von Siegfried Heimann
Ich könnte es mir natürlich leicht machen und mich auf den großen Aphoristen Ernst Jandl berufen, der sich abschließend zu diesem Problem geäußert hat. Er schrieb: Viele glauben, dass man lechts und rinks nicht velwechsern kann. Werch ein Illtum. Aber es geht ja nicht um links oder rechts, es geht nicht darum, was ist ein Rechter oder ein Linker in der Partei, in den Parteien, in der heutigen Tagespolitik.
Es geht um den Lebenslauf einer Frau oder eines Mannes, es geht um die Biographie eines Menschen, der am Ende eines langen oder auch weniger langen Lebens sagen kann, er habe sich im Laufe der Zeit verändert, er sei sich aber auch treu geblieben. Er habe seine Überzeugung nicht seiner Karriere, seinen politischen Erfolgen, dem guten Verdienst geopfert. Solche Lebensläufe gibt es, sie sind beeindruckend und wert, sich ihrer zu erinnern. Aber sie sind nicht per se auch links. Was also ist ein spezifisch „linker“ Lebenslauf?
Wir sind ja im Urteil über unsere Mitgenossen oft sehr schnell bei der Hand mit einem Etikett, dem wir auch schnell die Bezeichnung links oder rechts mitaufkleben oder auch verweigern.
Ich erinnere mich, wie ich einem guten Freund gegenüber von einem Genossen berichtete und diesen einen „gestandenen Linken“ nannte. Der gute Freund fragte erstaunt, wieso links, ich denke er ist in der SPD. Das Gütezeichen links durfte offenbar einem Sozialdemokraten nicht gewährt werden.
Nun sind aber auch die Mitglieder der SPD nicht faul, wenn es gilt, die eigenen Genossen als links oder rechts zu bezeichnen und daraus innerparteiliche Frontlinien zu machen. Es „kreiselt“ und „klüngelt“ ja in der SPD, seit es die Partei überhaupt gibt. In der Berliner SPD sind nur noch älteren Genossinnen und Genossen die Bezeichnungen „Keulenriege“ oder „Pfeifenklub“ aus der Parteigeschichte der Nachkriegszeit bekannt. Sie standen für die linken oder rechten Sozialdemokraten in der Berliner SPD der fünfziger Jahre und damals war die Doppeldeutigkeit der Namen Anlass zu allerlei Häme. Aber wer kennt heute schon noch den Berliner Ausdruck „Keule“ oder das „Tabakkollegium“ eines preußischen Königs. Heute nennt man sich lieber nach Wochentagen oder Ortsteilen von Berlin, wenn nicht sogar die Bezeichnung „links“ in der Gruppenbezeichnung offen genannt wird, etwa bei der „Parlamentarischen Linken“.
Einordnung in der Tagespolitik
Wie sehr bei der Zuordnung die Tagespolitik eine Rolle spielt, will ich an einem Beispiel aus meiner eigenen Beschäftigung mit der Berliner Sozialdemokratie belegen. Ich stand in den sechziger Jahren als Mitglied des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes vor allem der Berliner SPD ziemlich fern. Der Außenminister und Bundeskanzler Willy Brandt und seine neue Ostpolitik schafften es, dass ich meinen Frieden mit der SPD machte.
Ich begann über die SPD der Weimarer Republik wissenschaftlich zu arbeiten. Die Linken in der damaligen SPD waren leicht auszumachen, allen voran Paul Levi, der Lebens- und Kampfgefährte von Rosa Luxemburg, der aus der KPD ausgeschlossene KPD-Vorsitzende und seit 1922, seit seiner Rückehr in die SPD, bis zu seinem frühen Tode im Jahre 1930 einer der Sprecher der SPD-Linken in der Weimarer Republik.
Zu dieser SPD-Linken zählten auch viele, die 1931 mit der SPD brachen und die SAP gründeten – Willy Brandt gehörte dazu. Sie schlossen sich noch während des Krieges oder kurz danach wieder der SPD an. Sie gehörten hier in Berlin zu den leidenschaftlichen Vorkämpfern gegen eine Zwangsvereinigung mit der stalinistischen KPD, deren terroristische Praxis sie in Spanien oder in Moskau oft leidvoll erfahren mussten. Die aus der Zwangsvereinigung entstandene SED wiederum machte die Haltung zur Vereinigung von KPD und SPD im Jahre 1946 zum Kriterium dafür, ob einer oder eine links oder rechts in der SPD zu verorten gewesen war.
Während meiner Arbeit an einem Buch über die Berliner Falken, der SPD-nahen Jugendorganisation machte ich zahlreiche lebensgeschichtliche Interviews und ich machte eine mich sehr irritierende Erfahrung. In den Erzählungen der ehemaligen Falken war Willy Brandt der Anführer der rechten Berliner SPD, der der linken Berliner SPD um Franz Neumann allmählich das Wasser abgrub. Zu den Anhängern Neumanns wiederum gehörten zum Zeitpunkt meiner Interviews einige zu den größten Kritikern Brandts, den sie wegen seiner Ostpolitik tadelten. Einige waren deswegen aus der SPD ausgetreten und manche machten sogar Wahlkampf für Franz-Josef Strauß.
