von Ulrich Schödlbauer

In den Regionen, aus denen ich stamme, kursierte einst eine feste Wortverbindung: ›journalistischer Schw**sinn‹. Gemeint war damit nicht, Journalisten seien allesamt Schw**köpfe oder ›produzierten‹ Schw**sinn. Man bewunderte einen kleinen Stamm von Journalisten für ihre Fähigkeit, ›auf den Punkt‹ zu formulieren. Nichtsdestoweniger registrierte man, dass Journalismus, gleich welcher Richtung, dazu tendiert, intellektuelle Unterdifferenziertheit durch Massendistribution zu honorieren. Der angenommene Grund lag also mehr in einer Déformation professionelle als in persönlichem Unvermögen, heute würde man sagen: in den von Journalisten bedienten Formaten.

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Journalisten schreiben fürs Publikum, genauer, sie erschreiben sich ihr Publikum. Dementsprechend lässt ihre Leistung sich am Publikumserfolg messen – es sei denn, sie bedienen jene Art von Feudal- und Kampagnen-Journalismus, bei der die Gesinnung den Ton vorgibt und das Publikum entweder ruhiggestellt oder ›agitiert‹ werden soll. Verändert hat sich die Lage insofern, als die Abkömmlinge des klassischen Journalismus sich im Internet-Zeitalter ›alternativ‹ nennen und eine eigene, leicht erkennbare Sparte bedienen, während die Standardmedien der verflossenen Epoche in ein Stadium der Dienstbarkeit eingetreten sind, das den Hauptsatz der Branche unangenehm auffällig in Szene setzt: Wes Brot ich esse, des Lied ich singe.

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Auch dieses Glas ist halb voll und halb leer. Ob sich die ›Leitmedien‹ zur Unkenntlichkeit (oder Kenntlichkeit) verändert haben, während ein wachsendes Fähnlein der Sieben Aufrechten dem epochalen Abschied von der Wahrheit (Spiegel) trutzig Einhalt zu gebieten versucht, oder ob es um mediale Wahrheit nie anders bestellt war als heute und der Stand der Technik (sprich: die mediale Präsenz von Jedermann) dem traditionellen Wahrheitsmonopol den Gnadenstoß gegeben hat, ist definitiv nicht zu ermitteln. Dafür hängt das Urteil zu sehr vom Standpunkt des Betrachters ab. Richtig ist sicher: ein ertappter oder seine ad-hoc-Enttarnung fürchtender Betrüger nimmt sich und seine Umgebung anders wahr als einer, der sich in der Sicherheit seiner Unangreifbarkeit wiegt. Insofern sind die Kollektivbezichtigungen der jeweils anderen Seite Ausdruck eines ebenso realen wie tiefgreifenden Mentalitätswandels der Branche. Karl Kraus ist heute jeder, der über minimale Wahrnehmungsfähigkeiten verfügt.

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In gewisser Weise zielt das Wort vom journalistischen Schw**sinn auf eine Rollenvertauschung. Es kritisiert weniger den Journalismus als vielmehr den vor-, respektive nacheilenden Gehorsam von Intellektuellen, die es nach medialer Sichtbarkeit gelüstet und die sich nur allzu willig den Usancen der Branche beugen – so willig, dass der Kern ihres Denkens dadurch korrumpiert wird. Das mag abenteuerlich klingen, betrachtet man die publikumsferne Sprache der Kernphysik und verwandter Disziplinen. Fasst man dagegen die Klimatheorie und ihre mediennotorischen Vertreter, wie sie nicht ohne Ironie genannt werden, ins Auge, dann kommt man der Sache rasch näher. Eine Wissenschaft, in der bloß mediengängige Gedanken eine reelle Chance darauf besitzen, formuliert zu werden, ist in mehr als einer Hinsicht am Ende, gleichgültig, wie üppig die Forschungsgelder fließen und welche ministeriellen Zuwendungen ins Haus stehen.

