1. Wer dieser Tage mit einem Sohn Willy Brandts ins Gespräch kommt, fragt natürlich zuerst nach dem Film, der jüngst über den Bildschirm lief. Das mag nerven. Dennoch: Wie fanden Sie den Zweiteiler über die letzten Tage seiner Amtszeit als Bundeskanzler?

Sie können es glauben oder nicht: Mehr als sieben- oder achtmal bin ich darauf nicht angesprochen worden; ich hatte ja mit dem Film-Projekt auch nichts zu tun, meine auch nicht, dass ich hier als Zeitzeuge besonders kompetent wäre. Als die in dem Film geschilderten Vorgänge sich ereigneten, lebte ich schon sieben Jahre nicht mehr im elterlichen Bonner Haushalt, sondern in Berlin. – Aber ungeachtet dessen fand ich den Zweiteiler schauspielerisch, dramaturgisch und hinsichtlich des Zeitkolorits gut gelungen. So könnte es gewesen sein, auch dort, wo man es nicht weiß, wie bei dem berühmten Gespräch Brandt / Wehner in Münstereifel.

2. Inwieweit wurde Ihrer Ansicht nach dieser Streifen Ihrem Vater gerecht? Was ist Legende, was von authentischem Wert?

Wenn Sie einen Menschen in einer der schwierigsten Phasen seines Lebens darstellen, mag jedes Detail stimmen – gesetzt den Fall, es wäre so, und trotzdem erhalten Sie kein realistisches, komplexes Bild der Gesamtpersönlichkeit. Dazu kommt die Tendenz des Mediums Film, selbst in seiner seriösen Variante, zur Vergröberung und Verkürzung. Klischees haben ja meist einen wahren Kern, aber eben nicht mehr. Wie viele interessante Menschen hatte Willy Brandt unterschiedliche, sogar widersprüchliche Charaktereigenschaften. Ende April / Anfang Mai 1974 dominierten bei ihm wohl die Schwächen. Daraus darf man aber nicht schließen, das wäre immer oder auch nur überwiegend gewesen. Sonst wäre seine Lebensleistung völlig undenkbar. Dafür waren auch Eigenschaften nötig wie – banal genug – Initiative, Härte, Ausdauer und Mut. Alles das sind keine Einwände gegen den von Ihnen angesprochenen Film als solchen, sondern Warnungen davor, ihn zusammenhanglos zu betrachten.

3. Was haben Sie von den Intrigen Herbert Wehners, von Konkurrenten innerhalb der SPD damals mitbekommen? Wie haben Sie diese damals reflektiert? Und bewerten Sie derlei heute anders?

Dass Herbert Wehner in den kritischen Tagen nicht gerade die Stütze war, die Willy Brandt benötigte, liegt auf der Hand. Wie man das bewertet, ist eine andere Frage. Mir war es, gerade weil ich damals politisch reichlich Abstand zu meinem Vater hatte, gut möglich, menschlich hinter ihm zu stehen und ihm das auch zu vermitteln. Abgesehen davon warne ich aus meiner bescheidenen Kenntnis davor, das Verhältnis Brandt / Wehner zu eindimensional zu sehen. Es gab wohl immer wieder Phasen, in denen gegenseitige Achtung und sogar Zuneigung, vielleicht auch die gemeinsame Herkunft aus der klassischen Arbeiterbewegung, neben den offenkundigen Unterschieden der Charaktere eine Rolle spielte. Ab 1973 aber war das Zerwürfnis nicht mehr reparabel nach allem, was man weiß.

4. War Wehner oder doch eher Guillaume maßgeblich für den Rücktritt verantwortlich?

Selbst wer nur den Film gesehen hätte und nichts weiter darüber wüsste, dem würden noch weitere Namen einfallen, die beteiligt waren, wie Genscher und Nollau. Die Verhaftung Guillaumes lieferte den Anlass, der unter anderen Umständen wahrscheinlich nicht jene Folgen gehabt hätte, wie sie in der gegebenen politischen und persönlichen Konstellation eintraten.

