von Lutz Götze

Die Mühen der Gebirge liegen hinter uns
Vor uns liegen die Mühen der Ebenen.......

Den Einen, im Westen, galt er als Staatsschriftsteller, als Propagandist des kommunistischen Ostens. Schlimmer noch, ein weiland deutscher Außenminister mit Namen Heinrich von Brentano verglich Brecht mit dem Nazibarden Horst Wessel. Im anderen, dem östlichen Teil des getrennten Vaterlandes begegneten ihm Kulturfunktionäre und Teile des Machtapparates mit Misstrauen und legten ihm Steine in den Weg, wo immer sie konnten.

Gleichwohl bemächtigten sie sich, zumal nach Brechts frühem Tod im Jahre 1956, des Dichters Ruhm und missbrauchten ihn für ihre Zwecke.

Alles schien für dieses doppelte Zerrbild – hier ›Staatsdichter‹, dort ›unsicherer Kantonist‹ – bereitzustehen. Im Exil, in den Vereinigten Staaten von Amerika, wurde er vor dem Ausschuss für unamerikanische Aktivitäten des Kommunismus verdächtigt, also zu Mc Carthys Zeiten gewissenmaßen der Todsünde, 1955 erhielt er in Moskau den Stalin-Friedenspreis, 1948 war er in die sowjetisch besetzte Zone Deutschland, in die nachmalige Deutsche Demokratische Republik, eingereist: also für viele in Deutschlands Westen logischerweise ein kommunistischer Staatsdichter, der obendrein den 17. Juni 1953 – Arbeiteraufstand in der DDR – begrüßt hatte.
Auf der anderen Seite – in der DDR – nahm die Staatsführung Bert Brecht übel, dass er das Exil, nach kurzer Durchreise durch die Sowjetunion, in den Vereinigten Staaten verbracht, genauer: durchlitten hatte, dass er 1948 für sich und Helene Weigel die österreichische Staatsbürgerschaft beantragt und erhalten hatte und somit ›Doppelstaatler‹ war, auch niemals SED-Mitglied. Dass er weiterhin – gemeinsam mit Paul Dessau – die Oper Das Verhör des Lukullus verfasst hatte, der Parteikritiker Pazifismus vorwarfen, dass er Johann Faustus, die Oper von Hanns Eisler, verteidigte, an der man ihren ›Formalismus‹ kritisierte, und dass er schließlich nach Paris zu Jean Vilar und nach Mailand zu Giorgio Strehler reiste, um dem »stinkenden Atem der Provinz« zu entkommen. Für die Kulturfunktionäre Fritz Erpenbeck, Alfred Kurella und den Stasi-Informanten Alexander Abusch, Nachfolger Johannes R. Bechers als DDR-Kulturminister, vor allem aber für Walter Ulbricht, galt Brecht als einer, dem man nicht vertrauen könne. Schließlich hatte er es selbst so formuliert.
Diese Bilder geistern seit den 50-er Jahren durch Presse und pseudo-wissenschaftliche Darstellungen, häufig allzu pauschal. Es ist an der Zeit, das Brecht-Bild zu entschlacken und zu differenzieren.
Zunächst Passagen aus Brechts großem Gedicht An die Nachgeborenen aus dem Svendborger Exil des Jahres 1938:

1
Wirklich, ich lebe in finsteren Zeiten!

Das arglose Wort ist töricht. Eine glatte Stirn
Deutet auf Unempfindlichkeit hin. Der Lachende
Hat die furchtbare Nachricht
Nur noch nicht empfangen.

Was sind das für Zeiten, wo
Ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist
Weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt!
Der dort ruhig über die Straße geht
Ist wohl nicht mehr erreichbar für seine Freunde
Die in Not sind?

Es ist wahr: ich verdiene noch meinen Unterhalt
Aber glaubt mir: das ist nur ein Zufall. Nichts
Von dem, was ich tue, berechtigt mich dazu, mich satt zu essen.
Zufällig bin ich verschont. (Wenn mein Glück aussetzt
Bin ich verloren.)

Man sagt mir: iß und trink du! Sei froh, daß du hast!
Aber wie kann ich essen und trinken, wenn
Ich es dem Hungernden entreiße, was ich esse, und
Mein Glas Wasser einem Verdurstenden fehlt?
Und doch esse und trinke ich. (.....)


