von Lutz Götze
Seit 2009 arbeitet ein von mehreren Behindertenorganisationen gegründetes ›Netzwerk Leichte Sprache‹ daran, die, vermeintlich, schwierige deutsche Sprache radikal zu vereinfachen, damit weit mehr Menschen als bisher mündliche und, vor allem, schriftlich verfasste Texte verstünden. Das klingt demokratisch und heischt nach uneingeschränkter Zustimmung. Ein Schelm, wer sich dem verschlösse!
Die Regeln des 2013 gegründeten Vereins ›Leichte Sprache‹ gelten für mental Behinderte ebenso wie für Menschen, die allgemein Lese-und Rechtschreibprobleme haben. Hierzulande bezeichnet man geschätzte 7,5 Millionen Erwachsene als funktionale Analphabeten. Darunter versteht die Wissenschaft gemeinhin solche Menschen, die einzelne Sätze lesen und (oder nicht) schreiben können, aber an Texten scheitern. Weit mehr, etwa doppelt so viele, haben allgemein Schwierigkeiten mit dem Lesen und Schreiben ihrer Muttersprache. Deshalb kamen die Schöpfer des Netzwerkes auf die Idee, ein Regelwerk zu verfassen, das die Not lindern sollte: Es beschränkt Sätze auf maximal vier Wörter (Subjekt, Prädikat, Objekt), vermeidet Passiv-Konstruktionen ebenso wie Konjunktiv- und erweiterte Tempusformen (Plusquamperfekt, Futur II) sowie obendrein den Genitiv , der durch Präpositionalgefüge ersetzt werden soll (Der Hut des Vaters=Der Hut von dem Vater). Metaphern (bildhafte Vergleiche wie ›Hasenfuß‹) werden, weil zu schwierig, vermieden, ebenso weitgehend Fachwörter (›Substantiv‹, ›Relativitätstheorie‹) sowie Abstrakta (›Weltall‹). Komposita, also zusammengesetzte Substantive, werden durch Bindestriche ›erklärt‹, mithin: Bundes-Tag. Schließlich soll jeder Satz, der besseren Übersichtlichkeit wegen, in einer eigenen Zeile stehen.
Weniger radikal greift das Konzept der ›Einfachen Sprache‹ in Orthographie, Morphologie, Syntax und Semantik der deutschen Gegenwartssprache ein: So sind hier immerhin maximal fünfzehn Wörter pro Satz zugelassen. Generell unterscheidet sich dieser Ansatz nur teilweise von der in Wörterbüchern und Grammatiken der Standardsprache üblichen Beschreibung des Deutschen.
Ein Bibeltext in ›Leichter Sprache‹
Die Vereinfachung der deutschen Sprache für ›die Millionen Mitbürger, denen das Lesen schwerfällt‹ – so wirbt ein Verlag in Münster für seine Bücher – hat Erfolg: Immer mehr Parlamente und Verlage publizieren ihre Ergebnisse auf diese Weise, Rundfunk-und Fernsehstationen senden Nachrichten und andere Beiträge in leichter Sprache, Linguistik-Seminare entwickeln entsprechende Forschungsprojekte, kanonische Werke wie die Bibel oder Klassiker wie Shakespeare werden mundgerecht simplifiziert. Als Beispiel diene die »Verkündigung an Maria« (Lukas 1, 26-28). Hier zunächst das Original:
So lautet das Original, nach Luther. Nun die Fassung in leichter Sprache:
Das ist ›Leichte Sprache‹: Keine Tempora außer dem Präsens, allenfalls gelegentlich Futur I, kein Passiv, kein Konjunktiv, keine Negation, im Regelfall vier Wörter pro Satz mit je einer einzigen Information, keine Metaphern, keine historischen Bezüge sowie keine Zahlen oder Daten. Berufsbezeichnungen werden ›erläutert‹. Ansonsten, so die Befürworter, verstünden die Erwachsenen den Text nicht.
Wohlgemerkt: Es geht hier nicht um Kinder. Für die gibt es seit langem kindgerechte Bücher, auch verständlich vereinfachte Werke der Weltliteratur wie Romeo und Julia. Das ist verdienstvoll.
