von Gunter Weißgerber
Liebe Kolleginnen und Kollegen,
1990 begaben sich die Ostdeutschen mehrheitlich unter das Dach der Deutschen Einheit, um durch die Mitgliedschaft in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und der NATO ihre 1989 gewonnenen Freiheiten irreversibel absichern zu können. Nie wieder sollte die Hand des Moskauer Bären nach uns greifen. Spätestens am 19. August 1991 dürfte es vielen, die vorher noch der Möglichkeit eines ›Dritten Weges‹ zwischen Sozialismus und Kapitalismus anhingen, klar geworden sein, dass wir im Falle eines Putschistensieges in Moskau in der Falle von 1953, 1956, 1961, 1968, 1981 gesessen hätten – mit all den brutalen Folgen, die in den Geschichtsbüchern (noch) nachlesbar sind.
Ich danke noch immer dem Glück, welches mich 1989/90 an Freiheit, Demokratie und Deutscher Einheit hat mitwirken lassen! Doch wie steht es mit unseren Wünschen von damals in Bezug auf deren Solidität heute?
Das Demonstrationsrecht erkämpften wir gegen die hochgerüstete Staatsmacht 1989 zuerst. Das gelang auch, weil Michail Gorbatschow den deutschen Kommunisten in Ostberlin seine Schützenhilfe gegen die Bevölkerung verwehrte und die SED-Führung inklusive ihres Offizierskorps in Armee und Polizei Angst hatte, dass sich die Waffen der Soldaten und Polizisten gegen sie selbst und nicht gegen das Volk richten würden.
Das Demonstrationsrecht ist seiner Natur nach unpolitisch und gehört keiner einzelnen Gruppe, Partei oder Regierung. Der parteipolitisch unabhängige und wehrhafte Staat schützt den Rechtsrahmen des Grundgesetzes und damit die offene plurale Gesellschaft. Soweit zum Ziel der meisten 89er Demonstranten ›mittelosteuropaweit‹.
Wir wollten das Demonstrationsrecht für alle in einer weltanschaulich neutralen Republik im Rahmen von freien Wahlen, Gewaltenteilung in Legislative, Exekutive, Judikative, unabhängige Medien, die darauf achten, dass Verfassungsfeinde nicht den Staat okkupieren können. Wer Verfassungsfeind ist, stellt dabei nicht die politische Konkurrenz fest. Das ist allein Sache des Bundesverfassungsgerichts. Soweit die Theorie seit 1848 und 1989.
Wie steht es um die Praxis des Jahres 2020?
Das Demonstrationsrecht ist seitens des Staates sicher. Das merken die rechten und linken Ränder der Gesellschaft immer wieder – deren Demonstrationen werden polizeilich geschützt.
Demonstrationsrecht und Meinungsfreiheit stehen jedoch von anderer Seite unter gewaltigem Druck. Unter der spalterischen Parole ›Kampf gegen rechts‹ unterliegt inzwischen jede auch nur in Details von der Regierungslinie abweichende Meinung dem offiziösen Verdikt: ›Rechts‹, ›Nazi‹, ›Verschwörerungstheoretiker‹, ›Skeptiker‹ und – ganz neu– ›Rassist‹. Obwohl die Bundesregierung parteipolitisch neutral sein muss, Innenminister Seehofer wurde dies beispielgebend vom Bundesverfassungsgericht im Juni eindringlich ins ministerielle Stammbuch geschrieben, fördert sie unverhältnismäßig Aktivisten und Vereine/Antifa/NGOs, die das politische Leben der res publica mit einer Linksaußenbrille beurteilen.
Statt den Extremen aller Seiten, den rechten, den linken, den islamistischen beherzt entgegenzutreten, verlor diese Bundesregierung den Kompass der ausgleichenden Mitte und brachte die Bundesrepublik in die schwierigste Schieflage seit ihrem Bestehen.
Politisch äußert seine Meinung nur noch öffentlich, wer auf Regierungs- und Antifa-Linie lustwandelt. Nachfragend oder kritisch äußert sich inzwischen nur noch, wer mutig und/oder unabhängig ist oder wer nichts zu verlieren hat. Große Teile der Bevölkerung sind längst auf dem Weg in die private Nische und gehen der Republik verloren. Das können sich Diktaturen vermeintlich leisten, Demokratien gefährden sich damit selbst.
Die Öffentlich-Rechtlichen Medien haben eine traurige Genese zum Staats- und Regierungsfunk hinter sich. Der Glanz von ARD und ZDF ist perdu. Für immer? Auch vielen privaten Medien ist das so hinter den Spiegel zu stecken. Die ›Vierte Gewalt‹ wurde zum Transmissionsriemen der Kabinette Merkel I-IV. Inzwischen werden sie zum Teil staatlich bezuschusst. Aus unabhängigen, der objektiven Berichterstattung verpflichteten Medien wurden abhängige, einseitige, die Pluralität verheimlichende Organe. Kehren wir um!