3
Ihr, die ihr auftauchen werdet aus der Flut
In der wir untergegangen sind
Gedenkt
Wenn ihr von unseren Schwächen sprecht
Auch der finsteren Zeit
Der ihr entronnen seid.

Gingen wir doch, öfter als die Schuhe die Länder wechselnd
Durch die Kriege der Klassen, verzweifelt
Wenn da nur Unrecht war und keine Empörung.

Dabei wissen wir ja:
Auch der Haß gegen die Niedrigkeit
Verzerrt die Züge.
Auch der Zorn über das Unrecht
Macht die Stimme heiser. Ach, wir
Die wir den Boden bereiten wollten für Freundlichkeit
Konnten selber nicht freundlich sein.

Ihr aber, wenn es soweit sein wird
Daß der Mensch dem Menschen ein Helfer ist
Gedenkt unserer
Mit Nachsicht.


Ein Dokument der Resignation, wie so häufig bei Brecht in den Jahren der Emigration. Brecht bittet die Nachgeborenen, also uns, sie mögen seiner und der anderen vor den Nazis Geflohenen mit Nachsicht gedenken, nicht übereilt urteilen oder gar den Stab über sie brechen. Er ahnte, es werde auch nach dem Ende des faschistischen Regimes und seiner Rückkehr nach Deutschland zu überleben nicht leicht sein. Passend dazu heißt es im Gedicht Wahrnehmung aus dem Jahre 1949:

Als ich wiederkehrte
War mein Haar noch nicht grau
Da war ich froh

Die Mühen der Gebirge liegen hinter uns
Vor uns liegen die Mühen der Ebenen.

Bert Brecht wusste ziemlich genau, worauf er sich einließ bei der Rückkehr nach Europa. Einen Tag nach dem Verhör vor dem Ausschuss für unamerikanische Aktivitäten in Washington am 30. Oktober 1947 – es war die Zeit der Mc Carthy-Ära – verließ er die USA und traf Anna Seghers in Paris, die ihn vor Ostberlin und der sowjetisch besetzten Zone warnte: »ein Hexensabbat, wo es auch noch an Besenstielen fehlt.« Es herrschten, so die Dichterin, Indoktrination, Intrigen und Bespitzelung, alles andere als die von Brecht ersehnte künstlerische Freiheit. Für ihn war alsbald klar: »man muß eine residence außerhalb Deutschlands haben«.
Doch wo?
Am 5. November 1947 kommt er in Zürich an, verfasst mit Carl Zuckmayer, Erich Kästner, Max Frisch und anderen Demokraten einen Anti-Kriegs-Aufruf. Max Frisch, Architekt im bürgerlichen Beruf, bietet an, ihm ein Haus zu bauen, woraus nichts wird. Brecht inszeniert Herr Puntila und sein Knecht am Zürcher Schauspielhaus, die Weigel steht endlich wieder in Brechts Adoption der Antigone des Sophokles auf der Bühne: Die Aufführung in Chur wird ein großer Erfolg, obwohl die Schauspielerin eigentlich zu alt für die Rolle ist. Doch die Schweiz verweigert ihm am 24. Mai 1948 die Verlängerung seines Identitätsausweises: »Aus politisch-polizeilichen Gründen sind wir interessiert, daß Brecht so bald als möglich die Schweiz verlassen muß, und bitten Sie deshalb, demselben keinen Ausweis auszustellen«, heißt es im Schreiben an die Berner Polizeiabteilung.
Ähnliches wiederholt sich in Westdeutschland. Trotz Peter Suhrkamps Bemühungen sowie Versuchen der Münchner Kammerspiele, Brecht als Mitarbeiter zu gewinnen, entscheidet US-Außenminister Edward Stettinius, Brecht samt Familie kein Einreisevisum in die amerikanische Zone zu gewähren.
Brecht ist erneut Flüchtling: ohne Pass und ohne Rechte!