5. Waren nicht auch die großen Streiks der Gewerkschaften mitschuld an der Unterminierung des politischen Gewichts des SPD-Kanzlers Willy Brandt? Und droht dem heutigen SPD-Kanzler eventuell gleiches? (Der gesuchte Schulterschluss des DGB-Chefs Sommer an CDU-Chef Stoiber lässt Schlimmes ahnen.) Und da wäre auch die Frage, wie können Gewerkschafter und Sozialdemokraten gegen Sozialabbau und um ihre Rechte als Arbeitnehmer demonstrieren, ohne fürchten zu müssen, letztlich einen Bumerang-Effekt zu bewirken (Sturz des eigenen Kanzlers)?

Natürlich werden Gewerkschafter das politische Umfeld, in dem sie agieren, mitbedenken; es ist aber nicht ihre Aufgabe, bedingungslos sozialdemokratische Regierungen zu stützen, sondern sie sollen die Interessen ihrer Mitglieder und der Lohnabhängigen einschließlich Arbeitslosen überhaupt optimal vertreten. Für das von Ihnen angesprochene Spannungsverhältnis gibt es kein Patentrezept. Man muss die gesamte Szenerie im Auge haben, das politisch-gesellschaftliche Macht- und Kräfteverhältnis insgesamt, und da kann Druck bzw. Gegendruck u. U. genau das Richtige sein. Es zählt nicht allein die gewiss wichtige Frage, wer die Regierung bildet. – Was die Situation im Frühjahr 1974 angeht, denken Sie vermutlich vor allem an den Tarifabschluss im Öffentlichen Dienst, wo sich Bundeskanzler Willy Brandt auf zehn Prozent Einkommensverbesserung als äußerste Grenze festgelegt hatte, dann aber doch eine höhere Marge der ÖTV akzeptieren musste (übrigens ohne großen Streik), was in der Tat ein enormer Autoritätsverlust war. Zufällig – wirklich zufällig, denn wir sprachen selten auf der Ebene aktueller Entscheidungen – traf ich ganz privat meinen Vater, als die Tarifrunde gerade im Gange war, und riet ihm, der hohen Prozentforderung der ÖTV mit einem Festgeldangebot, also z.B. 100 DM oder 150 DM für alle, zu begegnen. Das wäre nicht nur für die öffentlichen Kassen, sondern auch für die unteren bis mittleren Einkommensgruppen vorteilhaft gewesen, während die normalerweise gerade beim Öffentlichen Dienst von den gewerkschaftlichen Abschlüssen stark mit profitierenden Gutverdienenden weniger bekommen hätten. Ob Willy diesen solidarischen und egalitären Festgeldgedanken, der – das muss man einräumen – auch bei den Beziehern mittlerer Einkommen an der gewerkschaftlichen Basis nicht uneingeschränkt populär war, in irgendeiner Weise ins Spiel gebracht hat, weiß ich nicht.

6. Nochmals kurz zurück zum Film: Wie hat Ihnen die schauspielerische Leistung ihres jüngeren Bruders gefallen?


Ich finde, er hat das sehr gut gemacht. Das meinen auch solche, die Guillaume nicht nur, wie ich, flüchtig kannten. Durch diese schauspielerische Leistung hat Matthias zudem sämtliche Spekulationen über den psychologischen Hintergrund seines professionellen Engagements für das Projekt in den Hintergrund gedrängt.

7. »Mehr Demokratie wagen« – hatte Willy Brandt dereinst gefordert. Ist heute generell um die Demokratie in Deutschland zu fürchten? Zum einen wegen der Resignation und Politikverdrossenheit vieler Bürger (die ihre Partizipationsmöglichkeiten dann auch nicht wahrnehmen), zum anderen wegen der »Sicherheitsvorkehrungen« (Sicherheitspakete) im Krieg gegen den Terror, die Grundrechte bedenklich einschränken?

