von Max Ludwig

1.

Im Schauspiel Hannover läuft gerade die Faust-Bearbeitung Goethes Faust – allerdings mit anderem Text und auch anderer Melodie von Barbara Bürk und Clemens Sienknecht. Es lohnt sich diese Inszenierung anzusehen – nicht, um den Faust kennenzulernen, sondern weil diese Adaptation Auskunft über den Zustand unserer Kultur gibt. Und weil sie, wenn man sich darauf einlässt, wirklich unterhaltsam ist. Schauen wir uns beide Aspekte an.

Wir müssen uns eingestehen, dass das Abendland untergegangen ist. Nicht während des Dritten Reichs, wie Adorno es in seinem Aufsatz Spengler nach dem Untergang feststellen zu können glaubte, sondern ganz langsam, beginnend mit dem Atheismusprogramm der französischen und britischen Aufklärung und kulminierend in postmodernem Nihilismus, Selbsthass und kultureller Entdifferenzierung, die uns nun im ganzen Westen umgeben.

Aber was war es denn, das Abendland? Und was hat das mit einer neuen Faust-Adaptation zu tun?

Das Abendland war ein geographisch-zeitliches Kontinuum, das sich von der klassisch-griechischen Zivilisation vom 7. vorchristlichen Jahrhundert ausgehend über das ganze Mittelmeer ausbreitete und bis zum 20. Jahrhundert Europa von der Triest-Petersburg-Linie bis zum Atlantik inklusive der Britischen Inseln umfasste. Es durchlebte viele Brüche und Einflüsse anderer Kulturen, aber im Wesentlichen entwickelte sich hier die Neuzeit, die zur Moderne und zur weltweiten Dominanz einer Teilmenge der abendländischen Kultur führte.

In ihrer vollen Ausprägung umfasste unsere neuzeitlich-abendländische Kultur die beiden wesentlichen nicht theokratischen monotheistischen Religionen, das Christentum und das Judentum, sowie den Humanismus und seinen Nebenzweig, die Hermetik, die heute im postmodernen esoterischen Transhumanismus kulturell wieder bedeutsam wird.

Durchdrungen war diese Kultur von der Metaphysik des Individuums und der Transzendenz ins Jenseits, dem Verhältnis des Einzelnen zum dreieinigen Gott oder dem einen Gott der Juden. Im 19. Jahrhundert setzte sich der Atheismus unter den intellektuellen Eliten durch, der Positivismus versuchte auf die klassische Metaphysik zu verzichten (was nicht ganz möglich ist, auch die Quantenphysik bedarf starker metaphysischer Annahmen). Bataille und Heidegger formulierten ab den 1920er Jahren eine radikale Ablehnung der abendländischen Metaphysik. Beide fanden aber keinen adäquaten Ersatz dafür; ihr Denken mündete in chiliastischen Nihilismus und radikale Gewaltverherrlichung. Doch die von ihnen initiierte Bewegung, die kulturmarxistisch-hedonistische Postmoderne, nahm Schwung auf und wrackte das Abendland mit seiner Metaphysik und Transzendenz ab.

Wie der Umgang mit Goethe zeigt, ist dieser Prozess nun abgeschlossen.

2.

Goethes Werk Faust. Eine Tragödie, das der Adaptation von Bürk und Sienknecht zugrunde liegt, ist ein Großgedicht mit verteilten Rollen, das, durch und durch abendländisch, zahlreiche der klassischen metaphysischen und transzendenten Themen abarbeitet. Goethe behandelt die vergebliche Suche des Menschen nach Erkenntnis, das Verhältnis von Glauben und Wissen, Gut und Böse, Gott und Teufel, Liebe und Verzweiflung, Lebenslust und Sünde, Sexualität und Schuld, um nur einige zu nennen.

Solange das Abendland und seine Endausläufer noch Bestand hatten, wurde der Faust textgerecht aufgeführt. Wegen der Charakteristika des Textes, der von Inhalten und Fragestellungen strotzt, aber anders als die Schiller-Dramen über keinen mitreißenden dramatischen Bogen verfügt, sondern sich eher anhand der Gedankenmotive Goethes dichterisch fortschreibt als packend eine Handlung durchläuft, kann es eigentlich keine gelungenen Aufführungen auf der Bühne geben. Doch wurde in der Aufführungspraxis der Text bis vor 25 Jahren noch vollständig oder nur mit wenigen Kürzungen verwendet. So in der berühmten Berliner Doppelinszenierung beider Faust-Teile von Peter Stein (2000).

Diese vielleicht letzte ernsthafte bedeutende Inszenierung war durchgehend modernistisch, aber sie versuchte dem Text und seinen Fragen gerecht zu werden und war mit einer beeindruckenden Auswahl der besten deutschsprachigen Schauspielern der damaligen Zeit besetzt, allesamt abendländisch ausgebildet und geprägt.