Also reisen er und Helene Weigel, zunächst probeweise, im Oktober 1948 über Österreich und Prag nach Ostberlin; Alexander Dymschitz, der sowjetische Kulturbeauftragte, und Johannes R. Becher, Freund aus Münchner Tagen der 20-er Jahre und späterer DDR-Kulturminister, hatten ihn gedrängt zu kommen, auch mit dem Versprechen eines eigenen Theaters, um seine »Versuche« zu »Stücken« zu machen. Brecht bleibt vier Monate, entwickelt Theaterprojekte, erhält leidlich gute Arbeitsbedingungen und schafft, zusammen mit Erich Engel, eine erfolgreiche Premiere der Mutter Courage und ihre Kinder, erfährt Kollegenunterstützung, aber eben auch Neid, Skepsis und politische Ablehnung keineswegs nur durch die »Gruppe Ulbricht«, vor allem dessen Mitglied Fritz Erpenbeck, einer der einflussreichsten Kulturpolitiker, sondern auch von Alfred Kurella und Alexander Abusch.
Im Februar 1949 reist Brecht nach Zürich zurück; die Weigel bleibt in Ostberlin, um die Theaterarbeit vorzubereiten. Doch in der Schweiz kann er nicht bleiben. Da kommt ein Angebot des österreichischen Komponisten Gottfried von Einem sehr gelegen: Er will, zusammen mit Brecht und in Analogie zum Dichter-Regisseur-Paar der 20-er Jahre Hugo von Hofmannsthal und Max Reinhardt, die Salzburger Festspiele nach der braunen Pest wieder zum Leben erwecken. Brecht solle ein Festspiel schreiben, das den Jedermann ersetzen solle. In Parenthese: Darauf wartet die Welt noch heute!.
Brecht will, gewissermaßen als Äquivalent, einen Pass und beantragt die österreichische Staatsbürgerschaft – immerhin ist Helene Weigel Wienerin. Am 28. März 1950 erhält das Ehepaar Brecht-Weigel das Gewünschte; in der DDR galt er seither als ›Doppelstaatler‹. Zugleich vergibt Brecht seine Rechte an den Suhrkamp-Verlag, der fortan, zusammen mit dem Aufbau-Verlag Berlin und Weimar, Brechts Schriften ediert. Das Projekt »Wiedererweckung der Salzburger Festspiele« scheitert übrigens am geharnischten Protest Wiener und Salzburger Konservativer, die keinen Kommunisten an der Salzach sehen wollen.
Brecht sitzt nun zwar zwischen allen Stühlen, aber er hat zweierlei in den Händen: einen Pass, mit dem er jederzeit reisen kann, und Devisen, um Reisen und Sonstiges zu finanzieren.
Am 30. Mai 1949 treffen Brecht und Tochter Barbara endgültig in Berlin ein. Das Haus in Weißensee betrachtet er als vorläufiges Domizil.

Das neue Haus

Zurückgekehrt nach fünfzehnjährigem Exil
Bin ich eingezogen in ein schönes Haus.
Meine No-Masken und mein Rollbild, den Zweifler zeigend
Habe ich aufgehängt hier. Fahrend durch die Trümmer
Werde ich täglich an die Privilegien erinnert
Die mir dies Haus verschafften. Ich hoffe
Es macht mich nicht geduldig mit den Löchern
In denen so viele Tausende sitzen. Immer noch
Liegt auf dem Schrank mit den Manuskripten
Mein Koffer.


Brechts Wirken in der Deutschen Demokratischen Republik

Bertolt Brecht wollte von Anfang an seine Theaterarbeit mit ganzer Kraft vorantreiben, also »Berlin wieder zum Kulturzentrum Deutschlands« machen. Sein Theaterprojekt umfasste eigene Versuche (Leben des Galilei, Arturo Ui, Der Kaukasische Kreidekreis u.a.), dazu Stücke von Maxim Gorki (Wassa Schelesnowa), Federico Garcia Lorca und Sean O´Casey: Modellaufführungen mit dem Ziel, eine neue realistische Spielweise zu präsentieren. Mithin: es galt, eine Auseinandersetzung mit der herrschenden Stanislawski-Tradition zu führen. Zu schaffen war ein ›episches‹, später auch ›dialektisch‹ genanntes Theater. Weitere Aspekte der Theaterarbeit waren die Berücksichtigung von Stücken des sowjetischen Theaters sowie Kindertheaterstücke. Angeschlossen sollte das Projekt an das Deutsche Theater unter Intendant Wolfgang Langhoff sein, bei welchem Brecht und sein Berliner Ensemble vorerst Untermieter waren. Das konnte auf die Dauer nicht gut gehen.

