von Ulrich Schödlbauer
Selten ein so bedeutendes und zugleich schlecht geschriebenes Buch gelesen. Lobaczewskis Wissenschaftsglaube ist ungebrochen, die ›objektive‹ Sprache seiner Disziplin gilt ihm als Panazee, mit deren Hilfe sich alle großen und kleinen Verirrungen der Gesellschaft heilen lassen. Der Wissenschaftler als Therapeut der Welt, als Supervisor der Regierungen und ihr Berater – das klingt als Programm ein wenig outdated, seit die Welt begriffen hat, wie leicht Wissenschaftler – und Wissenschaften – sich manipulieren lassen. Am Ende siegt, folgt man der Theorie, so oder so die Wissenschaft. Aber in einem Prozess, dessen Ende sich vorerst nicht absehen lässt, bleibt das ein schwacher Trost.
Überdies ist es mit der Objektivität der Sprache nirgends weit her. Terminologische Korrektheit mag Missverständnissen beim Gebrauch der Wörter vorbeugen, aber die angeblich von ihr verbürgte Objektivität ist ein Fetisch, solange Sprache sich kommunikativen Situationen verdankt und nicht an den Objekten austritt wie Angstschweiß aus dem Körper eines Beamten, dem man die Bezüge zu streichen droht.
Lobaczewskis heikles Thema sind die Ungleichheiten unter den Menschen und ihre Konsequenzen für die Gesellschaft. Mit Ungleichheiten meint er nicht solche des Einkommens oder der Lebensumstände, sondern Differenzen der psychophysischen Ausstattung, insbesondere des sozialen Sensoriums und der Intelligenz, des weiteren Eigenschaften der kranken Psyche, die unbehandelt ein Gefährdungspotential für die Gesellschaft bergen. Pathologische Charaktere, so der von ihm referierte Befund, zeichnen für die totalitären Verwerfungen der Gesellschaft im Sowjetsystem wie auch unter der Nazi-Diktatur verantwortlich. Ihr kollektiver Aufstieg und der durch ihn initiierte Niedergang der Gesellschaft bilden den Hauptgegenstand der Untersuchung.
Um es kurz zu sagen: An der Spitze von Ideologiestaaten sammelt sich ein Kreis von Psychopathen, denen die herrschende Ideologie nicht mehr bedeutet als das perfekte Mittel absoluter, durch keinerlei rechtliche oder moralische Prinzipien begrenzter Machtausübung. Dabei sind die Prinzipien Nebensache: Entscheidend ist der Mangel an common sense, an Mit-Menschlichkeit im weitesten Sinn menschlicher Kontaktfähigkeit und -bedürftigkeit, der den pathologischen Charakter auszeichnet und ihn Macht über die ›Normalen‹ anstreben und letztlich gewinnen lässt. Sein Aufstieg verläuft mehr oder minder zwangsläufig mit Hilfe psychisch affiner Seilschaften, die sich quer durch die Gesellschaft spannen, unter Blendung ideologisch anfälliger Zeitgenossen, die zu Mitstreitern umfunktioniert werden, durch seelische Okkupation und Dominanz.
Der hysterische Zyklus. – Zu Lobaczewskis gewagteren Hypothesen gehört die Behauptung, Gesellschaften würden von Zeit zu Zeit einen hysterischen Zyklus durchlaufen, Europa etwa in Abständen von ca. 200 Jahren. Den letzten hysterischen Ausbruch Europas legt er auf die Zeit um 1900 und hat dabei, Partei ist Partei, vor allem die deutschsprachigen Länder im Visier. Der Erste Weltkrieg und was daraus entstand, wären, folgt man dem Autor, direkte Auswirkungen dieses Massenphänomens gewesen. Gesellschaftliche Hysterie, verstanden als kollektive Angst vor der Wahrheit, bereitet sich in Phasen des Wohlstands vor, in denen vom Einzelnen weniger Persönlichkeit gefordert ist, der Wahrheitswille erlahmt und sich die Perspektiven des Denkens auf die angenehmen Seiten des Daseins verengen. Diese Kritik am Hedonismus ist alt – was nicht unbedingt bedeutet, dass sie falsch wäre. In der allgemeinen Hysterie meldet sich gewissermaßen die Wirklichkeit zurück, aber unter dem Deckmantel der Angst und der kollektiven Unfähigkeit, sie zu meistern. 1984 geschrieben, wirken diese Partien prophetisch. Nimmt man Lobaczewskis Diagnose hinzu, die USA befänden sich gerade in einer Phase der sich aufschaukelnden Hysterie, dann wären die wenigen geschenkten Jahrzehnte als einzige verbleibende Weltmacht wenig mehr gewesen als ein Aufschub, der ein in sich zerrissenes, zunehmend aggressiv agierendes Land hervorgebracht hat.