Was Sie ansprechen, ist nicht von der Hand zu weisen. Das Hauptproblem der Demokratie sehe ich derzeit indessen in dem, was man die Diktatur der (vermeintlichen) Sachzwänge nennen könnte, die sich aus der Kombination objektiver, nicht wegzudiskutierender Probleme (so der demographischen Entwicklung und der Staatsverschuldung) mit einer von neoliberalen Setzungen bestimmten Debatte ergibt. Es wird, auch in den Medien, der Eindruck gesellschaftspolitischer Alternativlosigkeit erweckt, und dieser Eindruck trägt, nebenbei gesagt, maßgeblich zur Entpolitisierung bei. Auf der institutionellen Ebene haben wir es ohne formale Systemänderung mit einem schleichenden Prozess der Bedeutungsminderung der Parlamente, also der zentralen Organe der repräsentativen Demokratie, zu tun. Da die endgültigen Entscheidungen mehr und mehr zwischen der Bundesregierung und den Landesregierungen ausgehandelt werden, können Bundestag und Landtage die jeweiligen Ergebnisse meist nur noch zustimmend zur Kenntnis nehmen, sogar wenn sie zuvor anders entschieden haben. Dass das Europäische Parlament nach wie vor unter Demokratie-Defizit leidet, ist allgemein bekannt. Nun heißt es, die Verschränkung der Bundes‑ und Landeskompetenzen in der Gesetzgebung sei nur durch einen »Wettbewerbsföderalismus«, sogar mit weitgehender Autonomie der Länder in Steuerfragen, aufzulösen. Die Konsequenz wäre aber nicht eine Demokratisierung, sondern ein forcierter Standortwettbewerb und, im Gefolge dessen, eine Verschärfung der Ungleichheit der Lebensverhältnisse auch in regionaler Hinsicht. Globalisierung und Deregulierung, als Entgrenzung des Marktkapitalismus, sind heute die Haupthindernisse von »Mehr Demokratie wagen«, verstanden als Stärkung der partizipatorischen und (nicht allein individuell definiert) emanzipatorischen Aspekte in Staat und Gesellschaft.

8. Nicht gerade demokratiefreundlich waren die Radikalen-Beschlüsse, die in der Amtszeit Willy Brandts gefallen sind und die er selbst später als den schwersten innenpolitischen Fehler bezeichnete. Wie werteten Sie damals jene Entscheidung?

Gegen den »Extremisten«-Erlass und die folgenden Berufsverbote zu sein, war für jemanden, der links von der SPD-Mehrheitslinie stand, selbstverständlich. Bevor ich 1975 Wissenschaftlicher Assistent wurde, konfrontierte man auch mich mit einem ausführlichen Dossier des Verfassungsschutzes und unterzog mich der Regelbefragung. Ich bemühte mich, so zu antworten, dass ich mich nicht zusätzlich belastete, aber nach außen auch nicht als Renegat oder Opportunist dastand. Mich rettete wohl, dass der Verfassungsschutz nur meine, damals bereits beendete, Tätigkeit für den straff organisierten (trotzkistischen) Spartacus, nicht aber anschließende Aktivitäten beobachtet hatte. Außerdem liefen die Anhörungen an den Universitäten in der Regel weniger inquisitorisch ab als an den Schulen und in anderen Bereichen des Öffentlichen Dienstes. – Mein Vater und ich haben mehrfach über den »Extremisten«-Erlass gesprochen. Er stellte es so dar, dass der entsprechende Beschluss der Bundes- und der Landesregierungen auch als eine Art Kompromiss mit der CDU/CSU realisiert worden sei, um weitergehende Absichten aufzufangen, die auf ein Verbot der DKP gerichtet gewesen seien. Das war und ist für mich keine Rechtfertigung, könnte aber jedenfalls ein wichtiges Motiv gewesen sein, vorausgesetzt, das stimmt so.

9. Willy Brandt kannte keine falsche Scham, auch Irrtümer einzugestehen – und hat eine erstaunliche politische Wandlung durchgemacht: zunächst an der Seite des Berliner Oberbürgermeisters Ernst Reuter und später selbst in diesem Amt ein Kalter Krieger, hat er dann die Neue Ost‑ und Entspannungspolitik gewagt. Können Sie ich erinnern, was genau den Anstoß zu diesem Umdenken gab? Der Mauerbau 1961?