Und noch ein Hinweis, was kein Kriterium für einen linken Lebenslauf sein kann. Das Bekenntnis zu einer Religion oder zum Freidenkertum kann nicht heißen, dass der eine mehr links oder die andere mehr rechts einzuordnen ist. In der Weimarer Republik gehörte es zum Karrieremuster gerade in der damals links wahrgenommenen Berliner SPD, dass ein höheres Parteiamt nur nach dem erklärten Kirchenaustritt möglich war. Dabei gehörten die auch in Berlin aktiven Religiösen Sozialisten um Paul Piechowski, um Paul Tillich und Eduard Heimann zu den großen Warnern vor dem aufkommenden Faschismus, während ein Teil der Berliner Sozialdemokraten mit lupenreiner Kirchenaustrittsvita angesichts der nazistischen Drohung in einfallslosen Immobilismus verharrte. Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen, meine Sympathien im jüngstn Berliner Kirchenkampf gehörten "Proethik". Und die gar nicht kleine Gruppe "Christen pro Ethik" bewies, dass Mitgliedschaft in der Kirche nicht heißen musste, einem Bischof alles nachzubeten.
Wo also bleibt der linke Lebenslauf?
Klar ist bisher lediglich geworden, dass die jeweiligen tagespolitischen Zuordnungen oder gar Selbstbezeichnungen wenig hilfreich sind, um einen linken Lebenslauf zu charakterisieren. Um die Verwirrung zu vergrößern, sei noch angefügt, dass ich selbst, nachdem ich mich intensiv mit der Biographie von Willy Brandt und auch von Franz Neumann beschäftigt habe, in beiden gestandene linke Sozialdemokraten sehe. Beide, so verschieden sie selbst im persönlichen Leben waren und so verschieden sie politisch agierten, zeichnen sich durch einen linken Lebenslauf aus.
Was also ist das Gemeinsame an den beiden so verschiedenen Biographien?
Neumann und Brandt sahen sich als Teil einer großen sozialen und politischen Bewegung, die im 19. Jahrhundert ihren Anfang nahm und die sich für die sozial und politisch Entrechteten einsetzte. Nicht im patriarchalischen Sinne, sondern in dem Bewusstsein, dass diese Entrechteten ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen hatten. Beide zogen oft unterschiedliche Schlüsse aus dem gesellschaftlichen Umfeld und kamen in der Einschätzung der tagespolitischen Situation zu unterschiedlichen Ergebnissen, was nicht zuletzt ihre innerparteiliche Gegnerschaft erklärt. Aber sie blieben stets ihrer Überzeugung treu, dass sie Teil dieser Bewegung sind, dass sie sich nicht als eine selbsternannte Avantgarde dieser Bewegung verstehen dürfen, aber diese Bewegung auch nicht als bloßes Instrument missbrauchen dürfen, um die eigene Karriere zu befördern. Überzeugungstreue hieß, dass die Mitgliedschaft in der Partei nicht sakrosankt war, hieß aber auch, dass man auch nicht wegen innerparteilicher Niederlagen beleidigt den „Bettel“ hinschmiss.
Vor Jahren hatte der Großvater von Wolfgang Abendroth diesem ins Stammbuch geschrieben, er solle stets darauf bedacht sein, nicht von der Arbeiterbewegung zu leben, sondern für sie. Die Arbeiterbewegung gibt‘s so nicht mehr wie zu Kaiserszeiten, aber im übertragenen Sinne gilt das noch heute. Gerda und Hermann Weber, beide aus der KPD zur SPD gekommen, haben ihre Biographie überschrieben: "Leben nach dem Prinzip links", in ihrem Buch können wir nachlesen, was damit gemeint ist.
Und noch ein Beispiel: Björn Engholm berichtete jüngst, was ihn antrieb, als er sich in den sechziger Jahren der SPD anschloss. Er sagte: "Wir wollten die Welt verändern … 80% unserer Zeit haben wir damals darin investiert, dass diese Welt anders wird. Und 20% war: Wer kommt wohin? Wer wird wo Ausschussvorsitzender? Das Verhältnis darf sich nicht umkehren in der SPD, nach dem Motto: 80% für Karriere, 20% für die Welt."
Die Welt, so Engholm, sollte anders werden, das meinte natürlich, nicht irgendwie und egal in welche Richtung. Die Welt sollte für einen möglichst großen Teil der in ihr lebenden Menschen besser werden, nicht auf Kosten anderer, noch Ärmerer, sondern ein menschenwürdiges Leben für alle, frei von Angst, vor Hunger, frei für alle Chancen der Bildung und der Verwirklichung eigener Hoffnungen und Wünsche sollte erkämpft werden. Wohl gemerkt: erkämpft! Ein solches Ziel fiel denjenigen, die es erreichen wollten, nicht in den Schoss.