So mag die Welt sich aus dem Blickwinkel des Psychologen ausnehmen. Wie auch immer, die Psyche ist eine reelle Größe. Die Unterstellung, die USA würden dem europäischen Zyklus um einen Zeitraum von ca. 80 Jahre hinterherhinken, bringt einen weiteren Faktor ins Spiel: die Asynchronizität der Zyklen auf getrennten Kontinenten und generell zwischen schwächer miteinander kommunizierenden Kulturen. Zyklentheorien sind wie Handlesen – man muss nur das Netz an Zusatzhypothesen vergrößern und das Ergebnis passt (fast) immer. Die Wirklichkeit ist eine bewegliche Bestie, die sich in praktisch jeden Käfig fügt.
Die wichtigste dieser Zusatzannahmen beruht auf der Beobachtung, dass das moderne, Kontinente überspannende Kommunikationsnetz, sprich: die Entstehung des globalen Dorfes, die asynchronen Zyklen weit enger als vordem miteinander verknüpft, wodurch ungewöhnliche bis unbekannte Kombinationen und Wechselwirkungen möglich werden. Die Covid-Hysterie wäre somit das erste Beispiel einer globalen oder beinahe globalen Hysterie, basierend auf den Errungenschaften der modernen Massenkommunikation, und es wäre nicht ohne historisches Eigeninteresse zu untersuchen, wie eng das kulturell entkernte Deutschland seinem Mentor und Taktgeber USA in dieser Sache noch im Nachgang folgt.
An solchen Partien merkt man, warum das Buch zu den ›schwarzen‹ Klassikern dieser Jahre zählt, deren Einfluss auf die kritische Öffentlichkeit schwer zu taxieren, aber noch schwerer zu überschätzen ist. Es ist noch nicht so lange her, dass die anonyme Zensurmaschine den bloßen Gebrauch des Wortes ›Hysterie‹ zu den Gedankenvergehen zählte. Wie man sieht, nicht ohne Grund, denn das Netz, das Lobaczewski damit auswirft, umfasst vieles, was inzwischen Alltag geworden ist, auch (oder weil) es von Ideologen heftig bestritten wird.
Das Böse. – Kernprojekt des Buches ist die Begründung einer neuen Disziplin, genannt ›Ponerologie‹, die Wissenschaft vom Bösen, verstanden als Bereitschaft, dem Mitmenschen zu schaden. Hier ist nicht der Ort, dieses Vorhaben in extenso zu diskutieren. Auf den heutigen Leser wirkt es weit weniger revolutionär, als es zur Zeit der Forschungen, auf die Lobaczewski zurückblickt, gewesen sein mag. Die Hauptthese lautet, dass hinter jeder (oder fast jeder, denn mathematische Sicherheit gibt es hier nicht) bösen Tat, sei sie kriminell oder mit den Mitteln des Rechts nicht erfassbar, eine psychische Devianz steht, die besser behandelt als bestraft gehört.
L, so der Leser-Eindruck, glaubt damit den Universalschlüssel gefunden zu haben, mit dessen Einsatz alle Menschheitsübel von Grund auf kuriert werden können, angefangen bei Fragen der Förderung talentierter Individuen auf angemessene Positionen, in denen ihre Fähigkeiten zur vollen Entfaltung gelangen, während unfähige, korrupte und machthungrige Kandidaten bereits im Selektionsprozess abgefangen werden, bis hin zur Isolation und Behandlung ganzer Nationen, die sich im hysterischen Zyklus verfangen haben.
Angesichts der gängigen Rede von Schurken und Schurkenstaaten, nicht zu vergessen der Konjunktur des Bösen als diffamierender Etikettierung des politischen Gegners seien hier ein paar Bemerkungen eingestreut. Das Böse ist eine religiöse Kategorie, sie dient der Überhöhung einer ethischen Fragestellung, die um das Problem vorsätzlich schädlicher (besser: schädigender) Handlungen kreist: Der Grund schlechten Handelns liegt danach in eben jener substanziellen Kraft, die nach Goethe stets das Böse will und stets das Gute schafft, bloß, wie in Bezug auf die Wissenschaft bereits angemerkt, auf längere Sicht. Ganz hat sich auch Lobaczewski nicht von dieser Auffassung gelöst, wenn er dekretiert, dass die Konfrontation mit dem Bösen einen notwendigen Bestandteil des seelischen Reifeprozesses darstellt, sei es des Individuums oder einer Gesellschaft.