Vergessen Sie nicht die erste, vielleicht grundlegendste Wandlung vom jungen linken Radikalen zum nordeuropäisch geprägten Reformsozialisten. Der Kalte Krieg war in der Tat eine für die Nachkriegslinken spezielle Herausforderung, die zu krass entgegengesetzten Positionierungen führen konnte, übrigens auch zu der, zum Ost-West-Konflikt eine unabhängige Position zu bewahren. In der Berliner Situation war Letzteres sicher noch schwerer als anderswo. Ich bin aus gutem Grund kein Willy-Brandt-Forscher und war Anfang der 60er Jahre noch ein Kind, aber meine Erinnerung wie das Studium der einschlägigen Texte machten deutlich, dass es zwischen dem Schock des Mauerbaus und der »Politik der kleinen Schritte«, die einen Vorlauf der späteren Ostpolitik darstellte, eine Übergangsperiode mit – konzeptionell gesehen – Kalte-Kriegs‑ und Entspannungselementen gab. Das reflektierte in gewisser Weise die damalige welt‑ und deutschlandpolitische Situation. Insgesamt würde ich aber davor warnen, die Brüche im Denken und Handeln des Politikers Willy Brandt, zumindest nach 1945, zu sehr zu betonen, auch wenn es auch PDS-Sicht schwer nachzuvollziehen sein mag, dass es in den 50er Jahren einen ernstgemeinten linken »Antitotalitarismus« gab – mit der Konsequenz, sich klar auf die Seite des amerikanisch geführten Westblocks zu stellen. Aus einer solchen Perspektive ging es im Kalten Krieg nicht um Kapitalismus versus Sozialismus, sondern um relative Freiheit versus Diktatur. Jedenfalls lohnt es sich, parallel nach den Kontinuitätssträngen zu suchen, die Willys politisches Leben durchziehen, und die erwähnten, fraglos nachweisbaren Wandlungen möglicherweise relativieren.

10. Während er außenpolitisch großes Renommee gewann – durch die Ostverträge, bei den westlichen Verbündeten ließ er keine »Rapallo«-Ängste aufkommen, schließlich Friedensnobelpreis – geriet Ihr Vater Anfang der 70er Jahre innenpolitisch unter heftigen Druck. Ist es leichter, sich außenpolitisch als innenpolitisch Meriten zu erwerben? Gerhard Schröder erfuhr Achtung hinsichtlich seiner konsequenten Anti-Irak-Kriegshaltung, aber innenpolitisch steht der Kessel unter Hochdruck.

Ganz unproblematis ch war es gerade zu Beginn nicht, wie wir auch von Henry Kissinger wissen. Ganz verschwand das Misstrauen von außen gegen die westdeutsch-sowjetische wie auch gegen die westdeutsch-ostdeutsche Annäherung nie; das ging bis zur Unterstellung eines geheimen Einverständnisses bezüglich einer längerfristigen Regelung der deutschen Frage. Trotzdem haben Sie natürlich recht mit Ihrer Feststellung eines bemerkenswert erfolgreichen Ablaufs der entspannungspolitischen Initiative der BRD in den frühen 70er Jahren. Wenn ich den Vergleich mit Gerhard Schröders Irak-Politik akzeptiere, dann scheint mir tatsächlich eine Gemeinsamkeit zu bestehen: In beiden Fällen, das war bei Schröder noch viel deutlicher, vermochte ein sozialdemokratischer Kanzler eine viel breitere, auf Frieden, größere Eigenständigkeit gegenüber der Führungsmacht gestützte und teilweise auch von nationalen Motiven gespeiste Strömung im Volk zu artikulieren. Ein allgemeines Rezept kann man daraus sicher nicht ableiten, zumal in der Innen- und Gesellschaftspolitik fast automatisch eine andere Fraktionierungsdynamik zum Tragen kommt.

11. Haben sich die Sozialdemokraten von heute von sozialer Gerechtigkeit und ureigenen sozialistischen Zielen verabschiedet?

