von Rainer Paris
Als Norddeutscher (Oldenburger) ist mir Wintersport fremd. Wir freuten uns als Kinder, wenn es im Winter manchmal Schnee gab und fuhren Schlitten. Das war’s. Trotzdem kann auch ich mich der Begeisterung vieler Wintersportler – sei es als Aktive auf den verschiedenen Leistungsniveaus oder als Zuschauer der spektakulären Veranstaltungen – nicht gänzlich entziehen. Warum?
Wer auf Skiern von einer hohen Schanze in ein tiefes Tal springt, muss eigentlich verrückt sein. Diejenigen, die es dennoch tun, ernten Applaus und Bewunderung. Sie meistern eine Gefahr, der sich die allermeisten nie aussetzen würden. Ja mehr noch: Sie tun dies aus freien Stücken und treten darüber hinaus mit anderen, die das ebenfalls tun, in einen harten Wettstreit.
Um das zu verstehen, ist ein Blick in die Sportgeschichte sinnvoll. So gab es im neunzehnten Jahrhundert bei der Entwicklung der leichtathletischen Disziplinen – den sogenannten cgs-Sportarten (Centimeter, Gramm, Sekunden) – anfangs durchaus Unklarheiten und Schwierigkeiten, wie sie im Einzelnen zu definieren und in Wettkampfsituationen umzusetzen seien. Der Turnvater Jahn sah zum Beispiel neben dem Hoch- und dem Weitsprung auch noch den Tiefsprung vor – es stellte sich freilich rasch heraus, dass eine solche Disziplin unter Rekordgesichtspunkten nicht sinnvoll zu betreiben war (Knochenbrüche).
Skisprung nun ist gewissermaßen nichts anderes als ein unter modernen Wintersportbedingungen organisierter ›Tiefsprung‹. Man springt einen standardisierten Hang (Schanze) hinunter, die ›Tiefe‹ wird allerdings in Weite gemessen, außerdem gibt es, anders als in der Leichtathletik, Haltungsnoten, die das Ergebnis der Sprungweite modifizieren. Auf diese Weise ist zugleich ein Wettbewerb zwischen verschiedenen Teilnehmern möglich, an dessen Ende eine (objektive) Leistungsrangfolge festgestellt werden kann.
Ermöglicht wird diese Art ›Tiefsprung‹ freilich nur dadurch, dass Skier und Schnee eine ›weiche‹ Landung gestatten. Kombiniert mit einem Höchstmaß an Körperbeherrschung, antrainierter Technik und Risikobereitschaft erfüllt der Skisprung so alle Anforderungen und Spannungsbalancen des modernen Sports, die für die Akteure und Zuschauer seine spezielle Faszination ausmachen: Primat der körperlichen Leistung und mentalen Kraft, Vergleichbarkeit, Ungewissheit des Ausgangs und Klarheit des Resultats. Und das alles als Indikator zivilisatorischen Fortschritts: ausgetragen als friedlicher Kampf (leider – wie bei vielen cgs-Sportarten – als serielles Nacheinander und nicht im direkten Gegeneinander).
Hinzu kommt beim Skisprung, zumindest für den Betrachter, noch etwas anderes. Es ist der vorgeführte Traum von Fliegen, sinnfällig etwa in der Metapher des Adlers. Magie des Fliegens plus Sport – das hat etwas.