von Ulrich Schödlbauer

Man kann das dröhnende Schweigen der obersten Repräsentanten des Staates zum Mordgeschehen von Würzburg als Eingeständnis der regierenden Parteien nehmen, dass es sie angesichts des beginnenden Wahlkampfes kalt erwischt hat, und liegt damit vermutlich nicht falsch. Andererseits fällt es nicht unter die Usancen dieser Regierung und ihres angeschlossenen Parlaments, dem Volk gegenüber Eingeständnisse zu machen. Also muss schon etwas hinzukommen, das ihr Verhalten, wenn schon nicht rechtfertigt, so doch erklärt. Die einfachste Erklärung lautet auf Mimesis oder, in diesem Fall, Selbstnachahmung – warum sollte man gerade jetzt mit Stellungnahmen anfangen, wie sie bis vor nicht allzu langer Zeit in zivilisierten Staaten üblich waren, teils, um der berechtigten Empörung der Bürger Ausdruck zu verleihen, teils, um sie in die emotional und rechtlich angemessenen Kanäle zu leiten, wenn man es bisher bereits weitgehend anders gehalten hat?

Nichts ist so selbstnährend wie ein einmal verhängtes Schweigen, abgesichert durch laue Erklärungen untergeordneter Instanzen. Das gilt vor allem dann, wenn es auf krasser Ungleichbehandlung der Fälle beruht. Insofern weiß die Riege der prominenten Schweiger, dass ihr Schweigen nicht nur von der politischen Opposition, sondern auch von der mehr oder weniger unpolitischen Bevölkerung, gleichgültig, wohin ihre Sympathien tendieren, mit ritueller Bedeutung aufgeladen wird. Nach dem Grundsatz, dass nichts in der Politik geschieht, was nicht auch gewollt ist, liegt hier der Hase im Pfeffer: Ein Staat, der, abgesehen von den mehr oder weniger unmittelbar mit dem Fall befassten Instanzen, in verbale Starre verfällt, sobald der Schriftzug ›islamistischer Terror‹ über einem Kapitalverbrechen erscheint, erzeugt zwangsläufig die Assoziationskette, die er zu unterbinden vorgibt, wie sich in diesem Fall etwa an den hilflosen Gesten des ›betroffenen‹ Bürgermeisters ablesen lässt.

Es ist ein Gemeinplatz westlicher Politik, dass, wie verdeckt auch immer, der niemals zu Ende gegangene Krieg gegen den IS und seine Filiationen militärisch in Drittstaaten ausgetragen, in den Kernländern Europas hingegen heruntergebrochen wird auf das polizeinotorische Problem psychisch oder geistig verwirrter ›Männer‹ mit islamisch-islamistischem Hintergrund, wobei es das alles durchaus geben mag, ohne dass es einer Instrumentalisierung dieses Personenkreises zu Kämpferzwecken in irgendeiner Weise im Wege stünde. Wie jedermann weiß, ist ›Terror‹ selten Selbstzweck. Abseits des ideologischen Gebräus, das hauptsächlich der Rekrutierung von Kämpfern dient, liegen ihm Strategien zu Grunde – er ist die Waffe, nicht der Krieg. Daher sollte man auch die seltsame Befriedigung nicht unbefragt lassen, mit der eine empörte Gegenöffentlichkeit das behördliche Eingeständnis zu erzwingen versucht, beim Anschlag X handle es sich zweifelsfrei um eine terroristische Tat. Als Beobachter ist man versucht zu fragen: »Was dann?« Etwas an dem Vorgang erinnert fatal an die Zeit der RAF-Morde und den lange nachhallenden Spottgesang des Kölner Straßenmusikers Klaus der Geiger an die Adresse des westdeutschen Spießers, der seine Pappenheimer zu kennen glaubt: Das sind doch alles Terroristen… Unweigerlich taucht im Dunstkreis dieses Ressentiments die Jahreszahl 2015 und der unerhörte, politisch noch immer nicht angemessen aufgearbeitete Umstand auf, dass damals eine deutsche Regierung den Kämpfern einer kriegführenden Partei ohne Not verdeckte Zugänge zum eigenen Staatsgebiet und damit zu den Staaten der EU schuf, flankiert von Leitmedien, die nichts Eiligeres zu tun hatten, als die Bedenken der in Skepsis verharrenden Bürger mit dem Odium der Menschen- und Fremdenfeindlichkeit zu verzieren.

Wenn jetzt erste Polizeimeldungen öffentlich an Frauen begangene Morde mit dem Allerweltswort von den ›getöteten Menschen‹ verbal zu verschleiern beginnen, während auf der anderen Seite die ominösen ›Männer‹ weiterhin das terroristische Sprachfeld beherrschen, dann ist das ein Indikator mehr dafür, wie weit das Tabu sich bereits in diese sich selbst mit dem Schlagwort ›aufgeklärt‹ bedenkende Gesellschaft eingefressen hat. Eine Polizei, die nicht mehr weiß, wie sie sich angesichts der im Raum stehenden politischen Vorgaben auszudrücken hat, lädt nicht zwingend Schuld auf sich. Aber sie lenkt den Blick auf den Schuldzusammenhang, in dem eine Tabugesellschaft unweigerlich angesichts ihrer eigenen moralischen Ansprüche versinkt. Das taktische Schweigen von Repräsentanten, die nicht zuletzt gewählt wurden – oder sich gerade zur Wahl stellen –, um den Wählern – dem Volk – in wesentlichen Angelegenheiten Rede und Antwort zu stehen, spielt zwar, von Nachfolgetätern abgesehen, weniger den Mördern in die Hände, für deren Behandlung die Justiz zuständig ist, aber es kommt den Absichten der beschwiegenen Drahtzieher des Terrors entgegen, deren erklärtes Ziel darin besteht, den Zerfall der westlichen Gesellschaften voranzutreiben. Auf der einen Seite verstärkt es, ob gewollt oder ungewollt, den populären Antiislamismus, dem die Grenzen zwischen Religion und Mord im Grau der Mutmaßungen über die Anderen verschwimmen. Auf der anderen, der muslimischen Seite hingegen befördert es, soweit nicht Komplizenschaft im Spiel ist, eine dem Radikalislam nützliche Wagenburg-Mentalität, die, genau betrachtet, Züge der Angstumkehr trägt, ohne dass dies den in Mitleidenschaft Gezogenen zwingend bewusst wäre.

Fälle wie der des islamischen Reformtheologen Ourghi, dem seine orthodoxe Zunft die Lehrbefugnis entziehen kann, ohne damit auf nennenswerten Widerstand oder gar mehr als den in solchen Fällen erwartbaren Protest zu stoßen, dürfen als grelle Indizien dafür gelten, dass überall dort, wo sich Macht und Religion in diesem Staate begegnen, das Stichwort ›Integration‹ kaum mehr als den Paravent hergibt, hinter dem das zähe Ringen der Interessen seinen labyrinthischen Gang geht. Mit dem Pfund ›Identität‹ lässt sich trefflich wuchern und niemand schert sich darum, auf welch schmutzigen Wegen sie hergestellt oder verstärkt wird. All das ist seit langem bekannt. Es wäre hoch an der Zeit, das Liebäugeln mit einer identitär gespaltenen Bevölkerung, gleichgültig, ob christlich oder muslimisch, divers oder queer, als Verfügungsmasse für macht- und systempolitische Obsessionen in seinen fatalen Implikationen zur Diskussion und damit zur Disposition zu stellen – um es letztendlich zu verwerfen.

Die Zeichen stehen auf Repression.