Man kann darüber streiten, welche Substanz der Sozialismusbegriff in der Programmatik der SPD seit Godesberg (1959) noch hatte; immerhin propagierten z.B. die schwedischen Sozialdemokraten ihre Gesellschaftspolitik früher offensiv als die eines »funktionalen Sozialismus«. In gewissen Variationen, ob etwa die Nationalisierung wichtiger Industrien angestrebt war oder nicht mehr, lässt sich durchaus von einem spezifischen Gesellschaftsmodell der europäischen Sozialdemokratie sprechen, gekennzeichnet hauptsächlich durch den Ausbau des Sozialstaats und eine partizipatorische Auffassung der Demokratie. Wenn heute seitens einiger Vertreter der SPD-Führung darüber nachgedacht wird, den Begriff des »demokratischen Sozialismus« aus dem Programm zu eliminieren, dann mag das als nicht so bedeutend empfunden werden wie die derzeitigen konkreten, einschneidenden Veränderungen gemäß der Agenda 2010, es soll aber, so scheint mir, ein Signal ausgesandt werden. Wer im breiten Spektrum der linken Volkspartei SPD noch eine langfristige Transformation der bestehenden kapitalistischen Wirtschafts‑ und Gesellschaftsordnung anstreben sollte, wird vielleicht noch geduldet, wenn er sich loyal verhält, soll sich diesbezüglich aber nicht mehr im Programm wiederfinden, anders als im noch geltenden Berliner Programm von 1989. Dass die ebenfalls nicht gerade präzise Parole der »sozialen Gerechtigkeit« von der SPD aufgegeben wird, halte ich für ganz unwahrscheinlich. Doch was darf man darunter verstehen? »Chancengleichheit« wollten die Liberalen des 19. Jahrhunderts ebenfalls, wenn sie auch eine sehr unzureichende Vorstellung von ihren Voraussetzungen hatten. Wenn man ernsthaft nach den Bedingungen von »Chancengleichheit« fragt, stößt man schnell darauf, dass Gerechtigkeit eben doch einiges mit Gleichheit zu tun hat. Oder anders gesagt: Es gibt keine Politik der Gerechtigkeit, die nicht der sozialen Gleichheit einen hohen Stellenwert einräumt. Die gegenüber dem derzeitigen Stand dramatischeren Differenzierungsprozesse innerhalb der SPD, wie teilweise auch innerhalb der CDU/CSU, liegen nach meiner Einschätzung noch vor uns. Sie werden sich entwickeln zwischen denjenigen, die die derzeitigen Veränderungen als Rettungsmaßnahme für den deutschen Sozialstaat begreifen, und denjenigen, die eine sozialdemokratische Variante des Neoliberalismus vertreten. – Lassen Sie mich sicherheitshalber hinzufügen, dass ich mir nie angemaßt habe und das auch hier nicht tue, in irgendeiner Weise die Autorität meines verstorbenen Vaters für eigene Überzeugungen und Einschätzungen in Anspruch zu nehmen. Das wäre schon deswegen deplaziert, weil wir zu seinen Lebzeiten zwar ein gutes Verhältnis hatten, aber über weite Strecken auch unterschiedliche Auffassungen. Keiner weiß, auch ich nicht, welche Stellung er heute zu den aktuellen politischen Streitfragen einnähme. Trotzdem gibt es viele Gründe, ihn zu vermissen, nicht nur für mich als Sohn.

12. Willy Brandts Hinwendung zum Sozialismus in frühester Jugend war weniger theoretischer Reflexion, als sozialer Herkunft und emotional geschuldet, liest man. O-Ton Brandt: Ist der Eindruck richtig? Und wie war das bei Ihnen? Inwieweit hat Ihr Vater Einfluss auf Ihre politische Entwicklung genommen?

Direkten Einfluss hat er kaum genommen; das entsprach nicht seiner Mentalität und wäre wohl auch nicht unbedingt auf fruchtbaren Boden gefallen. Nicht gering zu schätzen ist wahrscheinlich die politisierende Wirkung eines solchen Elternhauses, gerade im West-Berlin der 60er Jahre. Leszek Kołakowski hat vor Jahrzehnten, als er noch ein kritischer Marxist war, in einem seiner Essays sinngemäß geschrieben: Machen wir uns nichts vor, wir werden in der Regel nicht deshalb Sozialisten, weil wir die Marxsche Kapitalismusanalyse überzeugend finden, sondern weil wir uns empören gegen Ausbeutung und Unterdrückung in einer Welt des potentiellen Überflusses. Das war auf die linken Intellektuellen gemünzt. Für Arbeiterkinder, jedenfalls wenn sie in das proletarisch-sozialistische Milieu hineingeboren wurden wie mein Vater, war das noch weniger kompliziert. Ideologisch und eventuell theoretisch wurde das dann erst später untermauert. Das dürfte bei mir letzten Endes nicht anders gewesen sein; die Ausläufer des alten Arbeiterbewegungssozialismus, in meinem Fall etwa in Gestalt der »Falken«, hatten ja noch eine gewisse Bedeutung. Allerdings hatte ich schon sehr früh das Bedürfnis, die Dinge in eine intellektuelle Ordnung zu bringen, und sei es in eine dogmatische. Bei mir kam dann ebenfalls recht früh die politische Distanzierung von der Vaterfigur hinzu, die ich aber auch aus heutiger Sicht nicht einfach als jugendlichen Protest werten würde.