Sprachmüll
Verdienstvoll ist es ebenso, gegen die Inflation völlig überflüssiger Anglizismen in der deutschen Sprache (meeting point, user, racial profiling , department, wellness), gegen Sprachverwilderungen der Verwaltung (Wahlwiederholungszettelausgabe, Verunklarung, Vernetzung, Verunfallung, Beitragsanpassung, Parkleitsystem, barrierefreier Zugang) oder gegen den ›Neusprech‹ der Politiker (belastbare Aussage, gelenkte Demokratie, Minuswachstum, Verschlimmbesserung, LGTBQI) sowie alltägliche Sprachschlampereien (optimalste Leistung, größtmöglichster Export; ich würde sagen wollen, dass…, das macht Sinn, in 2017) zu opponieren. Sie erschweren in der Tat vielen Menschen das Verständnis gesprochener und geschriebener Texte.
Ziele der ›Leichten Sprache‹
Doch bei der ›Leichten Sprache‹ geht es um mehr und Schlimmeres: Der deutschen Sprache sollen wesentliche Elemente ihrer Differenzierung und Präzision, aber auch ihrer Ästhetik, genommen werden. Wie soll ich noch differenzieren oder genau sein, wenn der wichtige Unterschied zwischen ›scheinbar‹ und ›anscheinend‹ nicht mehr beachtet wird, ebenso jener zwischen ›Sie ist nicht groß‹ und ›Sie ist klein‹, zwischen ›schmerzhaft‹ und ›schmerzlich‹ oder zwischen ›gebräuchlich‹ und ›brauchbar‹. Wie soll Sprache gelingen, wenn Metaphern nicht mehr gebraucht werden, weil sie scheinbar nicht verstanden würden: ›Der Höchste, ein Hasenfuß, Schlüsselbart, Rabeneltern, saubere Weste‹. Oder auch Termini wie ›Euphemismus‹ (Verharmlosung): Entsorgungspark; einschlafen, ›Oxymoron‹ (Gegensatzpaar): beredtes Schweigen; weißer Rabe oder ›Litotes‹ (Verneinung des Gegenteils): keine schlechte Idee=sie taugt überhaupt nichts, und die Opposition, die ›Hyperbel‹ (Übertreibung): Er hört das Gras wachsen.
Ebenso schlimm aber stünde es um die deutsche Sprache, würde man beiden Konjunktiven den Garaus machen. Wie soll man die Rede eines Dritten wiedergeben, ohne den Konjunktiv I zu benutzen: ›Hans hat gesagt, Inge sei krank‹. Benutzte der Sprecher hingegen den Indikativ ›ist‹, so könnte der Hörer glauben, es sei die Meinung des Sprechers und nicht die eines Dritten.
Wie soll man auf der anderen Seite Wünsche äußern, ohne den Konjunktiv II zu benutzen: ›Wäre er doch schon hier!‹ – ›Hätte sie das bloß nicht getan!‹ Wie kann man anders als mit dem Konjunktiv eine Bedingung formulieren, die zugleich eine Warnung darstellt: ›Wenn du das machen solltest, würdest du im Gefängnis landen!‹
Die Forderung, hinfort den Genitiv zu eliminieren, hätte einen Verlust an sprachlicher und gedanklicher Präzision zur Folge: ›Sie gedachten der Opfer des Holocaust‹ ist etwas grundsätzlich Anderes als ›Sie dachten an die Opfer des Holocaust‹.
Sprachwirklichkeit anno 2017
Leider treffen die Regeln der ›Leichten Sprache‹ auf eine Wirklichkeit, die generell dem Sprachverfall Tür und Tor öffnet: Die keineswegs lediglich in der Jugendsprache verwendeten Adjektive ›total, super, echt, geil‹ bewirken das Gegenteil einer erforderlichen Differenzierung. Sie sind in Wahrheit Passe-partout-Wörter, also für alles ›gebräuchlich‹, aber für nichts ›brauchbar‹.
Ähnlich falsch ist übrigens der anderenorts vor Jahren geäußerte Vorschlag, bei allen Personenangaben grundsätzlich sowohl das männliche als auch das weibliche grammatische Geschlecht (Genus) anzugeben, neuerdings noch verschärft (siehe oben) um Lesben, Schwule, Transgender und andere Gruppen: Das bauscht die Sprache nicht nur gewaltig auf, sondern verhindert – wenn die Ersatzform Partizip I gewählt wird – auch die erforderliche Genauigkeit: Ein ›Flüchtling‹ (›Flüchtlingin‹ gibt es bekanntlich in der deutschen Sprache nicht) wird umgeformt zu ›Flüchtender‹, ersatzweise ›Fliehender‹. Beides aber ist keineswegs synonym, also identisch: Ein flüchtender Verbrecher ist etwas anderes als ein aus Syrien fliehender Asylbewerber.
