit Aktien, Zertifikaten, Derivaten und Termingeschäften kann in Sekundenschnelle Milliarden virtueller Werte veräußern und aufkaufen, weil ein Programm eine solche Intervention bei Erreichen bestimmter Grenzwerte vorsieht. Auslöser können Börsenentwicklungen und Wachstumsprognosen, aber eben auch Gerüchte und sogenannte Insiderinformationen sein. Neunzig Prozent aller Börsenentwicklungen sind der Psychologie geschuldet, so meine These. Auf diese Weise werden Industrieunternehmen, aber auch ganze Staaten über Nacht ruiniert. Amerikanische Rating-Agenturen wie Moody´s führen einen mörderischen Kampf gegen die neue französische Regierung, die eine Reichensteuer beabsichtigt. Also wird die französische Bonität an den Börsen herabgestuft, damit Francois Hollande von seinen Plänen ablässt.

Bei diesen virtuellen Prozessen ist es interessant zu beobachten, wie Computern und den durch sie geprägten Institutionen in wachsendem Maße menschliche Eigenschaften zugeschrieben, sie also anthropomorphisiert werden: Die Computer ›agierten‹ störungsfrei, ist zu lesen; sie seien andererseits aber auch ›nervös‹ und müssten deshalb unbedingt ›beruhigt‹ werden, obendrein dürften Termingeschäfte den Organismus nicht ›belasten‹. Dies wirkt nicht mehr lächerlich, sondern obszön bei Termingeschäften mit Nahrungsmitteln: der Perversion aller Geschäfte. Eine kleine Schicht von Spekulanten gewinnt dabei in kurzer Zeit Unsummen von Geld und Tausende von Menschen sterben den Hungertod.

Demokratische Willensbildungsprozesse verlaufen vollkommen anders: Sie sollen eine möglichst große Zahl von Menschen einbeziehen und sind heute in Deutschland – verglichen mit den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg – ungleich schwieriger und länger andauernd aufgrund der größeren Zersplitterung der politischen Positionen und des Aufkommens neuer Parteien. Sie gelten daher der virtuellen Wirtschaft – und keineswegs nur ihr – als nicht effizient, als verkrustet und wirtschaftsfeindlich, obendrein als nicht sinnvoll, die Abläufe der virtuellen Wirtschaft störend.

Hier liegt die eigentliche Gefahr. Sie lautet: Gelingt es der virtuellen Wirtschaft, ihr Zeitkonzept auf alle Bereiche des täglichen Lebens – also Produktion wie Reproduktion der Menschen – auszudehnen, ist die Demokratie in ihren Grundfesten gefährdet. Rapide Beschleunigung des Lebens einerseits und solides Argumentieren, basierend auf der Freiheit des Wortes, dem Abwägen des Für und Wider sowie dem Respekt vor der »Freiheit des Andersdenkenden« (Rosa Luxemburg) andererseits, sind Antagonismen.
Um der demokratischen Grundposition dennoch zum Erfolg zu verhelfen, genügt nicht ein wie immer geartetes Konzept der ›Entschleunigung‹ des Lebens. Es wäre nicht mehr als ein Placebo, für Aussteiger freilich vorteilhaft. Die Mitte der Gesellschaft bliebe davon unbetroffen. Es genügt auch nicht – und ist, im Ernstfall, eher unnütz, wenn nicht gefährlich –, darauf hinzuweisen, dass demokratische Grundstrukturen und kapitalistische Mehrwerterwirtschaftung einander ausschlössen. Erstens ist es falsch und zweitens würden damit nur jene Kräfte die Oberhand gewinnen, die eine ›gelenkte Demokratie‹ im Sinne Putins oder der chinesischen Staatswirtschaft fordern oder zumindest bejahen. Die Aussage der deutschen Bundeskanzlerin über die »marktkonforme Demokratie« ist im Grunde lediglich eine etwas abgemilderte Variante dieser Position.

Die wirkliche Alternative ist die Unterordnung der Prozesse der realen wie virtuellen Wirtschaft unter den Primat der demokratisch legitimierten res publica: Gemeinwohl vor Eigenwohl, Legitimierung wirtschaftlicher Entscheidungen vor dem Allgemeininteresse, Bändigung der Finanzmärkte und ihrer Agenten, Bestrafung von kriminellen Handlungen wie Umweltzerstörung, Ausbeutung der Dritten Welt und Kriegswaffenproduktion, Verurteilung von Rassenhass. Einzig demokratisch verfasste Gesellschaften bieten die Möglichkeit, diese Ziele anzustreben. Sie zu erreichen, bedarf es vieler kleiner Schritte, die von Rückschritten begleitet sein werden. Eine vernünftige Alternative dazu aber gibt es nicht.

Literatur:
Lutz Götze, Zeitkulturen. Gedanken über die Zeit in den Kulturen, Frankfurt/Main 2004.
Ders., Zeit-Räume  ---  Raum-Zeiten. Gedanken über Zeit und Raum in den Kulturen, Frankfurt/Main 2011.
Ingo Schulze, Unsere schönen neuen Kleider. Gegen die marktkonforme Demokratie – für demokratiekonforme Märkte, Berlin 2012.

 

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