13. Ist Ihr Vater ob seines Sohnes politischer Ansichten – zu ihrer trotzkistischen Zeit beispielsweise – mal so richtig »ausgerastet«? Wann hat er mit Milde regiert?

Im Prinzip war er, wie Sie das nennen, milde, verbunden übrigens mit der biographisch begründeten Erwartung an den Sohn, er müsse selbst wissen, welchen Weg er einschlägt. Schärfere Dispute hatten wir nicht so sehr auf dem Höhepunkt der Studenten‑ und Jugendrevolte 1967/68 – da waren die Fronten schon ziemlich klar und die Anstrengung beiderseits reduziert (was ich heute bedauere), wieder in ein ernsthaftes Gespräch einzutreten, sondern eher in der Phase davor. Da war die Sache für Willy auch noch brenzliger: er Westberliner Bürgermeister, ich noch minderjährig. Es gab beim Protest gegen den amerikanischen Vietnam-Krieg, der für mich wahrscheinlich der wichtige Anlass politischer Radikalisierung wurde, zwei, drei Situationen, wo er mir schwere Vorhaltungen machte und sogar mit seinem Rücktritt drohte. Ganz ernst war das wohl nicht gemeint, sondern eher seine Art, großen Missmut zu äußern.

14. Welche Rolle spielte Ihre Mutter in solcherart politischen Auseinandersetzungen?


Meine Mutter versuchte, soweit es ging, zu vermitteln. Sie hatte keine wirklichen politischen Differenzen mit Vater Brandt, fühlte aber eine gefühlsmäßige Nähe zum oppositionellen Teil der Jugend und begann sich in einem zweiten Schritt zu fragen, ob diese nicht in manchem auch recht hätte. Rut hatte es sicher nicht leicht mit dem Senior und dem Junior I, die beide eher verschlossen und in mancher Hinsicht auch stur waren.

15. Über seine Jugend hat sich Willy Brandt öffentlich kaum geäußert. Hat Ihr Vater Ihnen aber als Kind von seiner abenteuerlichen Odyssee während der NS-Zeit erzählt? Die Motorkutterreise im April 1933, als «norwegischer« Student im Untergrund in Berlin, im Spanienkrieg, schließlich als Felix Franke in Stockholm – solch ein Leben muss einen heranwachsenden Knaben oder Teenager regelrecht fesseln.

Als Kind beneidete ich die Klassenkameraden, die voll von abenteuerlichen Soldatengeschichten ihrer Väter aus dem Zweiten Weltkrieg waren, während ich diesbezüglich nichts zu bieten hatte. Natürlich hätte Willy das mehr als kompensieren können, aber es lag ihm nicht, sich mit seinen Erlebnissen in Szene zu setzen, auch wenn er gemerkt haben muss, dass ich mit Begeisterung lauschte, wenn er einmal ausführlicher erzählte.

16. Wie gingen Sie mit dem Vorwurf »Landesverräter« um, der Willy Brandt ereilte, als er erstmals als Kanzlerkandidat aufgestellt worden ist?

Erfreulicherweise trat das in Berlin kaum in Erscheinung, so dass mir das in meinem Umfeld – und das waren naturgemäß nicht nur Sozialdemokraten – erspart blieb. Was ich davon 1961 und 1965 mitbekam, erschien mir absurd, abstoßend und verstörend. Wenn mir zuhause etwas gepredigt worden war, dann dieses: Hitler und seine Leute waren nicht Deutschland; die besseren Deutschen standen gegen ihn.

17. Was fühlten und empfanden Sie, als Sie im Frühjahr 1970 die Bilder aus Erfurt im Fernsehen sahen – und die Willy-Rufe hörten, die nicht dem ostdeutschen Willi galten?