Passiv-Verbot und andere Exzesse
Zurück zur ›Leichten Sprache‹: Üble Folgen für die Sprachgemeinschaft hätte obendrein ein etwaiges Passiv-Verbot: Denn das Passiv ist keineswegs, wie landläufig behauptet wird, lediglich die Umkehrung des Aktivs, weshalb man es –weil schwierig – einsparen könne. Es ist vielmehr die Wahl einer sprachlichen Form, bei der der Handelnde entweder (noch) nicht bekannt ist (›Die Bank wurde überfallen‹) oder aber die Entscheidung für eine Aussage, die den Handelnden – aus Feigheit oder Opportunismus – bewusst verschweigt (›Aleppo wurde heute wieder bombardiert.‹ – ›Im Kabinett wurde die Frage diskutiert‹). Das bewusste Verschweigen des Handelnden ist heute, zumal in der Sprache der Politik, weit verbreitet.
Wiederum ähnlich stünde es um den Verfall der Sprache, verwendeten wir keine gegliederten Sätze mehr, also Kausal-Sätze (weil), Temporal -Sätze (nachdem), Konditional-Sätze (wenn) oder Konsekutiv-Sätze (sodass). Wir verlernten, gebrauchten wir diese Formen nicht mehr, binnen kurzem das logische und dialektische Denken. Verkürzte Sprache schafft damit aber auch die Grundlage für falsche Nachrichten – neudeutsch: bots –, denen die Masse Glauben schenkt: Fake news und darauf aufbauende Verschwörungstheorien bestimmen bereits heute Dialog und Kommunikation weiter Teile der globalen Gesellschaft.
Die Ästhetik der deutschen Sprache wiederum nähme Schaden, wenn Metapher, Geminatio (Doppelung) oder andere Stilfiguren nicht mehr verwendet würden, zumal in der Poesie: Wie sonst soll ein ›Durst des Herzens‹ oder ein ›Schiff der Hoffnung‹ benannt werden, wie Nietzsches Geminatio: ›Denn alle Lust will Ewigkeit/will tiefe, tiefe Ewigkeit‹?
Wie sollte Goethes Leonore anders sprechen als: ›..und nun bist du gesund, bist lebensfroh.‹ Und die Prinzessin antworten: ›Ich bin gesund, das heißt, ich bin nicht krank.‹
Wie könnte aber auch der Alltagssprecher besser und stärker formulieren, kennte er nicht Antonyme (Gegensatzpaare): ›Durch dick und dünn gehen; Tag und Nacht arbeiten‹. Oder Synonyme verstehen, die eben in ihrer Bedeutung doch nicht gleich sind, sondern feine oder aber auch leicht erkennbare stilistische Unterschiede beinhalten: ›essen, fressen, mampfen, schlingen, sich den Magen vollschlagen, reinhauen, verzehren‹.
Ebenso verhielte es sich mit der rhetorischen Figur der Ironie, ohne die die Sprache verkümmerte: ›Das ist eine ehrenwerte Gesellschaft!‹ – ›Sie hat eine durchaus gute Figur‹.
All das und vieles mehr ginge verloren, folgten wir den Ratschlägen des ›Netzwerks Leichte Sprache‹. Sie bedeuten in Wahrheit nichts anderes als den Ausverkauf der deutschen Sprache – oder anders: die Reduktion auf eine Schrumpfsprache, die lediglich auf einfacher Grundlage Informationen transportiert. Natürliche Sprachen wie die deutsche aber beinhalten weit mehr Funktionen: die ästhetische, also Schönheit und Vollkommenheit schaffende, Funktion, daneben die identitätsstiftende (›Muttersprache Deutsch‹), die kognitive ( kausale, lokale und temporale Bezüge), die expressive/Empfindungen ausdrückende (›Was für ein schöner Tag!‹) sowie die Beziehungen stiftende Funktion (Anredeformen: Sie, du, Frau, Fräulein, Herr).
Mehr Demokratie?
