von Klaus-Rüdiger Mai
Ich weiß, der Begriff der gebildeten Nation klingt bildungsbürgerlich, verstaubt und hoffnungslos gestrig, doch liegt in diesem Konzept genau die wichtigste Garantie dafür, dass weder Sie noch ich und erst recht nicht Ihre Kinder zu den Verlierern des Paradigmenwechsels werden, im Gegenteil, in der gebildeten Nation findet sich der Zauberstaub, der uns zu Gewinnern machen wird, wenn wir Freiheit, Demokratie, nationale Souveränität und europäische Verständigung als Konzert der Kulturen sichern, denn Deutschland hat nur einen einzigen bedeutenden Rohstoff, seine Bürger, und nur eine, wenn auch mächtige Ressource, die Bildung. Bildungspolitik ist Wirtschaftspolitik, ja die wichtigste wirtschaftspolitische Intervention. Wir werden Deutschlands Wohlstand als Wohlstand für alle Deutschen auch in Zukunft sichern und sogar mehren können, wenn wir den Wettbewerb bestimmen, wir wirtschaftlich besser sind. Verlieren wir im internationalen Wettbewerb – verlieren wir alles. Schneller und besser zu sein, das allein ist es, was Ihre und meine Zukunft sichert. Schneller und besser zu sein bedeutet, gebildeter zu sein, bedeutet, den wissenschaftlich-technischen Fortschritt voranzutreiben.
Das ist uns schon einmal gelungen – vor einhundert Jahren, als aus dem abwertenden und als Kaufwarnung gedachten Label Made in Germany ein Qualitätsgarant wurde. Deutsche Wissenschaftler gewannen Nobelpreise, deutsche Ingenieure bauten in der ganzen Welt begehrte Maschinen. Quell dieser Leistungen waren die deutschen Gymnasien, sowohl das humanistische als auch das Realgymnasium und die deutschen Universitäten, hinzu kam eine dynamische und innovationsfreudige Wirtschaft. Obwohl mich das Thema reizt, möchte ich es jetzt nicht vertiefen, aber Bildung ist nur in ihrer Gesamtheit wirksam. Werden, wie wir es gegenwärtig erleben, die Geisteswissenschaften verideologisiert, werden sie zensiert, werden sie zu Geschwätzwissenschaften, dann werden die Naturwissenschaften ihnen folgen, denn die Geisteswissenschaften tragen nicht nur zu unserer Identitätsbestimmung bei, sondern sie stellen vor allem eine Schule des Denkens, auch der Kreativität und des unkonventionellen Herangehens dar. Schlimmer als der Stand des BIPs ist Deutschlands Stand im PISA-Vergleich. Wir liegen nur in einer Position vorn, und zwar in Teamarbeit. Mich erschüttert das so sehr, dass ich die sarkastische Bemerkung nicht zu unterdrücken vermag: Wir wissen zwar nichts, aber darüber können wir ausgezeichnet reden.
Hochschullehrer klagen über die nachlassenden Kenntnisse und Fertigkeiten, mit denen Abiturienten an die Universitäten kommen. Eine Studie, die an der Frankfurter Universität erhoben wurde, belegt, dass Studenten die Fähigkeiten verlieren, andere Standpunkte als solche wahrzunehmen, und deshalb nicht mit Vorstellungen und Argumenten in Berührung kommen möchten, die dem eigenen zumeist linken oder linksliberalen Weltbild nicht entsprechen, und deshalb Verbote anderer Sichtweisen in Lehre und Forschung fordern. Erschwerend kommt hinzu, dass zu viele junge Menschen zur Universität drängen, obwohl ihnen die Fähigkeiten dazu fehlen, und das großartige duale System meiden. In der Tendenz zur Akademisierung wird die Weltferne linksliberaler Bildungsideen deutlich.
Welch tristen Stand trotz gegenteiliger Sonntagsreden Bildung hat, möchte ich an zwei Statements von Politikern zeigen. Während der Flüchtlingskrise, die auch in unverantwortlicher Weise das Bildungssystem belastete, kündigte der damalige Innenminister Thomas de Maizière an, dass man Standards im Bildungsbereich werde senken müssen. Seit Jahren predigen all jene, die gleichzeitig jede gesellschaftliche Veränderung oder Reform, wie beispielsweise die Agenda 2010, mit dem Argument der Globalisierung versehen, dass wir in einem scharfen Wettbewerb mit der ganzen Welt stehen. Das Zauberwort lautet: Wettbewerbsfähigkeit. Wahr ist, dass unsere Kinder sich mit den Kindern in der ganzen Welt in Konkurrenz befinden. Der Ökonom Thomas Piketty schreibt über die britischen Staatsschulden im 19. Jahrhundert: »Insgesamt mussten britische Steuerzahler in dieser Zeit mehr für Schuldzinsen aufbringen als für ihr gesamtes Bildungssystem. Die Entscheidung lag sicher im Interesse der Besitzer von Staatsanleihen, aber wohl kaum im Allgemeininteresse des Landes. Man kann sich des Gedankens nicht erwehren, dass der britische Bildungsrückstand das Seine zum Niedergang des Landes in den folgenden Jahrzehnten beigetragen hat.« Zur gleichen Zeit wurde in Deutschland das Bildungssystem weiter ausgebaut, was zu einem wirtschaftlichen Aufschwung und zu einer führenden Stellung der deutschen Universitäten im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert beitragen sollte.