Es war ein stark bewegendes Erlebnis auch aus der Ferne, gleichzeitig für mich aber auch eine politisch und emotional komplizierte Situation. Ich war ja über die Jahrzehnte immer ein Gesamtdeutscher, dabei als Linker gegen eine Lösung der deutschen Frage durch einfache Angliederung der DDR and die BRD; damals und später erschien das allerdings keine realistische Variante. Welche Motive außer dem Protest gegen das Bestehende die Menschen bewegten, die in Erfurt zusammenkamen – einige von ihnen begegneten mir später –, konnte man nur vermuten, und jeder sucht eine Deutung, die das eigene Weltbild bestätigte. Ich legte mir das so zurecht, dass die Demonstranten nicht irgendeinen Repräsentanten »des Westens« bejubelten, sondern gezielt diesen sozialdemokratischen Führer, dessen Huldigung für sie bestimmte nationale und soziale Hoffnungen ausdrückte. Eine sicher etwas optimistische Interpretation, aber auch aus meiner heutigen Sicht nicht ganz abwegig.

18. Sie haben sich über die DDR nie Illusionen gemacht. Sie sprechen einerseits von einem »Regime direkt vor der Haustür, das die eigenen Ideale permanent beleidigte und diskreditierte«, konstatierten andererseits weniger Oberflächlichkeit, ein geborgeneres und solidarischeres Leben. Können Sie nachvollziehen, dass viele ehemalige DDR-Bürger diese Art von Dialektik – wenn auch mit umgekehrten Vorzeichen – daran hindert, in der Bundesrepublik anzukommen: Mit der westlichen Demokratie können sie gut leben, mit der sozialen Kälte und mangelnden Solidarität nicht.

Sie zitieren, völlig korrekt, aus einer Art autobiographischen Text. Ich habe die Kritik des Phänomens »real existierender Sozialismus« (für mich immer mit Anführungsstrichen) gelegentlich auch analytisch strenger formuliert. Aber das nur nebenbei. – Die Unwilligkeit vieler Ostdeutscher (großenteils überparteilich), die – meist individuell verstandene – »Freiheit« der »Gleichheit« und der »Brüderlichkeit« uneingeschränkt voranzustellen, kann ich sehr gut nachvollziehen und weitgehend billigen. Leider hat diese Grundhaltung durch die stark situationsbedingte Wahlentscheidung vom 18. März 1990 nicht in dem Maß in den deutschen Einigungsprozess einfließen können, wie ich das stets gehofft hatte.

19. »Es wächst zusammen, was zusammengehört«, hat Willy Brandt freudig formuliert. Worin sehen Sie die Ursachen, dass echtes Zusammenwachsen und Zusammengehörigkeitsgefühl noch aussteht?

Die staatliche Einigung Deutschlands 1990 ergab sich als Nebenprodukt des Niedergangs und der schließlichen Auflösung des sowjetkommunistischen Systems. Der Vereinigungsprozess verlief auf allen Ebenen, in erster Linie auf der ökonomischen, vollkommen asymmetrisch. Diese Ungleichgewichtigkeit war angesichts der Ausgangslage nicht aufzuheben, man hätte sie vielleicht mit einer das nationale Element früher und stärker aufnehmenden Politik der Linken (insgesamt) teilweise ausbalancieren können – vielleicht. Das ostdeutsche Eigenbewusstsein, trotz Bejahung der deutschen Einheit, reflektiert, neben den spezifischen Erfahrungen aus viereinhalb Jahrzehnten getrennter Existenz, im wesentlichen die anhaltende gesellschaftliche Teilung des Landes auf der Basis einer dualen Wirtschaftsstruktur, deren Fortdauer auch auf politische Entscheidungen im Umbruch zurückgeht. Das wäre selbst dann richtig, wenn man diese Entscheidungen, etwa bei der Währungsunion, für unvermeidbar hielte. Im Westen hat man es damals bewusst unterlassen, die Einigung als ein gemeinsames Projekt zu propagieren, das an beide Seiten Anforderungen stellt. Man kann das ostdeutsche Eigenbewusstsein keinesfalls mit dem freistaatlichen Bewusstsein der Bayern oder der traditionellen Nord-Süd-Problematik in Deutschland auf eine Stufe setzen.