Der Reduktionismus wird gern, auch von Schriftstellern, als ein Beitrag zu mehr Demokratie verteidigt, weil dergestalt mehr Menschen am mündlichen und schriftlichen Dialog teilhaben könnten. Am Frankfurter Literaturhaus gibt es ein Projekt, im Rahmen dessen Schriftsteller erproben, wie sie in reduzierter Sprache Texte schreiben können. Welcher Aberwitz, welche Demokratieverhöhnung! Hier werden Regelungen, die für Behinderte hilfreich sein können, zur Messlatte für die gesamte Sprachgemeinschaft erhoben. Ähnlich sinnvoll wäre es, die aus der Not geborene und segensreiche Blindenschrift als allgemein verpflichtend, also auch für Sehende, vorzuschreiben.
Die Alternative
Umgekehrt wird ein Schuh daraus: Nicht Reduktion der Sprache auf eine vermeintlich für alle Deutschen und Deutschlernenden verständliche und verwendbare Minimalsprache ist das Gebot der Stunde, sondern eine in der Familie beginnende Sprachbildung und ein in Schule, Hochschule und Erwachsenenbildung fortgesetzter Deutschunterricht, der alle Funktionen der deutschen Sprache beinhaltet und ihnen die dafür geeigneten sprachlichen Mittel zuordnet. Ein besserer Deutschunterricht also ist das Gebot der Stunde, vorbereitet durch vergessene Tugenden wie Vorlesen und erste Schreibübungen in Familie und Kindergarten. Ein Unterricht, der eben nicht die Beherrschung der Stummelsprachen des Computers lehrt, sondern literarische und Gebrauchstexte der Standardsprache vermittelt, obendrein auch das Auswendiglernen von Gedichten nicht verschmäht. Ein Unterricht zumal, der deutlich zwischen geschriebener und gesprochener Sprache unterscheidet und die jeweiligen Normen vermittelt, im Rahmen derer sich die Lernenden entscheiden und kreativ ihre Mittel wählen, dabei freilich bedenkend, dass Normabweichungen nur jenem gestattet sind, der die Norm kennt und sich gerade deshalb bewusst dagegen entscheidet: ›Denn das Gesetz nur kann uns Freiheit geben‹, hieß es schon bei Johann Wolfgang Goethe. Vassily Kandinsky wiederum sprengte die Norm, weil sie ihm für sein künstlerisches Wollen nicht genügte – und nicht etwa, weil er sie nicht kannte. Kreativität ist ohne die Fähigkeit zur Reflexion nicht möglich.
Heute hingegen geschieht es genau umgekehrt: Die Masse verachtet eine Norm, die sie freilich nicht kennt. Sie schreibt, wie sie spricht, und sie spricht wie Hinz und Kunz. Die technischen Medien und die asozialen Netzwerke – smartphone, i-pad, twitter, facebook – tun ein Übriges. Sie verstümmeln Sprache und sind keineswegs, wie gelegentlich Sprachforscher behaupten, ein Ausweis neuer kreativer Schriftlichkeit.
Die Zeichen für eine Umkehr und Wende zum Besseren stehen nicht günstig. Zu sehr hat sich die internationale Sprachgemeinschaft bereits an Verhunzung und Verstümmelung der Einzelsprachen gewöhnt: Ausgehend vom amerikanischen Englisch, sind im Französischen, Spanischen, Russischen, Japanischen, Chinesischen, aber eben auch im Deutschen, Kräfte am Werk, die die für alle verbindliche Standardsprache aufbrechen wollen. Leider sind auch Schriftsteller darunter, die ›Meister der Sprache‹. Über ihre Sprachfehler hat bereits Heinrich Heines Zeitgenosse Ludwig Börne Mitte des 19. Jahrhunderts so geurteilt:
»Vielleicht kommt es daher, weil sie sich keine Mühe geben…Man glaubt gewöhnlich, jedes Kunsttalent müsse angeboren sein. Dieses ist aber nur in beschränktem Sinne wahr, und gibt es ein Talent, das durch Fleiß ausgebildet werden kann, so ist es das des Stils. Man nehme sich nur vor, nicht alles gleich niederzuschreiben, wie es einem in den Kopf gekommen, und nicht alles gleich drucken zu lassen, wie man es niedergeschrieben.«
Hielten sich alle der Schrift Mächtigen in der Literatur, der Presse, der Politik, im öffentlichen Raum wie auch in der Familie an Börnes Empfehlung, brauchte einem um die Zukunft der deutschen Sprache nicht bange zu sein.