Meinten die meisten 89er Demonstranten im Sinne Voltaires, jede Meinung, sei sie noch so ärgerlich, müsse geäußert werden dürfen, so ist 2020 festzustellen, dass das Behindern nicht verbotener Demonstrationen geduldet wird und das Äußern eigener, vom Regierungskurs abweichender Meinungen zwar (noch?) nicht ins Gefängnis oder ins Lager führt, aber die Existenz kosten kann Eine offene Gesellschaft, die nicht atmen kann, führt sich ad absurdum.
Unsere Freiheit folgte 1989 dem gerade gewonnenen Demonstrationsrecht auf dem Fuß. Abgesichert hatten wir die Freiheit in einem ersten Schritt mit der ersten und letzten freien Volkskammerwahl. Seit dem 18. März 1990 besaß die DDR-Bevölkerung erstmals ein Parlament und eine Regierung, die aus freien Wahlen hervorging. 2020 besitzen wir diese Freiheit noch immer. Werden wir sie nach einem ökologischen Umbau noch immer besitzen?
›Freie Wahlen!‹ war eine Hauptforderung 1989. Wir setzten diese Forderung durch und wählen seitdem regelmäßig die Parlamente der verschiedenen Ebenen. 2020 ist zu konstatieren, im Lande gibt es Bestrebungen, das Wahlrecht zu deformieren. Die große Zahl der Überhangmandate führt zu abstrusen Überlegungen, die Erststimmen (Direktmandate) zu Lasten der Zweitstimmen zu kürzen – also den Proporz zwischen direkter Demokratie (Direktmandat) und Parteiendemokratie (Parteilistenplatz) zugunsten der Parteilinien zu verzerren. Käme es dahin, verkäme die Bundesrepublik zu einer stärkeren Beute von Parteien. Kreativität, Mut, Entschlossenheit würden unter Kandidaten und Abgeordneten in die Nische der Existenzsicherung entfleuchen. Die Bundesrepublik würde eine andere, unsympathischere.
Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen,
1989 kam mit ›Freie Wahlen jetzt!‹ eine zentrale Forderung von ›unten‹. 2020 mehren sich Forderungen von ›oben‹ nach Wahlwiederholungen. Im Februar dieses Jahres wurde der Freidemokrat und Katholik Thomas Kemmerich in geheimer Wahl zum Minderheits-Ministerpräsidenten von Thüringen gewählt. Sein Regierungsangebot hatte er an CDU, SPD und Grüne gerichtet. 1989/90 hätte diese Wahl Bestand gehabt. Die Ostdeutschen wollten nach Jahrzehnten von Diktatur und Einheitsliste frei wählen und die Ergebnisse akzeptieren.
Was hat sich in den vergangenen dreißig Jahren so dramatisch verändert, dass es einer faktischen Obrigkeit möglich ist, Wahlen und Wahlergebnisse nach politischer Wetterlage gebrauchen oder missbrauchen zu können? Drei Jahrzehnte war es – gut begründet – nicht möglich, der Regierungslinie unangenehme Wahlergebnisse rückgängig zu machen. Kritiker von SED-PDS/Linke-Kooperationen kämpften zwar gegen solche Bündnisse an, akzeptierten diese letztlich jedoch immer und immer wieder. Aus Gründen der Rechtsstaatlichkeit und der Achtung vor dem Föderalismus im Staat und in den Parteien.
2020 maßte sich die Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland, eine ehedem Ostdeutsche, die Forderung nach Rückgängigmachung der juristisch einwandfreien Wahl des FDP-Ministerpräsidenten Kemmerich an. Zentralstaat schlug Föderalstaat. Ein Dammbruch.
Ebenfalls 2020 erlebten wir die Diskussionen um die Wahlen des Kulturamtsleiters von Radebeul und einer linksextremen Politikerin in Mecklenburg-Vorpommern zur Verfassungsrichterin. Im Fall von Jörg Bernig setzte die Obrigkeit eine Neuwahl an, der sich der juristisch einwandfrei gewählte Delinquent konsequenterweise nicht aussetzte. Er hätte das allen 89er Forderung zuwiderlaufende Verfahren akzeptiert. Für ihn, für sehr viele Demonstranten von damals wäre das ein Schritt hinter die Friedliche Revolution gewesen. Anders der Fall Borchardt. Sie bleibt trotz Protesten selbstverständlich im Amt, keine Obrigkeit fordert deren Rückzug. Dabei ist diese Frau tatsächlich eine Feindin der ›Freiheitlich Demokratischen Grundordnung‹. Was Jörg Bernig definitiv nicht ist. Er ist im Gegensatz zur linken Verfassungsrichterin mit verfassungsfeindlichen Anschauungen ein Demokrat, der innerhalb des politischen Systems auf dem vormaligen Platz der CDU der Zeit vor Frau Merkel positioniert ist. Muss die CDU-Geschichte 1949 bis 2005 nun umgeschrieben werden?