Seit dem Aufkommen des Regietheaters in den 1970er Jahren hatte es aber immer mehr Inszenierungen gegeben, die Goethes Fragestellungen ironisierten oder verflachten. Je mehr sich Postmoderne und Dekonstruktivismus durchsetzten und die Abwrackung des Abendlandes mit dem Ersatz von Metaphysik und Transzendenz durch Hedonismus, Massenkultur, Kollektivismus und Esoterik voranschritt, desto flacher wurden die Aufführungen; Faust bekam Spastiken oder epileptische Anfälle, spritzte sich Heroin, defäzierte in einen Eimer oder entblößte sich auf der Bühne. Dadurch sollte diese hochkomplexe Figur, die das abendländische Ringen verkörpert, wissen will, was »die Welt / Im Innersten zusammenhält« (wir wissen es dank Quantenfeldtheorie weniger denn je) und mit dem Teufel paktiert, modernisiert und dem heutigen Publikum verständlicher gemacht werden – oder was auch immer. Jedenfalls hat es nie funktioniert und Stein verzichtete auf solchen Schwachsinn.

3.

Gemessen an dieser Entwicklung zur Verflachung und Entkernung dürfte die hier besprochene Adaptation einen Tiefpunkt der Goethe-Rezeption auf dem Theater darstellen. Sie ist allerdings eine witzige und gut gemachte Faust-Revue, in der man sich köstlich amüsieren kann, sobald man auf die Erwartung verzichtet, der Substanz des Dramas zu begegnen, in dem ein Gelehrter unter dem Einfluss des Teufels und mit seiner Hilfe das Gretchen verführt und schwängert, dessen Mutter und Bruder ermordet und es dazu treibt, das aus der Verbindung entstandene uneheliche Kind zu ertränken und Gretchen dadurch in den Tod durch den Strang treibt.

Die Rahmenhandlung der Revue steuert ein fiktiver provinzieller Goethe-Verein bei, was wohl vermitteln soll, wie jämmerlich und hoffnungslos spießig es ist, Goethe heute noch ernst zu nehmen. Das gibt dem urbanen Publikum ein befriedigendes Gefühl abgeklärter Überlegenheit. Die Vereinsmitglieder nehmen die Hauptrollen des Dramas ein. Wie in einem Musical werden kurze wesentliche Textpassagen aus dem Drama in Moderationsabschnitte des Vereinsvorstands und Musical-Einlagen eingebettet, die die Inszenierung dominieren. Beispielsweise ertönt nach der Gretchen-Frage ›Think‹ von Aretha Franklin. Das ist witzig, und wenn man sich auf die Revue / Musical-Idee einlässt, kann man den Abend wirklich genießen.

Unter den insgesamt ordentlichen Darstellern erstklassig ist nur Max Landgrebe als Faust. Er spielt alle Aspekte dieser Revue von der ernsthaften Darstellung des Fausts bis zum akrobatischen Slapstick souverän, singt wunderbar und spielt auch noch sehr solide Cello.

Seine schwarze Kollegin Anja Herden, die sich im mittlerweile klassischen Schizo-Verfahren die Gretchen-Rolle mit zwei blassen weißen Mitdarstellerinnen teilt, hat eine starke Bühnenpräsenz und singt im Solo sehr gut, wenngleich ihre Sprechstimme keinen guten Sitz hat. Selbstverständlich werden immer wieder Rollen gegengeschlechtlich besetzt, denn wir sind ja postmodern-kollektivistisch und gender-fluide. Erwartungsgemäß kostet die wie alle anderen Schlüsselszenen nur angedeutete Blocksbergszene die sich damit ergebenden Möglichkeiten aus.

Der Musicalanteil ist fast durchgehend anglophoner Pop, wie auch bei den Sprechpassagen synchron fast immer ein musikalischer Klangteppich dargeboten wird. An einigen Stellen eingeflochtenes deutsches Kulturgut wie der König von Thule wird nur eingesetzt, um gnadenlos ironisiert und gebrochen zu werden, allerdings musikalisch originell und auf hohem Niveau. Es gibt auch ein Publikums-Quiz und immer wieder Faust!-Jingles. Die metaphysischen und transzendenten Fragen, die Goethe stellt und bearbeitet, gehen im Popmusical unter oder werden wegironisiert.

4.

Wir sehen: Vom Abendland sind derzeit öffentlich nur noch Kapitalismus, Technologie, Bürokratie und Hedonismus mit strukturell entkernten Resten der tradierten Hochkultur geblieben. Die Produktion wirkt wie ein Thermometer, das diese deutsche (und auch allgemein westliche) Kulturmentalität erfasst. Wir sehen, dass Faust nicht mehr ernst genommen werden und nur noch weit unter das noch sinnstiftende Minimum gekürzt in hedonistischen und flachen Popsound eingekleidet Bestand haben darf. Dem Publikum hat es sehr gefallen, und der Rezensent empfiehlt den Besuch uneingeschränkt. Wie gesagt: Man amüsiert sich gut und lernt viel über den Zustand unserer Kultur. Die sich auch wieder erholen kann, irgendwann endet jede hedonistisch-nihilistische Periode, wie Franz Brentano es in Die vier Phasen der Philosophie und ihr augenblicklicher Stand 1895 – er erkannte schon die Endphase – beschrieben hat. Und sei es, wie bei den Griechen, unter römischer Fremdherrschaft.