Bereits die erste Reaktion der ostberliner Kultusbürokratie war niederschmetternd: Das Projekt sei »undurchführbar«. Brecht notierte im Arbeitsjournal nach dem Treffen mit der Behörde: »Der Herr Oberbürgermeister sagte mir weder Guten Tag noch Adieu, sprach mich nicht einmal an...... Ich spüre den erstickenden Atem in dieser zerstörten, aber großen Stadt... Die Ruinen schienen schon wieder aufgeteilt, in den Bombentrichtern hatte die Selbstzufriedenheit sich häuslich eingerichtet.«
Bald darauf aber wurde es noch schlimmer: Die Ablehnung Brechts durch die Staatsführung war grundsätzlicher Art. Brechts Betonung eines epischen Theaters sowie seine Ablehnung der Theaterpädagogik Stanislawskis stießen bei Kulturkritikern wie Politikern bis hinauf zu Walter Ulbricht auf schroffe Ablehnung. Brechts Dreigroschenoper galt als »lumpenproletarische« Apotheose, der jeglicher Klassenstandpunkt fehle, »ebenso das dringend erforderliche Vorbildhafte der Bühnenfiguren« etwa in der Mutter Courage und ihre Kinder. Brechts Diktum, die Courage begreife nichts über die Schrecken des Krieges, damit der Zuschauer es umso besser verstehe - Kernaspekt eines dialektischen Theaters -, wurde als realitätsfern und akademische Spielerei abgetan. Brechts Versuch, Dialektik auf die Bühne zu bringen, um den »denkenden Zuschauer« zu formen, musste zwangsweise angesichts solcher Vorbehalte scheitern. Freunde wie Erich Engel, Ernst Busch, Herbert Ihering, Hanns Eisler, Walter Felsenstein, Wolfgang Harich und Hans Mayer, ebenso Alexander Dymschitz, der hochgebildete sowjetische Kulturoffizier, versuchten ihm beizustehen. Brecht brauchte ein eigenes Theater, um seine Ideen Wirklichkeit werden zu lassen.

Die Premiere von Mutter Courage und ihre Kinder im Januar 1949 auf der Bühne des Deutschen Theaters wurde trotz aller Behinderungen ein Riesenerfolg. Die Front der Gegner schien zu bröckeln angesichts der Begeisterung des Publikums, doch sie verstummte keineswegs. Einer der Gegner der ersten Stunde, Fritz Erpenbeck, schrieb am 18.Januar 1949, Brecht verliere sich »trotz fortschrittlichen Wollens und höchsten formalen Könnens.......in eine volksfremde Dekadenz«. Ein vernichtendes Urteil!
Die Courage blieb kein Einzelfall. 1951 sollte an der Staatsoper Unter den Linden Brechts Verhör des Lukullus mit der Musik von Paul Dessau aufgeführt werden. Bereits während der Proben gab es Störaktionen; im März 1951 beschloss das Zentralkomitee der SED die vorläufige Absetzung der Oper vom Spielplan. Passend dazu eine Stimme aus dem Parteimilieu: »Die Musik der Oper Das Verhör des Lukullus ist ein Beispiel des Formalismus. Sie ist meist unharmonisch, mit vielen Schlagzeugen ausgestattet, und erzeugt ebenfalls Verwirrung des Geschmackes.« Das Publikumsinteresse war gleichwohl enorm, eine Probeaufführung unter Hermann Scherchen geriet zum Riesenerfolg. Beide, Brecht und Dessau, veränderten jetzt, auf Druck der Staatsführung, die Oper zu einem »musikalischen Schauspiel«, genannt »Die Verurteilung des Lukullus«. Der Vorwurf des Pazifismus und Formalismus schien entkräftet; die derart geglättete Oper durfte endlich aufgeführt werden.
Ähnliche Debatten und Verhinderungen gab es bei Hanns Eislers Opernlibretto Johann Faustus und bei einer Barlach-Ausstellung. Peter Huchel, damals noch Chefredakteur der wichtigsten Literaturzeitschrift Sinn und Form, hatte den Text D. Faustus in seinem Blatt abgedruckt und sich dafür heftige Kritik seitens der SED eingehandelt: Ein Anti-Held gehöre nicht auf eine sozialistische Bühne! Alexander Abusch verstieg sich im Sonntag zu der Behauptung, Faust sei ein Renegat der deutschen Literatur. In einer Sitzung der Akademie der Schönen Künste bezeichnete Brecht Abuschs Artikel als »Geschmier«, wohingegen Eislers Dichtung ein großes Kunstwerk sei. Brecht forderte Abuschs Rücktritt vom Amt des Sekretärs der Sektion Dichtkunst der Akademie.
Am 11. Juli 1953 spottete Brecht in einem Gedicht über die »Kunstkommission«:

Nicht feststellbare Fehler der Kunstkommission

Geladen zu einer Sitzung der Akademie der Künste
Zollten die höchsten Beamten der Kunstkommission
Dem schönen Brauch, sich einiger Fehler zu zeihen
Ihren Tribut und murmelten, auch sie
Zeihten sich einiger Fehler. Befragt
Welcher Fehler, freilich konnten sie sich
An bestimmte Fehler durchaus nicht erinnern. Alles, was
Ihnen des Gremium vorwarf, war
Gerade nicht ein Fehler gewesen, denn unterdrückt
Hatte die Kunstkommission nur Wertloses, eigentlich auch
Dies nicht unterdrückt, sondern nur nicht gefördert.
Trotz eifrigsten Nachdenkens
Konnten sie sich nicht bestimmter Fehler erinnern, jedoch
Bestanden sie heftig darauf
Fehler gemacht zu haben - wie es der Brauch ist.


Der Höhepunkt der Mühen der Ebenen – Intrige, Engstirnigkeit, moralisches Spießertum, Zensur, Druck- und Aufführungsverbot, in einem Worte Brechts:»Murxismus« – ist am Arbeiteraufstand vom 16./17. Juni 1953 erreicht. Brecht samt Mitarbeitern probiert Katzgraben von Erwin Strittmatter, jene dramatische Darstellung der Bodenreform in der DDR in jambischer Form, als ihn die Nachricht vom Aufstand erreicht. Eine Mitarbeiterversammlung wird einberufen. Brecht schreibt anschließend mehrere Ergebenheitsadressen an die Staatsführung der DDR, was unmittelbar darauf in Westdeutschland zum Boykott von Brecht-Stücken führt. Im Brief an Walter Ulbricht heißt es: »Die Geschichte wird der revolutionären Ungeduld der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands ihren Respekt zollen. – Die große Aussprache mit den Massen über das Tempo des sozialistischen Aufbaus wird zu einer Sichtung und zu einer Sicherung der sozialistischen Errungenschaften führen. – Es ist mir ein Bedürfnis, Ihnen in diesem Augenblick meine Verbundenheit mit der Sozialistischen Einheitspartei auszudrücken.«
Beim Nachdenken im Landhaus zu Buckow über sein Verhalten aber wird ihm deutlich, dass nicht nur die Arbeiterklasse »durch Richtungslosigkeit und jämmerliche Hilflosigkeit« gepägt sei und sich vom RIAS habe aufhetzen lassen, sondern dass sich die neue Staatsführung wie ein »Naziapparat« verhalte: »Ein solcher Apparat kann durch Kontrollen von oben nicht mit neuem Geist erfüllt werden; er benötigt Kontrolle von unten. Unüberzeugt, aber feige, feindlich, aber sich duckend, begannen verknöcherte Beamte wieder gegen die Bevölkerung zu regieren.« Dem Sekretär des Schriftstellerverbandes Kurt Barthel (KuBa) antwortet Brecht mit einem ironischen Gedicht auf dessen Aufforderung, das Volk müsse nunmehr, nach dem »Putsch«, das Vertrauen der Regierung zurückgewinnen. Es heißt:

Die Lösung

Nach dem Aufstand des 17. Juni
Ließ der Sekretär des Schriftstellerverbands
In der Stalinallee Flugblätter verteilen
Auf denen zu lesen war, daß das Volk
Das Vertrauen der Regierung verscherzt habe
Und es nur durch doppelte Arbeit
Zurückerobern könne. Wäre es da
Nicht doch einfacher, die Regierung
Löste das Volk auf und
Wählte ein anderes?