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Der Schlüssel liegt, wie so oft, in der Wahrnehmung. Wie die Laborforschung vergangener Jahrzehnte zeigen konnte, veröden nicht allein ganze Theoriezweige, wenn Forschungsgelder abgezogen werden. Wissenschaftler richten ihr persönliches Forschungsprogramm mehr oder weniger konsequent an ihren Karrierebedürfnissen aus. Was sie nicht gezeigt hat (oder zeigen wollte), ist der selektionsbedingte Wandel des Forschungspersonals, der eintritt, sobald Politik oder mächtige Privatinteressen sich der Sache annehmen. Bekanntlich macht der lautlose Zwang der Verhältnisse an den Pforten des reinen Wissens nicht Halt. Nur Ausreißer widersetzen sich ihm und zahlen dafür den Preis. Und gerade sie sind auf Öffentlichkeit angewiesen, also darauf, ihr ›Anliegen‹ öffentlichkeitsgängig zu formulieren. Die Journalismusfalle verfügt über viele Gesichter.

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Journalisten und Intellektuelle – das klingt nach einer langen, lust- und leidvollen, durch Konkurrenz, Neid, Bewunderung und Häme geprägten Beziehung. Nicht wenige Intellektuelle waren Journalisten. Doch ausschlaggebend war und ist die akademische Prägung, oft genug gekoppelt mit dem akademischen Lehramt, zumindest in europäischen Breiten, und einem entsprechenden Habitus, der einen gleitenden Übergang zum Menschheitslehrer ermöglicht, was immer man von letzterer Rolle halten mag. Intellektuelle als die geborenen Besserwisser der Nation haben seit der Aufklärung die öffentlichen Verständigungsprozesse angeführt und begleitet, sie haben dabei, vor allem in Krisenzeiten, ein ausgesprochenes Gruppenbewusstsein ausgebildet und Abweichler und Renegaten zuhauf produziert, meist um die Allerweltsformel ›Der Geist steht links‹ herum, der bereits Julien Benda seine vermeintliche Einsicht in den ›Verrat der Intellektuellen‹ von 1927 verdankte.

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Wenn sich heute Intellektuelle wie der italienische Philosoph Giorgio Agamben oder der französische Romanschriftsteller Michel Houllebecq ›zu Wort melden‹, dann erzeugen sie einen winzigen Strudel im Aufmerksamkeitskontinuum, das durch den beständigen Abwehrkampf des besoldeten Journalismus gegen das freie Wort, sprich die in den sozialen Netzen konzentrierte Meinungs- und Informationsvielfalt erzeugt wird. Dabei ist die öffentliche Wortmeldung, die ursprüngliche Intellektuellengeste, durch eben diese technische Innovation unter die Räder, sprich: in Verruf geraten. Wo jeder, der einen Internetanschluss sein eigen nennt, über die gleichen Chancen verfügt, seine Auffassungen kundzutun und damit Masseneffekte zu erzielen, wirkt der intellektuelle Habitus überholt, befremdlich und nicht selten komisch – besonders dort, wo er auf ein Publikum trifft, dem erworbenes Verdienst und vergangene Leistungen buchstäblich nichts bedeuten, falls es überhaupt davon Kunde besitzt. Der gleichgerichtete Journalismus verhält sich da nicht anders als seine ungeliebte Konkurrenz: Er weiß es besser als dieses Individuum da und ist bereit, jede Position zu überfahren, mit der ›man‹ sich ein paar Jahrzehnte früher um der eigenen Reputation willen hätte ›auseinandersetzen‹ müssen.

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Wenn Intellektuellentum erworbene Autorität bedeutet (wobei man sich schon immer fragen konnte, auf welchen Wegen Romanschriftsteller zu ihr kommen), dann darf seit den neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts das Verschwinden der Intellektuellen konstatiert werden – teilweise ausgelöst durch den abrupten Bedeutungsverlust im Zuge der Auflösung des Ostblocks und einen entsprechend gesunkenen Propagandabedarf und zementiert durch den Rollen- und Mentalitätswandel des ›Qualitätsjournalismus‹ im neuen Medienzeitalter: Der – angesichts schrumpfender Auflagenzahlen – angstgetriebene Triumphalismus einer Klasse von Lohnschreibern erkennt nur die Autorität von Auftrag- und Geldgebern an. Eine freie Auseinandersetzung mit komplex begründeten Positionen kann sie sich praktisch und theoretisch nicht leisten. Et vice versa: Was auf der einen Seite der Barriere aufs Verschweigen und Denunzieren hinausläuft, das erzeugt auf der anderen Seite Erfüllungsgehilfentum und Rückzug ins Schneckenhaus.