Eine Utopie der besseren Welt
Deshalb hat die Frau oder der Mann mit einem linken Lebenslauf eine Utopie von dieser besseren Welt, die sie oder er im Laufe des Lebens verwirklichen will. Ich meine daher auch, dass der Satz Helmut Schmidts: Wer Visionen hat, soll zum Psychiater gehen, schlichter Unsinn ist, auch wenn dieser Satz oft, auch innerparteilich, nur zu gerne genutzt wurde und wird, um eine pragmatische Tagespolitik zu rechtfertigen, die nicht in der Lage war und ist, über den Tellerrand zu schauen.
Aber wer eine Utopie entwirft, muss auch wissen, dass sie "nirgendwo" zu finden ist, dass es nicht bedeuten kann, eine bessere Welt am Reißbrett zu entwerfen, die es nur 1 : 1 umzusetzen gilt, ob die Menschn, die es betrifft, das so wollen oder nicht.
So richtig der Text des Liedes deshalb ist: "Es rettet uns kein Gott, kein König, kein Tribun, uns aus dem Elend zu erlösen, das müssen wir schon selber tun". Übersehen wird oft, wenn Sozialdemokraten dieses Lied (meist nach Mitternacht) lauthals singen, dass die Betonung dabei auf "wir" liegt. Der Text des Liedes sagt auch nicht, das muss die Partei oder gar das Politbüro für uns tun.
Deshalb ist ein linker Lebenslauf geprägt von kritischen Zweifeln, von ständiger Überprüfung der eigenen Haltung zu den wichtigen gesellschaftlichen Fragen und gerade nicht von überheblicher Besserwisserei. Diese Zweifel können auch die Mitgliedschaft in einer Partei infrage stellen, sie können aber auch zur Folge haben, der Partei dennoch die Treue zu halten.
Die Mitgliedschaft in einer bestimmten "linken" Partei oder "linken" Organisation kann daher auch kein Kriterium für einen linken Lebenslauf sein. Kriterium allein ist die Treue zur linken Überzeugung, die Welt zum Besseren verändern zu wollen und nicht der politischen Karriere zu opfern.
"Ich weiß nicht, ob es besser wird, wenn es anders wird, ich weiß aber, dass es anders werden muss, damit es besser wird", sagte Lichtenberg vor über 200 Jahren. Deshalb schwimmt die Frau oder der Mann mit einem linken Lebenslauf immer gegen den Strom und verzweifelt darüber dennoch nicht. Das war der Wahlspruch von Ossip K. Flechtheim, der im März 2009 hundert Jahre alt geworden wäre. Flechtheims Weg führte ihn durch viele Parteien und Organisationen, aber er ist sich treu geblieben. Auch er hielt, um Marc Bloch zu zitieren, " Duldsamkeit gegenüber der Unwahrheit, unter welchem Vorwand auch immer sie geübt werden mag, … für die schlimmste Seuche des Geistes". Mit anderen Worten: Flechtheim hatte einen linken Lebenslauf.
Warum aber ist es so wichtig, sich der linken Lebensläufe zu vergewissern? Natürlich ist es wichtig, die gesellschaftlichen Verhältnisse, in der die Menschen – Linke wie Rechte – leben, genau zu untersuchen und die sozialen, wirtschaftlichen und politischen Kräfte kritisch zu analysieren.
Aber, wie es Lucien Febvre, zusammen mit Marc Bloch einer der Begründer der Annales-Schule der französischen Geschichtswissenschaft, schon vor Jahren sagte: "Geschichte muß Wissenschaft vom Menschen sein. Wissenschaft von der menschlichen Vergangenheit. Und nicht Wissenschaft von den Sachen und den Begriffen."
Und in dieser "menschlichen Vergangenheit" spielen linke Lebensläufe für diejenigen, die sich weiterhin einer gesellschaftlichen Utopie verpflichtet sehen, eine wichtige Rolle. Sie sind eine Erinnerung an Möglichkeiten, die nicht mit erhobenem Zeigefinger daher kommt. Sie zeigen uns Kleinmütigen und in der Tagespolitik und in Wahlkämpfen Versinkenden, dass es möglich ist, "aufrecht" durchs Leben zu gehen.
---
PD Dr. Siegfried Heimann, Jg. 1939, FU Berlin, Vorsitzender der Historischen Kommission der SPD Berlin, Veröffentlichungen zur Geschichte der Parteien, der Nachkriegsgeschichte Berlins und der Ostberliner SPD
Leicht gekürzter Vortrag auf dem Workshop des August-Bebel-Instituts „Linke Lebensläufe“ im September 2009