Das Gedicht ist Teil der Buckower Elegien und durfte, ähnlich wie Brechts letztes Stück Turandot oder der Kongreß der Weißwäscher, zu Brechts Lebzeiten und auch Jahre danach in der DDR nicht veröffentlicht werden.
Deutlicher noch wird der Dichter im Bekenntnis seiner Mitschuld an den Missständen des DDR-Regimes, dem er einst die Überwindung des wölfischen Kapitalismus zugetraut und das sich nun in einen Unrechtsstaat verwandelt hatte, in einer weiteren Buckower Elegie:

Böser Morgen

Die Silberpappel, eine ortsbekannte Schönheit
Heut eine alte Vettel. Der See
Eine Lache Abwaschwasser, nicht rühren!
Die Fuchsien unter dem Löwenmaul billig und eitel.
Warum?
Heut nacht im Traum sah ich Finger, auf mich deutend
Wie auf einen Aussätzigen. Sie waren zerarbeitet und
Sie waren gebrochen.
Unwissende! Schrie ich
Schuldbewusst.


An diesen Texten – Briefe an die Staatsführung einerseits und Buckower Elegien andererseits – scheiden sich die Geister. War Bertolt Brecht allzeit nur der Taktiker, der die fünfte der Schwierigkeiten beim Schreiben der Wahrheit – die List also – zu seinem Credo erklärt hatte, war er einfach nur feige, hatte er Angst vor einer Verhaftung, war es Überlebensstreben – oder was war das Motiv seines Verhaltens? Oder gab es nicht nur ein Motiv, sondern deren mehrere? Die Nachgeborenen sollten sich auf jeden Fall vor allzu schneller Verurteilung hüten! Gleichwohl erlaube ich mir als jemand, der jene Zeit miterlebt und, einige Jahre später, darüber an der alma mater Lipsiensis debattiert hat, zu sagen, ich hätte mir mehr Widerstand, mehr Protest seitens Brechts gewünscht. Er war ein international bekannter und geachteter Autor – weit mehr als in der DDR selbst. Man hätte ihn nicht verhaften, ihm allenfalls die »Werkzeuge zeigen« können, wie es im Leben des Galilei heißt. Die Selbstanklage des großen Physikers in der 14. Szene des Bühnenstückes trifft im Grunde den Stückeschreiber selbst:
»Ich hatte als Wissenschaftler eine einzigartige Möglichkeit. In meiner Zeit erreichte die Astronomie die Marktplätze. Unter diesen ganz besonderen Umständen hätte die Standhaftigkeit eines Mannes große Erschütterungen hervorrufen können.«
Vom Spießertum, von der Borniertheit der Funktionäre und von den Intrigen gegen ihn schockiert, resignierte er und zog sich in den ihm noch verbleibenden drei Jahren zunehmend nach Buckow zurück. Im Epitaph für Majakowski schreibt er:

Den Haien entrann ich
Die Tiger erlegte ich
Aufgefressen wurde ich
Von den Wanzen.


Während sein Ruhm in Westeuropa wächst und das Berliner Ensemble bei seinem Gastspiel in Paris – im Gegensatz zu jenem in Moskau – umjubelt wird, gerät Brecht in der DDR immer stärker in die Isolation. Gleichwohl gelingen große Inszenierungen, zumal im Theater am Schiffbauerdamm, in das Brecht endlich umziehen darf, nachdem es zuvor von der SED der Kasernierten Volkspolizei (!) als Spielstätte angeboten worden war. Zu den grandiosen Theatererfolgen der 50-Jahre gehören Leben des Galilei, Der Kaukasische Kreidekreis, Mutter Courage und ihre Kinder sowie Die Mutter (nach Maxim Gorki).
Doch dann ereignet sich Wundersames. Im Mai 1955 erhält der Stückeschreiber den Stalin-Friedenspreis in Moskau. Dass er der lediglich der zweite Kandidat war, nachdem Thomas Mann, der Ersterwählte, den Preis aus taktischen Gründen abgelehnt hatte, erfährt Brecht bis zu seinem Tode nicht. Nunmehr, gewissermaßen über Nacht, ist er auch in der DDR anerkannt, halten sich Wilhelm Girnus, Alfred Kurella und andere Gegner zurück. Brecht genießt die Privilegien eines Staatsdichters. Der Abstieg in den Ruhm beginnt.

Am 14. August 1956 stirbt Bertolt Brecht, gerade achtundfünfzigjährig. Wenige stehen an seinem Bett. Tochter Barbara hat uns seine letzten Worte überliefert: »Laßt mich in Ruhe.«
Die Erben haben sich freilich nicht an die Bitte gehalten. Ihre sture Haltung in Erbschaftsangelegenheiten und bei der Vergabe von Bühnenrechten hat Brechts Nachruhm schweren Schaden zugefügt.