Ich bin erschüttert und komme zurück zu 1989
Ich sage es so, der Weg vom ›Freie Wahlen jetzt!‹ zum ›Wählen lassen, bis es passt‹ ist ein Weg zu 1984, zu Die Farm der Tiere, Fahrenheit 451 oder Der vormundschaftliche Staat. Halten wir inne! Besinnen wir uns! Geben wir der Meinungs-, der Wissenschaftsfreiheit und dem Demonstrationsrecht wieder den Platz, den sie noch vor wenigen Jahren einnahmen und diese Republik zum Besten machten, was es je innerhalb deutscher Staatsgrenzen gab.
Stichwort Wissenschaftsfreiheit: These und Antithese, das Hinterfragen scheinbar fester Positionen, scheinbar unwiderlegbarer Erkenntnisse gehört seit der Aufklärung zum Besteck seriöser Wissenschaft. Dieses Besteck verlor in den letzten beiden Jahrzehnte in Deutschland, aber auch weltweit an Bedeutung. Aus einer Wissenschaft, die sich im kreativen Diskurs von These und Antithese immer weiterentwickelte, wurde ein Wissenschaftsbetrieb, der von der öffentlich-politisch geförderten Thesenbestätigung zu Lasten der kritischen Nachfrage lebt. Wir ersticken die Wissenschaft und damit unsere Weiterentwicklung. Geben wir der Wissenschaft ihre Freiheit zurück!
Ich bin meinem Schicksal dankbar, in einer Zeit politisch wirksam gewesen sein zu können, die zu den glücklichen Momenten der deutschen und europäischen Geschichte gehört. Ohne unsere mittelosteuropäischen Nachbarn und Freunde, herausragend an dieser Stelle seien Polen, Ungarn und die Tschechoslowakei sowie Michail Gorbatschow mit seiner Politik von Glasnost und Perestroika genannt, hätten wir diese glückliche Zeit mit ihren wunderbaren europäischen Folgen nicht erleben können.
Unbedingt sei auch der US-amerikanische Präsident George Bush gewürdigt. Seine kluge und auf Gorbatschows Stellung innerhalb der sowjetischen Führung bedachte Politik gab uns Deutschen die Chance, die historisch kurzzeitig geöffnete Tür zu Freiheit und Sicherheit in der Einheit souverän mit dem ›Zwei-Plus-Vier-Vertrag‹ zu durchschreiten. Mit Fünfundvierzig Jahren Verspätung und der Überwindung einer weiteren Diktatur bekamen die Deutschen und ihre Nachbarn damit endlich ihren Friedensvertrag.
Ich danke posthum Willy Brandt für dessen ›Neue Ostpolitik‹, Helmut Schmidt, Ronald Reagan, Helmut Kohl für die Idee und das Umsetzen der ›Doppelten Nulllösung/NATO-Doppelbeschluß‹! Ohne die Vertrauens- und Gleichgewichtspolitik und deren Ergebnisse müssten auch die ›Leipziger Friedensgebete‹ noch immer unter den Bedingungen kommunistischer Unfreiheit organisiert werden.
Ich danke den Ostdeutschen, die unter Androhung der Todesstrafe als Deutsche von Deutschland nach Deutschland flüchteten. Sie führten unter Lebensgefahr den Unrechtsstaat DDR aller Welt vor Augen und zerstörten dessen unmoralische Grundlagen ebenso wie die Oppositionellen der 50er, 60er, 70er und 80er Jahre. Der Erfolg von 1989 hatte viele Mütter und Väter. Die Flüchtlinge und politischen Gefangenen der Diktatur des Proletariats gehören untrennbar dazu.
Nicht zuletzt danke ich Richard Schröder. Als SPD-Fraktionsvorsitzender hatte er wesentlichen Anteil an der Zustimmung der ostdeutschen Sozialdemokratie am 23. August 1990 zum Beitritt zur Bundesrepublik nach GG 23. Ohne die SPD-Fraktion hätte es keine verfassungsgebende Zweidrittelmehrheit für diesen Schritt gegeben. Auch dank der SPD gewannen wir damit nahezu dreißig Jahre Aufschwung, Sicherheit, gute europäische und transatlantische Nachbarschaft.
Sozialdemokrat bin ich wieder ohne Parteibuch. Mein Ideal ist eine Sozialdemokratie, deren vornehme Aufgabe die Interessenvertretung von Facharbeitern, Technikern, Ingenieuren, Wissenschaftlern, willentlich aufstrebenden Menschen ist, die die von der Kehrseite des Erfolgs betroffene Mitbürger nicht aus dem Auge verlieren. Ohne den starken Wirtschafts-, Energie- und Wissenschaftsstandort Deutschland ist das nicht zu haben. Meine vormalige Partei verließ diesen Kurs irreversibel. Das hat die Bundesrepublik Deutschland nicht verdient!
Ich bin gern Deutscher, Europäer und Transatlantiker in einer offenen Gesellschaft. Halten wir alle diese Republik offen!