Unterscheidet man das empirisch Böse vom metaphysisch Bösen, dann fällt auf, dass die Verrechnung des Handelns (und Denkens) anderer unter dieser Kategorie in der Praxis streng symmetrische Züge trägt. Die Etikettierung geschieht wechselseitig, der Grund dafür ist denkbar einfach: Auch der als ›böse‹ etikettierte Zeitgenosse wiegt sich im Glauben, nur sein gutes Recht in Anspruch zu nehmen oder generell der richtigeren, folglich besseren Weltsicht zu folgen. Das gilt, nebenbei, genauso für ordinäre Straftäter, denen es jederzeit freisteht, sich als Opfer ›des Systems‹ zu fühlen und zu gerieren.
Das ›System‹ ist gleichsam das äußerste Böse, das der Delinquent bemühen kann, um sich selbst zu rechtfertigen. Was ist dieses ›System‹? Moralisch gesehen die Welt der Guten, die nach ganz bestimmten, zum Teil tradierten, zum Teil selbst auferlegten Regeln funktioniert und den Übeltäter isoliert – und sei es dadurch, dass sie ihn einsperrt.
Lobaczewski ist sich in diesem Punkt nicht ganz schlüssig: Einerseits blockiert die Moral seiner Auffassung nach die psychiatrische Auflösung der Weltübel, indem sie deren wahre Ursachen verdeckt und stattdessen ein ineffizientes Regime der Verurteilung und Bestrafung präferiert, andererseits befindet sie sich auf dem richtigen Wege und bedarf bloß der psychiatrischen Erweiterung, um erfolgreich zu operieren. Wenn aber im Konfliktfall beide Seiten sich im Bewusstsein wiegen, die Guten zu repräsentieren und die Bösen (oder das Böse) zu bekämpfen, dann stellt sich die Frage der richtenden Instanz.
Das kann, akzeptiert man Lobaczewskis Disposition, nach Lage der Dinge nur die Wissenschaft sein, gesetzt, es handelt sich um die einzig wahre, vom Gift der seelisch-geistigen Korruption unangefochtene Wissenschaft, bei der man sich automatisch fragt, wo sie wohl herkommen mag angesichts all der gesellschaftlichen Verderbnis. Genausogut könnte man auf aufrechte Politiker, zutiefst gläubige Priester und dem Gesetz treu ergebene Staatsanwälte und Richter setzen. Wo wäre der Unterschied? Ach ja, ich vergaß: Die Wissenschaft weiß. Woher weiß sie, wenn sie doch, qua Wissenschaft, auf Hypothesen fußt, die jederzeit revidierbar undsoweiter undsoweiter? Schleicht sich da nicht die gute alte perhorreszierte Divination zurück ins Gehäuse der Empirie? Ist am Ende auch Lobaczewski nichts weiter als – ein Moralist?
Seit jenem ominösen Jahr 1984 hat der Westen hinreichend Erfahrungen mit dem Gesellschaftserzieher Wissenschaft sammeln können und das Ergebnis ist nicht ermutigend, manche würden sagen: erschreckend. »Es ist keine leichte Aufgabe, eine Diagnose für Menschen zu erstellen, deren psychologische Anomalien und Krankheiten gemeinsam mit ihnen gestorben sind.« Wie wahr! Dennoch scheint es weit einfacher, historisches Personal, über das die Geschichte ihr Urteil gesprochen hat, einer posthumen Analyse zu unterziehen (und dabei ins Schwadronieren zu geraten), als furchtlos realen Machthabern die Stirn des unbestechlichen Diagnostikers zu bieten. Umgekehrt fällt nichts leichter, als, im Strom der Anpassung schwimmend, Herausforderer (oder auch nur Kritiker) der Macht zu perhorreszieren und zu psychiatrisieren, wie der Ausdruck nicht ohne Hintersinn lautet.
Nach Lage der Dinge ist der Wissenschaftsglaube der einzige Glaube, der im Westen zur Zeit noch eine Mehrheit mobilisieren kann. Das kann sich rapide ändern. Allzu viele arbeiten bereits daran.