Brecht-Rezeption in Westdeutschland

Die Reaktion der politischen und kulturpolitischen Eliten in den Westzonen und, nach 1949, in der Bundesrepublik Deutschland auf Brechts Werk und Wirken kann nicht anders denn als reaktionär-provinziell beschrieben werden. Für die konservativen Parteien war der Stückeschreiber ein kommunistischer Staatsdichter, der »Hofdichter von Pankows Gnaden«. Im Deutschen Bundestag – wir sprachen bereits davon – verglich ihn Außenminister Heinrich von Brentano mit dem Nazibarden Horst Wessel. In wissenschaftlichen Untersuchungen wurde zumeist sorgsam zwischen dem begabten »Dichter« und dem opportunistischen »Politiker« Brecht unterschieden. Brecht blieb daher letztlich nichts anderes übrig, als nach Ostberlin zu gehen, obwohl seine Bedenken groß waren.
Freunde versuchten ihm und seinem Werk zum Durchbruch zu verhelfen. Peter Suhrkamp bietet ihm seinen Verlag für die Werkveröffentlichungen an, mit den Münchner Kammerspielen gibt es erste Verhandlungen über Regiearbeiten, Harry Buckwitz in Frankfurt – ebenso wie Jean Vilar in Paris und Giorgio Strehler am Piccolo Teatro Mailand – wollen Brechts »Versuche« inszenieren, also zu »Stücken« machen.

Brechts Verhalten am 17. Juni 1953 – freilich werden im Westen nur die Ergebenheitsadressen an die DDR-Staatsführung bekannt – und die Verleihung des Stalin-Preises 1955 verschärfen die Situation. Buckwitz teilt ihm, nach Brechts Rückkehr aus Moskau, mit, dass das geplante Frankfurter Gastspiel des Kaukasischen Kreidekreises bei den Ruhrfestspielen Recklinghausen wohl scheitern werde, da der Veranstalter – immerhin der Deutsche Gewerkschaftsbund! – unter erheblichem politischen Druck stehe. Brecht ist empört und protestiert, verweist obendrein darauf, dass ihm der Preis für Verdienste um den Weltfrieden verliehen wurde – im Jahr zuvor übrigens an Charlie Chaplin –, und Buckwitz gelingt es schließlich doch noch, dass das Gastspiel Mitte Juni 1955 in Recklinghausen stattfindet. Der Preis wurde übrigens im folgenden Jahre, nach Chruschtschows Geheimrede über Stalins Verbrechen, in Lenin-Preis umbenannt.
Brechts Bild von Josef Stalin war ambivalent: Einerseits hasste und fürchtete er ihn, weshalb er auch als Land des Exils nicht – anders als Becher oder Bredel – die Sowjetunion wählte. Obendrein kommt Stalins Name in keiner seiner Dichtungen vor. Die Stalin´schen Prozesse verurteilte er. Andererseits sah er in Stalin den einzigen wirklichen Nazigegner, der fähig war, den deutschen Faschismus zu zerschlagen.

Diskriminierungen und Boykotte Brecht´scher Bühnenstücke in Westdeutschland setzen sich auch nach dem Tod des Stückeschreibers fort. Aufführungen der großen Stücke gibt es selten. Die Reaktionen von Politik und Wissenschaft schwanken zwischen Niederbrüllen, Totschweigen und Schönreden. Zu einer ernsthaften Auseinandersetzung mit dem großen lyrischen Werk kommt es kaum; eine Reflexion der Theorie eines epischen Theaters findet in Westdeutschland nicht statt. Auch die Äußerungen demokratischer Autoren im Westen dürften eher nicht zu einer sachlichen und profunden Auseinandersetzung mit Bert Brecht und seinem Werke beigetragen haben. So erklärte Friedrich Dürrenmatt: »Brecht denkt unerbittlich, weil er an vieles unerbittlich nicht denkt.« Max Frisch nennt Brechts Theater ein »Museum«. Günter Grass stellt den »Chef«, also Brecht, in den Mittelpunkt seines Stückes Die Plebejer proben den Aufstand und wirft ihm vor, mehr an sich und seinen Theaterstücken interessiert zu sein als am Arbeiteraufstand vom 17. Juni 1953. Helene Weigel verbietet daraufhin jegliche Aufführung von Brecht-Stücken an allen westdeutschen Theatern, an denen das Grass-Stück gespielt wird.
Die erste ernsthafte Auseinandersetzung mit Brechts Werk legte Ernst Schumacher – ein Bayer – 1953 mit seiner Dissertation Die dramatischen Versuche Bertolt Brechts 1918 bis 1933 bei Hans Mayer und Ernst Bloch am Leipziger Germanistischen Seminar vor, also in der DDR.