20. Haben die Deutschen ein gespaltenes Nationalgefühl? Sie haben sich immer wieder mit dem Phänomen Nation – vor allem Nation und Linke – befasst. Können je und dürfen überhaupt die Deutschen angesichts ihrer Geschichte zu einer ganz normalen selbstbewussten Nation werden? Und warum kommt es immer wieder zu solchen »Peinlichkeiten« wie erst wieder dieser Tage (Rede des CDU-Abgeordneten H.)?

Ich möchte zunächst einmal Wert darauf legen, und das ist keine Spitzfindigkeit, zwischen Nationalgefühl und Nationalbewusstsein zu unterscheiden, auch wenn ich einräume, dass die Grenze in der Realität fließend ist. Mein Anliegen ist es nicht, die Deutschen zu einer »normalen, selbstbewussten Nation« zu erziehen, sondern das kritische Bewusstsein der Bedeutung des Nationalen (auch im Zeitalter von Europäisierung und Globalisierung) zu fordern. Dazu gehören die Schrecken der Nazi-Vergangenheit, aber man kann und darf die deutsche Identität nicht darauf reduzieren, sondern sollte auch positive Identifikationsangebote machen, die ja nicht an den Haaren herbeigezogen zu werden brauchen. Muss man das früheren Bürgern der DDR erklären, die sich damit bei aller vordergründigen Legitimierungsabsicht immerhin einige Mühe gab und deren Historiker und Gesellschaftswissenschaftler mit der Unterscheidung Erbe / Tradition etwas dafür sehr Nützliches getan haben? – Zum Abgeordneten Hohmann könnte man sehr viel sagen. Die Rede ist abstrus und in der Tat peinlich. Wie dann öffentlich über den Vorgang berichtet und diskutiert (besser gesagt: nicht diskutiert) wurde, ist bezeichnend für den ziemlich neurotischen Umgang unseres Landes und speziell der heute bestimmenden (westdeutsch sozialisierten) Führungsschicht in Politik und Medien mit dem gesamten Komplex Nation / jüngste Vergangenheit / Erinnerungskultur. Ich würde es begrüßen, wenn wenigstens die unsägliche Rede vom »deutschen Tätervolk« nicht mehr gedankenlos weitergetragen würde.

21. Im Zusammenhang mit dem Afghanistan- und dem Irak-Krieg ist die alte Frage »gerechter Kriege« erneut diskutiert worden. Was ist Ihre Position?

Wir wollen hier nicht in eine politisch-philosophische Grundsatzdiskussion einsteigen. Wenn man kein absoluter Pazifist ist, also die Anwendung militärischer Gewalt unter allen denkbaren Umständen ablehnt, kommt man zwangsläufig in die Verlegenheit, begründen zu müssen, dass im konkreten Fall ein gegebener Krieg nicht gerechtfertigt ist. Um die jüngsten amerikanischen Interventionskriege abzulehnen – als hegemonistisch und imperialistisch, unabhängig von den Intentionen der einzelnen Akteure – oder etwa auch die Kriegführung Russlands in Tschetschenien, muss man nicht bestreiten, dass es Fälle gerechtfertigten Einsatzes von Waffengewalt geben kann. Denken wir an die Schlächtereien unter Pol Pot in Kambodscha, als Vietnam eingriff und man trotz seiner nicht unbedingt humanitären Absichten den Einmarsch billigend in Kauf nehmen konnte, um die kaum noch mit politischen Maßstäben zu messenden Massaker zu beenden. Auch der Krieg gegen Hitler-Deutschland kam, entgegen einer heute verbreiteten Annahme, nicht als humanitäre Intervention zustande, und er wäre ohne die, allerdings systembedingte, nach außen aggressive Maßlosigkeit der NS-Führung gar nicht geführt worden. Trotzdem gab es für Linke wenig Zweifel, dass man die Niederlage des »Dritten Reiches« wünschen und sogar befördern musste. Alles das bedeutet keine Rechtfertigung für den gegenwärtigen »Krieg gegen den Terror«.




gekürzt in: Neues Deutschland vom 27.12.2003