von Michael Strebel
Bei der feierlichen Konstituierung des 18. Deutschen Bundestages am 22. Oktober 2013 führte Bundestagspräsident Norbert Lammert aus: »Die Kultur einer parlamentarischen Demokratie kommt weniger darin zum Ausdruck, dass am Ende Mehrheiten entscheiden, sondern darin, dass Minderheiten eigene Rechtsansprüche haben, die weder der Billigung noch der Genehmigung durch die jeweilige Mehrheit unterliegen. Die Minderheit muss wissen, dass am Ende die Mehrheit entscheidet, was gilt, und die Mehrheit muss akzeptieren, dass bis dahin – und darüber hinaus – die Minderheit jede Möglichkeit haben muss, ihre Einwände, ihre Vorschläge, wenn eben möglich auch ihre Alternativen zur Geltung zu bringen.«
Roger Willemsen, der ein Jahr lang das deutsche Parlament von der Zuschauertribüne aus beobachtete und seine Eindrücke 2014 in seinem ebenso klugen wie präzisen Buch »Das Hohe Haus« schilderte, knüpft an die Aussage des Bundestagspräsidenten an und reflektiert zunächst: »Das Parlament also ist der Ort, an dem gleichermaßen die Entscheidungen fallen und an dem die Legitimität der Entscheidungen gewährleistet wird«, um dann nachdenklich hinzuzufügen: »Aber repräsentieren die Themen des Parlamentes notwendig die der Gesellschaft, oder trägt nicht schon die Vormacht der Parteipolitik und ihrer Interessen zur Entpolitisierung einer Gesellschaft bei, die sich von den Themen, den Mehrheitsverhältnissen, dem Stil des Hohen Hauses nicht vertreten fühlt?«
Die aufgeworfene Frage von Willemsen trifft das Herz des Parlamentes; er spricht eine These innerhalb der Überkommenheit der Parlamente an, die besagt, dass diese immer weniger dazu geeignet seien, relevante gesellschaftliche Anliegen angemessen aufzugreifen. Hat der Bürger den Eindruck, »seine« politischen Themen würden nicht in der parlamentarisch-medialen Arena beachtet, so hat der repräsentative Parlamentarismus ein ernst zu nehmendes Problem. In der aktuellen Legislaturperiode, so Lammert im März 2017 gegenüber dem Deutschlandfunk, seien unterschiedliche Stimmungen, Meinungen und Strömungen der Gesellschaft im Bundestag nicht immer erkennbar gewesen. Claus Leggewie und Patrizia Nanz formulieren es in einem Aufsatz pointierter, sie machen einen »Beteiligungsstau« aus, »angesichts einer Politik, die von den Regierenden als alternativlos beschrieben« wird. Es überrascht denn auch nicht, wenn die AfD gemäß ihrem ersten Grundsatzprogramm dem Volk das Recht geben will, über vom Parlament beschlossene Gesetze abstimmen zu lassen.
Indessen ist die Forderung nach mehr Partizipation auf Bundesebene kein Alleinstellungsmerkmal der AfD. Je nach politischer ›Großwetterlage‹, fordern Parteien unterschiedlicher Färbung mehr Bürgerbeteiligung. Sogar die in dieser Frage bisher eher zurückhaltende CSU startete die erste Mitgliederbefragung in ihrer Geschichte mit der Frage, ob sie sich für Volksentscheide auf Bundesebene einsetzen solle (68 Prozent bejahten die Frage), und zwar just nach dem Entscheid des Bundestages im Juni 2016, welcher – mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen – den Gesetzesentwurf der Fraktion Die Linke ablehnte, die mit Volksinitiativen, Volksbegehren und Volksentscheiden mehr Bürgerbeteiligung auf Bundesebene ermöglichen wollte.
Was bei der Debatte um mehr Volksrechte, die nicht nur in Deutschland, sondern beispielsweise auch in Österreich geführt wird, auffällt, ist (und dies ist das Problematische daran), dass Parteien, die im politischen Spektrum eher rechts bis ganz rechts anzusiedeln sind, mal klarer, mal subtiler das Volk als Korrektiv von Parlamentsentscheiden begreifen. Die Abkehr von einem repräsentativen Parlamentarismus hin zu mehr direkter Demokratie wird verbunden mit einem generellen Unbehagen gegenüber politischen Institutionen und deren Repräsentanten. Spätestens, wenn eine derartige Auffassung mit dem Verweis auf die Schweiz verknüpft wird – die AfD spricht in ihrem Grundsatzprogramm explizit von Volksabstimmungen »nach Schweizer Vorbild« –, muss der Blick auf die schweizerische Praxis gerichtet werden.
Die Schweiz mit ihrer Tradition von Volksrechten, wie dem Referendum und der Volksinitiative, kann sicherlich als Inspiration für eine stärkere Beteiligung des Bürgers dienen. Allerdings stehen die Spezifika des Schweizer politischen Systems – wie beispielsweise, dass stets die vier großen Parteien die Regierung bilden, dass der klassische Dualismus Regierung/Opposition keine Rolle spielt, dass keine Bundesverfassungsgerichtsbarkeit besteht – einer unveränderten Übernahme in ein anderes, etwa ein parlamentarisches politisches System, entgegen. Zu Recht sagte der Bundessprecher von »Mehr Demokratie« anlässlich der Pressekonferenz (an der der Autor dieses Artikels teilnahm) zum Volksbegehrensbericht 2017: »die Schweiz kapieren, nicht kopieren«.