Die Szene in der Bundesrepublik ändert sich erst – ähnlich übrigens wie im Osten Deutschlands – in den 60-er Jahren. Brecht ist international nicht nur anerkannt, sondern, zusammen mit William Shakespeare, der mit Abstand meistgespielte Bühnenautor. Gerade in der sogenannten Dritten Welt – also in Afrika, Lateinamerika und Asien – wird er begeistert rezipiert und werden seine Aktualität und Poetizität, aber auch seine »Nützlichkeit« bei gesellschaftlichen Transformationsprozessen erkannt und gepriesen. Den jungen Menschen in Kamerun, Brasilien und Malaysia dienen Brechts Dichtungen als Wegweiser in ihrem politischen Kampf für Unabhängigkeit, Freiheit und die Macht der Vernunft. Brechts dialektisches Denken fasziniert und begeistert sie.
Diese Welle schlägt auch auf Deutschland zurück: Im Osten wie im Westen avancieren Brechts Stücke zum Ereignis, auch in Frankreich und England. Das Berliner Ensemble wird bei Gastspielen gefeiert. Manches an Inszenierungen, zumal im Ensemble selbst, gerät freilich zur Kanonisierung, verstärkt durch Ruth Berlaus Fotoreportagen der Regiearbeiten Brechts, später auch zur Erstarrung statt einer kreativen Weiterentwicklung, wie es Brecht immer von seinen Schülern gefordert hatte.
Bei der Trauerfeier zu Brechts Tod in den Münchner Kammerspielen hatte die große Mimin Therese Giehse das Lob des Kommunismus aus Brechts Gorki-Adaption Die Mutter vorgetragen – gerade war in Westdeutschland erneut die Kommunistische Partei verboten wurden und dabei erklärt: »Vom lebendigen Brecht wollten sie es nicht hören – vom toten müssen sie es hören, einfach, weil ich es vortrag! So schneidig sind sie doch alle miteinander nicht, daß sie aufstehen und sagen täten: Geh, leck mich doch......Etwas fehlt immer.«

Lob des Kommunismus

Er ist vernünftig, jeder versteht ihn. Er ist leicht.
Du bist doch kein Ausbeuter, du kannst ihn begreifen.
Er ist gut für dich, erkundige dich nach ihm.
Die Dummköpfe nennen ihn dumm, und die Schmutzigen
nennen ihn schmutzig.
Er ist gegen den Schmutz und gegen die Dummheit.
Die Ausbeuter nennen ihn ein Verbrechen.
Aber wir wissen:
Er ist keine Tollheit, sondern
Das Ende der Tollheit.
Er ist nicht das Rätsel
Sondern die Lösung.
Er ist das Einfache
Das schwer zu machen ist.


Bertolt Brecht wird seine Kritiker und Neider überleben. Warum? Ganz einfach: Weil er ein großer Dichter ist, vor allem ein eminenter Lyriker. Sein Ruhm freilich verbreitete sich nicht zu Lebzeiten, sondern erst nach dem Tode: eine Systemkonformität in Ost- und Westdeutschland getreu dem bitteren Spruch: »Nur ein toter Dichter ist ein guter Dichter.« Oder ein Beweis, dass es letztlich die Kultur ist, die ein geteiltes Land zusammenhält.

Literatur:
Hecht, Werner (2007): Brechts Leben in schwierigen Zeiten. Frankfurt/Main.
Hecht, Werner (2007): Brecht Chronik 1896-1956. Ergänzungen. Frankfurt/Main.
Kebir, Sabine (2000): Abstieg in den Ruhm. Helene Weigel. Eine Biographie. Berlin.
Schumacher, Ernst (2006): Mein Brecht. Erinnerungen. Berlin.

 

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