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Um ein bekanntes Wort von Kant abzuwandeln: Journalismus ohne Intellektuelle ist blind, Intellektuellentum ohne Journaille ist leer. Es lohnt sich nicht, recht zu behalten, wenn keine Autorität bei der Sache ist und man sich des Eindrucks nicht erwehren kann, unter lauter Rechthabern bestenfalls eine unglückliche Figur zu machen. Schließlich weiß man es wirklich besser und empfindet die Behandlung, die einem ›draußen‹ widerfährt, als zutiefst kränkend. Seit öffentlich zur Schau getragener Narzissmus als Krankheit wahrgenommen wird, sind Intellektuellenposen kontraproduktiv geworden. Sie taugen noch für bestimmte Zirkel, darüber hinaus fördern sie allenfalls die Selbststigmatisierung. Das hat Auswirkungen auf die ›Kultur‹. Die Kultur des Wortes ist weitgehend zum Erliegen gekommen. Ersetzt wurde sie durch die Kultur der Meme: unter dem Gesichtspunkt diskursiver Auseinandersetzung eine Katastrophe ohnegleichen, da sie die Parteien auseinandertreibt, ohne die Möglichkeit sachlicher Verständigung festzuhalten.

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An dieser Stelle lohnt der Blick auf die alternative Medienszene, in der nach wie vor ›Intellektuelle‹ herumgereicht werden: In erster Linie Forschungspersonal, das die eigenen Positionen munitioniert, ergänzt um die üblichen Vertreter ›dystopischer‹ Visionen, mit deren Hilfe sich das etablierte System samt seinen Helfern dem Reich des Bösen zuschlagen lässt. ›Kultur‹ lässt sich auf diese Weise nicht erzwingen. Es fehlt das Vorrecht des freien Intellekts, sich innerhalb einer 360-Grad-Perspektive zu orientieren, also das, was Herder einst als das Eigentümliche des Humanum bezeichnete. Der Begriff des Bösen, tief in der Vorstellungswelt der Alternativen wie ihrer Widersacher verankert, lässt die Verständigung mit der anderen Seite nicht zu, wobei um der Gerechtigkeit willen hinzugesetzt werden muss, dass dem in vielen, wenn nicht allen Fällen, erfahrene Zurückweisung durch die kommunikationsunwillige andere Seite zu Grunde liegt. Das verringert nicht das Problem, das da lautet: Schuldzuweisungen auf der Basis absoluter Verneinung (›böse‹) wirken strikt symmetrisch.

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Der Unterschied zwischen Etablierten und Alternativen ist unübersehbar: Die einen sind am Drücker, die anderen sind es nicht. Daraus folgt vieles. Wenn die starke Seite buchstäblich alles der Machtsicherung unterordnet – natürlich unter der Vorgabe, ›die Welt‹ retten zu müssen –, dann bleibt der schwachen Seite wenig anderes übrig, als den Kampf um die Macht mit den ihr verfügbaren Mitteln zu führen. Wem kaum mehr als das allen zugängliche Medium zur Verfügung steht, dem gerät jede Information, jedes Stück ›Unterhaltung‹ zur Waffe. Es kann gar nicht anders sein. Die Crux dabei: das Ringen um Selbstbehauptung wird auf diese Weise zum analogen Gleichrichter, der die Inhalte in immer denselben Gegensatz presst. Nicht bloß gibt der Feind den Takt, er gibt auch die Tendenz der Inhalte vor. Auf diese Weise erntet man Renegaten, doch gewiss keine kulturelle Hegemonie.

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Kulturelle Hegemonie ist schlecht, aber unumgänglich. Eine richtungslose Gesellschaft fällt über kurz oder lang auseinander. Dabei sind verschiedene Arten der Hegemonie denkbar. Eine, die – mit steigender Tendenz – zu den Mitteln der Zensur und Sanktionierung von Abweichlertum greift, verliert die Kultur und damit die Quelle ihrer Erfolge. Ihr Antiliberalismus ist kulturfeindlich. Er degradiert die Kultur zum Erfüllungsgehilfen, das heißt er nimmt ihr – und ihren Repräsentanten –das Gesicht. Früher oder später rächt sich das. Davor steht das eigentümliche Leiden an sich selbst, für das in der intellektuellen Tradition das Wort vom sacrificium intellectus zur Verfügung steht. Doch sollte man daneben das sacrificium artis und das sacrificium fidei nicht unterschlagen. Es soll Menschen geben, denen nach dem Abwurf der Bürde leichter zumute ist. Man muss sich den Mitläufer als glücklichen Menschen denken.