Von dieser Entwicklung sind wir inzwischen weiter denn je entfernt. Wem das zu abstrakt ist, der stelle sich vor, wie schlecht ausgebildete Ingenieure Deutschlands Stellung auf dem Weltmarkt mit schlechten Produkten halten sollen oder wie sehr man sich die Behandlung durch einen schlecht ausgebildeten Arzt wünscht. Bildung sollte das wichtigste Thema einer Regierung sein, sie entscheidet über Wohlstand, Wettbewerbsfähigkeit, Zukunft und Lebensqualität. Stattdessen sieht die Präsidentin der Kultusministerkonferenz, Bremens Senatorin Claudia Bogedan, »(…) die Integration von Flüchtlingskindern als größte schulpolitische Herausforderung 2016.« Nicht in einem durchdachten Konzept zur längst überfälligen Verbesserung der Bildung, zur Anhebung der Bildungsstandards, das natürlich die Beschulung von Flüchtlingskindern mitbedenken muss, sieht die neue Präsidentin der Kultusministerkonferenz die »schulpolitische Herausforderung«, sondern in einer Veränderung des Bildungssystems, das auf die »Integration von Flüchtlingskindern« ausgerichtet zu werden scheint.
Integration wird so nicht gelingen, denn es stellt sich die Frage, worein integriert werden soll. Die Bremer Senatorin verkündet dementsprechend, dass wir in einer neuen Gesellschaft leben. Aus der fragwürdigen Behauptung wird die noch fragwürdigere Schlussfolgerung gezogen: »Das erfordert von der Schule eine ständige Anpassungsleistung.« Anpassen woran? An welches Weltbild? An welche Gesellschaft? Sehr selbstbewusst erklärt die Bremer Senatorin: »Gerade ein Land wie Bremen (kann) als gutes Beispiel wirken und zeigen, wie man zu einer gelungenen Integration beitragen kann.« Das gute Beispiel besteht allerdings darin, dass Bremens Schüler »bei Leistungsvergleichen meist Letzter (sind) – mit mehr als einem Jahr Rückstand in Deutsch und Mathe zu Spitzenreitern wie Sachsen und Bayern.«
An diesen Beispielen wird das Grundproblem deutscher Bildungspolitik deutlich, die nicht die Erfordernisse gesellschaftlicher Entwicklungen im Blick hat, sondern ideologische Vorstellungen, wie sie vor allem aus dem Fundus der Achtundsechziger und ihrer Nachfolger stammen, deren langer Marsch durch die Institutionen besonders im Bildungsbereich erfolgreich war. Eine Bildung, die nicht mehr Wissen, Neugier, Lust auf Wettbewerb und Leistung vermitteln will, sondern frei erfundene Kompetenzen zu stärken beabsichtigt, wird auf sich bezogene Menschen hervorbringen, die in der Hauptsache mit sich und ihrer großen Seele beschäftigt sind und sich beständig überfordert fühlen.
Es geht nicht um Kompetenzen, sondern um Wissen, um Können, um Lust auf den Wettbewerb. Nicht Teamarbeit, sondern die Arbeit und die Leistung des Einzelnen sind in den Mittelpunkt zu stellen, nur so lernt der Schüler, Verantwortung zu übernehmen, anstatt Verantwortung auf das Team zu verteilen, bis niemand mehr verantwortlich ist. Fächerübergreifendes Lernen führt sich selbst ad absurdum, wenn man die Schüler lehren will, über den Tellerrand zu schauen, wenn man ihnen nicht zuvor erläutert, was der Teller ist. Geschichte ist Chronologie, Chronologie, Chronologie, wer die Chronologie aus der Geschichte entfernt, entfernt die historischen Zusammenhänge. In Brandenburg kann es geschehen, dass Schüler von der Reformation zur Französischen Revolution springen, ohne je etwas vom Dreißigjährigen Krieg, vom Westfälischen Frieden oder von der Glourious Revolution gehört zu haben, dafür aber das Thema Migration behandeln, wobei die Hugenotten, die Heimatvertriebenen und Umsiedler von 1945/46 und Merkels Willkommenskultur von 2015 anachronistisch so behandelt werden, als sei das alles ein und dasselbe. Ich schließe hier die Beispiele, die eine ganz Bibliothek füllen würden, mit dem Fazit, dass das deutsche Bildungssystem bedauerlicherweise nicht nach den Bedürfnissen der Wirklichkeit, sondern der vornehmlich linksliberalen Ideologie ausgerichtet wird.
Deshalb bedarf es einer Bildungsreformation an Haupt und Gliedern, die als Hauptpunkte die Abschaffung der Kompetenzpädagogik zugunsten eines leistungsorientierten, einzelfächerbezogenen und den Methoden der einzelnen Fächer Rechnung tragenden Konzepts, das Leistung, Lust und Neugier, Eigenverantwortung und Wettbewerbsfähigkeit in den Mittelpunkt stellt, die Reduktion der Studentenzahlen und Stärkung des dualen Systems, die Reform der deutschen Universität unter Abwendung vom Irrweg der Master- und Bachelorausbildung und vor allem die Durchsetzung weltanschaulicher Neutralität in allen Bildungseinrichtungen beinhaltet. Diese Aufgabe ist, ich gebe es zu, herkulisch, weil sie die Brechung der Vorherrschaft der Linksliberalen voraussetzt. Sie wird deshalb so hart durchgekämpft werden müssen, weil in keinem anderen Fach die Konzepte so eng mit dem Menschen- und Gesellschaftsbild verbunden sind wie in der Pädagogik. Diese Reform wird im wahrsten Sinne einen Kulturkampf bedeuten, deshalb sprach ich von Reformation.
Auszug aus: Klaus-Rüdiger Mai, Die Zukunft gestalten wir! Wie wir den lähmenden Zeitgeist endlich überwinden, München (LMV) 2021, 197-201. Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Verlags.