Die Schweiz kann aber nicht als Referenz für diejenigen politischen Akteure herangezogen werden, welche die Absicht hegen, mittels Volksrechten den Parlamentarismus zu schwächen oder diese sogar als dessen Alternative zu beschwören. Dies wäre zudem ein gefährlicher Weg: Man könne schnell eine Demokratie ruinieren, sagte unlängst der Historiker Andreas Rödder im »Spiegel«, wenn der demokratische Konsens verloren gehe. Der Blick muss nicht weit in die geografische Ferne schweifen, um in dramatischer Weise zu sehen, wie schnell politische Institutionen zu Alibieinrichtungen verkommen können.
Die schweizerische Praxis ist bezüglich Parlamentarismus und Volksrechten eine andere: Im Laufe der Zeit hat sich ein Regierungssystem entwickelt, in welchem der Souverän, die Legislative und die Exekutive nach klaren Vorgaben zusammenarbeiten. Auch die verbreitete Auffassung, Referenden (50000 Bürger können ein Gesetz zur Abstimmung bringen) seien generell als Kritik gegenüber Parlamentsbeschlüssen zu verstehen, verflüchtigt sich bei genauerem Hinsehen: Über neunzig Prozent der Beschlüsse des Parlamentes treten ohne Referenden in Kraft, und letztlich werden nur drei Prozent der Beschlüsse durch eine Volksabstimmung abgelehnt. Diese Zahlen verdeutlichen einerseits die präventive Wirkung eines Referendums, andererseits die starke Legitimität und Akzeptanz, welche Parlamentsbeschlüsse erzeugen.
Unterschiedliche Gründe mögen für mehr Partizipation auf deutscher Bundesebene sprechen. Diese Debatte wird nunmehr weitergehen – weitergehen müssen. Dieser Diskurs sollte aber tunlichst anders als im österreichischen Parlament gestaltet werden. Beinahe ein Jahr lang hat sich dort die Enquetekommission damit beschäftigt, wie die Demokratie in Österreich gestärkt oder neu gedacht werden kann. Der Nationalrat nahm im September 2015 Kenntnis von den Empfehlungen der Kommission. Sowohl ihr Zustandekommen als auch ihr materieller Gehalt ernteten lautstarken Widerspruch. Die Regierungsfraktionen – bestehend aus der SPÖ und ÖVP – lehnten ernsthaft gemeinte plebiszitäre Elemente auf Bundesebene ab und setzten sich mit einem unverhohlen machtpolitischen Entscheid durch. Die Oppositionsparteien betrachteten die Empfehlungen kritisch bis gänzlich ablehnend, ja sie wurden gleichermaßen gar als ein Rückschritt eingestuft, was der neutrale Beobachter mehr als nachvollziehen kann. Acht Bürger, die aus 1200 Interessierten aus der Bevölkerung per Los ermittelt wurden, ausgestattet mit einem Rede-, jedoch ohne Stimmrecht, wurden als Mitglieder der Enquetekommission beigezogen; Voraussetzung waren die österreichische Staatsbürgerschaft und die Vollendung des 16. Lebensjahres. Ihre gemeinsame Stellungnahme zum Abschlussbericht der Kommission ist kein Ruhmesblatt für den Parlamentarismus. Da schreibt ein Teilnehmer, wie die Entscheidungen zu den Empfehlungen »gefallen« sind, »entbehrt … jeder demokratischen Regel. Diese Art fördert die Politikverdrossenheit des Volkes«, und er resümiert resignierend: »Als enttäuschter Demokrat beende ich meine Mitarbeit« in der Enquetekommission. Wird zudem das Protokoll der Plenarsitzung zur Beratung des Berichtes hinzugezogen, so dürfen sich Parlamentarier nicht darüber wundern, wenn sich Bürger nach der Lektüre weiter weg von der Politik bewegen, denn darin bestärkt das Parlament – sowohl inhaltlich als auch im Umgang mit Andersdenkenden – die Vorurteile gegenüber Politikern in dieser konkreten Frage.
Kurzweg: Wie ein Diskurs geführt wird, sagt viel über ein Parlament aus, wie es Lammert zu Recht bei der konstituierenden Sitzung 2013 sagte. Die Parlamentarier müssen zudem bei den Bürgern fortwährend um die Akzeptanz des Parlamentes werben. Wie die repräsentative Demokratie mit mehr Partizipation der Bürger ergänzt werden kann, muss Gegenstand der kommenden Amtsdauer sein – Ausgang ungewiss. Aber ein Imperativ muss bedingungslos gelten: Die Schwächung des Parlamentes ist keine Option.
Das Gegenteil – die Stärkung des Deutschen Bundestages – ist dringend notwendig und erlaubt keinen Aufschub: die Stärkung in seinen Entscheidungsmöglichkeiten, in Europaangelegenheiten (wie durch das Bundesverfassungsgericht in verschiedenen Urteilen bestärkt), im Zulassen einer Fraktionspluralität, in der Umkehr der forcierten politischen Alternativlosigkeit, im Aufbrechen von eingeschliffenen Mustern, welche den Plenardebatten ein Stück der ritualisierten Vorhersehbarkeit nehmen. Dadurch würde die politisch-gesellschaftliche Debatte wieder dort lebhaft geführt, wo die demokratisch legitimierte öffentliche Arena ist: im Deutschen Bundestag.