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Für eine freiheitliche Gesellschaft stellt die Verbindung aus zensurgestützter kultureller Hegemonie und medialer Selbstbezüglichkeit ohne das Korrektiv intellektueller Freiheit den größten anzunehmenden Unfall dar. Sie wirkt tief in die Lebenswelt der Entscheidungsträger hinein, tiefer als parteibuchgebundene Indoktrination dies jemals bewirken könnte. Mindestens ebenso bedeutsam sind ihre Auswirkungen im Raum der Wissenschaft. Am ärgerlichsten allerdings wirkt sich die Blendung des großen Publikums aus, dem die Fähigkeit, staatsbürgerliche Entscheidungen zu treffen, systematisch ausgetrieben wird, solange es nicht gewillt ist, auf die Seite der ›Bösen‹ zu wechseln und am Pranger der üblichen Verdächtigungen zu landen.

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Die Herrschaft des Geschwätzes ist nicht so anonym, wie manche es gern hätten. Man hört immer Stimmen durch und einige klingen vertrauter als andere. Auch die Geldgeber, anonym oder nicht, sind Kinder ihrer Zeit und Adepten der darin herrschenden Gedanken. Einen Gedanken denken und zu überlegen, wie er sich zu Geld machen lässt, ist nicht ganz dasselbe. In Wahrheit ist beides voneinander radikal unterschieden. Zusammengeführt wird es durch die Nötigung – oder die Leidenschaft – zum Gelderwerb und nichts weiter. Es erleichtert die Geschäfte, an das Zeug, mit dem man Gewinn machen möchte, auch noch zu glauben. Das gilt für Superreiche nicht weniger als für den Mietschreiber gleich um die Ecke. Es hat seinen guten Sinn, eine prestigeträchtige Intellektuellenschicht zwischen beiden anzusiedeln, sie gleichsam zwischen Baum und Borke einzuschieben und damit den schwer auf den Gehaltschreibern lastenden Gesinnungsdruck in die Bahnen kultivierter Auseinandersetzung zu lenken. Wenn die mediale Entwicklung dem entgegensteht, dann muss auch die Figur des Intellektuellen neu erfunden werden.

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Kultur, wie konsumistisch interpretiert auch immer, ist mehr als Intellektualismus. Aber sie ist sein Lebenselixier. Soll heißen, die Prestigemaschine, der Intellektuelle wie Künstler oder prominente Lebenskünstler ihre öffentliche Statur verdanken, ist die lebendige, sprudelnde, faszinierende Kultur, die wenig gemein hat mit ihrer toten, funktionalisierten, gleichgeschalteten, in industriellen Routinen erstarrten Schwester. Populismus ist Zerfallensein mit dem aktuellen Stand der Kultur. Das erzeugt das Selbstmissverständnis der Kulturkonservativen: Was sie ›konservieren‹ wollen, ist just das, dessen Verlust sie beklagen. Es käme aber darauf an, es in der Misere – und aus ihr – neu zu gewinnen. ›Kulturschaffende‹, die nicht begreifen, dass dort draußen alle Rollen neu zu entdecken – und zu besetzen – sind, darf man mit Fug vergessen. Sie sind auswechselbare Rädchen im Getriebe und nichts weiter. Ihr Selbstbewusstsein gibt ihnen auch nichts anderes ein.

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Die 68er haben das einst verstanden und sich ihre eigene ›Szene‹ geschaffen. Vielleicht ist sie ihnen auch nur zugefallen. Die heutigen Alternativen beginnen erst langsam, sich aus dem zensurbeflissenen Klammergriff der sozialen Medien zu befreien. Sie lassen sich, so könnte man kritisch anmerken, vom Abwehrkampf der Etablierten die eigene Inszenierung aufdrücken. Entsprechend hören sie Kritik aus den eigenen Reihen nicht gern. Stattdessen verlangen sie Solidarität. Doch Solidarität ist nicht der vielversprechende Anfang, sondern das sektiererische Ende aller Kultur. Kultur, die nicht gewillt ist, die Menschen als solche mitzunehmen, und stattdessen die Reihen zu schließen wünscht, hat aus der eigenen Totalitarismuskritik nicht viel gelernt. Sie wünscht das Prestige der Etablierten auf ihre eigenen Mühlen zu lenken und verteilt Wohlverhaltenskärtchen an Sympathisanten, nicht bedenkend, dass sie damit eine Praxis fortschreibt, die sie den anderen als barbarisch ankreidet.