von Steffen Dietzsch
Alles Lebendige erlebt Niedergänge; das ist ihm naturhaft eingeschrieben. Noch in der Aufklärung (im Dix-huitième) hat man mit dieser Einsicht geschichtliche Prozesse und politische Großstrukturen (Staaten, Reiche, Kulturkreise) analytisch beschrieben. Die wurden metaphorisch als Lebewesen begriffen, – mit naturgesetzlich beschränkter Lebensdauer zwischen (Geburt) ›Jugend‹ und ›Alter‹ (Tod). In dieser Tradition hofft der Autor, man möge ihm »zugestehen, dass das Konzept des Niedergangs eine fundamentale Kategorie historischer Interpretation ist.« (14) – Als einst Kant (im Streit der Fakultäten, II,3.a-c) daran ging, Begriffsunterscheidungen von dem zu machen, was man von der Zukunft zu wissen glaubt, da hat er dieses Konzept die ›terroristische Vorstellung der Menschengeschichte‹ genannt; dem entgegengesetzt sei dann die ›eudämonistische‹ Vorstellung, die als eine bloß ›sanguinische Hoffnung‹ aber ebenso wenig aus wirklichen Gründen heraus zu begründen wäre.
Bei Julien Freund (1921-1993) nun wird die Idee des ›Niedergangs‹ so aufgerüstet, dass sie auch das empirische »Auf und Ab in der Geschichte der Völker« (14) zu erfassen in der Lage wäre. Diese Dynamik aber hatte Kant noch aus der Niedergangsgeschichte ausgegliedert und als ›abderistische‹ Geschichtsvorstellung (»zu bauen, um niederzureißen«) gesondert konzeptualisiert. – Es käme nun darauf an, so Freund, die »Besonderheit der historischen Konstellation zu analysieren«, um diesen Niedergang verstehen zu können. Man darf ihn sich aber nicht als eine bloße Wiederholung schon abgelebter historischer Etappen vorstellen. Vielmehr sollte man bei der Analyse dieses Niedergangs »auf das Konzept des Fortschritts abstellen« (16), in dessen Medium sich jener Verfall vollziehe. Dabei fächert Freund wieder drei Theorietypen auf, die das abbilden: eine ›Kreislauf‹-Theorie, eine ›apokalyptische‹ und eine ›undulatorische‹ (wellenförmige) Theorie (18); hierbei wird nicht mehr ein einheitlicher Kosmos mit einem einheitlichen (unglücklichen) Schicksal – z.B. eben Verfall – vorgestellt, sondern jener Verfall ›oszilliert‹ unterschiedlich in unterschiedlichen kulturellen Kontexten, er kann sich sogar als (prämortale) Euphorie (60) gebärden, – so unterschiedlich und paradox eben wie die Geschichte verläuft bzw. erzählt wird … Und der Autor Freund überrascht am Ende seiner Exkurse durch die neuere europäische Zivilisation und ihrer Ideologien mit dem Resümee, »dass progressive Ideen sogar eine Quelle des Niedergangs sind« (48), was ihm namentlich am Pazifismus (54) und an der Neigung zum Utopismus (50) als zweier dauerhafter Ideen des Progressivismus auffällt. Das wiederum soll seine Ausgangsthese plausibel machen.
Nun muss angesichts dieses ›Untergangs‹-Kaleidoskops gar keine kognitive Dissolution befürchtet werden, sondern Freund orientiert uns jetzt auf – überwiegend französischsprachige – Würdigungen, »die im Niedergang einen positiven Wert sehen.« (19) Wie z.B. auf Pierre. Chaunu (1923-2009), auf Jean-François Revel (1924-2006) oder Michel Maffesoli (*1944), für den konventionelle ›Niedergänge‹ vielmehr ›Enthüllungen‹ seien, – wodurch das, was unsereins als Niedergang versteht, sich als unsere eigene »intellektuelle Illusion« (20) verifizieren ließe. Freund erkennt bei Maffesoli dann eine »Rationalisierungsarbeit des orgiastischen Stils.« (20). Kurzum: wir befinden uns im ›Niedergang‹? Lasst uns darüber neu alte Geschichten erzählen! [ … was aber macht europäische Literatur denn anderes seit der Renaissance?]
Für die europäische Zivilisation sieht Freund kaum mehr konventionelle geistige Widerstands-Ressourcen, es würden überdies alltäglich »in der Praxis Widerstandsbarrieren abgebaut.« (57) Dass diese Niedergänge nicht nach physikalischen Gesetzlichkeiten erfolgten, also kaum berechenbar seien, macht ihre dramatischen Verläufe nicht ›harmloser‹. Überraschenderweise setzt Freund in dieser ›Niedergangs‹-Dramaturgie aber auf all die Kontingenzen, die mit unserer Subjektivität verbunden sind (65). Damit wäre paradoxerweise allem ›objektiven‹ Fatalismus mit einer Hoffnung machenden unübersichtlichen Ungewissheit entgegenzuwirken. Europa sollte sich wieder der eigenen Operativkräfte versichern, mit denen es groß geworden ist, sollte sich seiner »unvergleichlichen Erfindungs- und Schöpfungskraft« (64) erinnern und sich nicht länger »von anderen die Gesetze des Handelns diktieren.« (61). Die Selbstkritik des europäischen Geistes angesichts seiner weltgeschichtlichen Macht- und Soziabilitätsverfehlungen sollte eingebettet werden in einen weltbürgerlichen Diskurs, der nicht neu von einem neuen – machtgetarnten – Machtmonster einer Hypermoral bestimmt wird. Denn: »Die Zeichen, dass ein Niedergang wirklich irreparabel wäre, sind unverkennbar:
Es wäre der Verlust der Bedeutung von Freiheit und Wahrheit.« (77)
(Deutsch-Französisch, mit einem Geleitwort von Prof. em. Dr. Serge Sur)