von Gerd Held

Die VW-Krise ist erstmal aus den Schlagzeilen. Aber sie ist durch die im Dezember vereinbarten Sanierungsmaßnahmen nicht gelöst. Es ist der Glaube an die Kräfte eines »Kompromisses«, eines »Zusammenhaltens« in »Zuversicht«, der dazu führt, erstmal nicht tiefer in den Abgrund zu schauen, vor dem der größte deutsche Autobauer steht. Dabei kommt in der Krise von VW exemplarisch die Misere der deutschen Wirtschaft zum Ausdruck. Diese Misere liegt nicht daran, dass ein an sich wohlbegründeter Strukturwandel nur »verschlafen« wurde. Die deutsche Wirtschaft befindet sich nicht nur in einer Übergangskrise, bei der eigentlich feststeht, dass tatkräftige Unternehmen sie meistern können. Nein, der ganze Übergang ist fragwürdig geworden. Es gibt berechtigte Zweifel, ob die gesetzten »obersten Ziele« einer technologischen Neuerfindung des Automobils und einer weiteren Globalisierung der Unternehmens-Standorte überhaupt unternehmerisch vernünftig sind. Das aber würde bedeuten, dass die Krise der deutschen Wirtschaft in ihrem Kern eine existenzielle Unternehmenskrise ist, bei der es darum geht, ob in Zukunft überhaupt noch Unternehmen die tragenden Säulen der Volkswirtschaft sein werden.

Man könnte also erwarten, dass nun die Grundentscheidungen, die die Tätigkeit der Unternehmen belasten, überprüft und gegebenenfalls revidiert werden. Aber das passiert nicht. Die Krise ist an einem toten Punkt angelangt, wo einerseits noch ein Weiter-So praktiziert wird, und andererseits das Vertrauen in eine nachhaltige Überwindung der Krise Tag für Tag geringer wird. So herrscht eine merkwürdige Unentschiedenheit. Ist das eine persönliche Charakterschwäche der Verantwortlichen? Nein, eher ist es ein Fehlen klarer Kriterien, nach denen die Haltbarkeit oder Unhaltbarkeit des eingeschlagenen Kurses beurteilt werden kann. Die Krise ist also letztlich eine Krise des unternehmerischen Urteilsvermögens. Die deutsche Wirtschaftskrise ist – ohne dass man sich dessen schon recht gewahr geworden wäre – eine Krise der unternehmerischen Vernunft. Um sie muss die Auseinandersetzung geführt werden. Und dieser Kampf findet innerhalb der Unternehmen statt, wo die Signale unübersehbar sind, dass die selbst gesetzten Ziele sich außerhalb der Grenzen unternehmerischer Vernunft bewegen. Und sie findet zwischen den Unternehmen und den von außen gesetzten politisch-rechtlichen Rahmenbedingungen statt, die sichtlich die Anforderungen der unternehmerischen Vernunft missachten.

Deshalb ist die Krise von VW ein bedeutsames und schwerwiegendes Geschehen – sowohl für dies einmal so große und erfolgreiche Unternehmen, als auch für den Industriestandort Deutschland, dessen erfolgreiche Geschichte VW über Jahrzehnte mitgeschrieben hat.

Die VW-Krise ist nicht überwunden

Am 23. Dezember 2024 erschien im Wirtschaftsteil der Frankfurter Allgemeinen Zeitung ein ganzseitiges Interview mit dem VW-Vorstandsvorsitzenden Oliver Blume. Zu diesem Zeitpunkt war ein Abkommen mit der IG Metall und dem Betriebsrat über einen Personalabbau und Einsparungen bei Löhnen und Gehältern schon beschlossene Sache. Blume bezifferte die »nachhaltigen Kostenentlastungen« für die Volkswagen AG auf 15 Milliarden pro Jahr. Das bedeutet real eine Reduzierung der Produktionskapazitäten um rund 730000 Fahrzeuge, die dauerhaft sein soll. VW schrumpft also. Das entspricht nach Blume, »dem Produktionsumfang von zwei bis drei großen Werken«. Und er fügt in dem Interview hinzu: »Wichtig ist, dass wir unsere Kernmarke VW so aufstellen, dass sie ihre Investitionen selbst finanzieren kann.« Man könne und wolle sich nicht mehr auf unterstützende Einnahmen aus dem Auslandsgeschäft verlassen, »beispielsweise aus China«. Und der VW-Chef spricht auch von den politisch gesetzten Rahmenbedingungen und davon, dass »das Wirtschaftsmodell Deutschland adjustiert werden« müsse:

»Unsere Industrie hat lange davon gelebt, dass wir hier hervorragende Produkte entwickeln und produzieren, um sie in die ganze Welt zu liefern. Jetzt sehen wir geopolitische Verschiebungen und Protektionismus. Und technische Regulierungen, die sich global weit auseinanderentwickeln.«

Das ist erstmal sehr richtig und eine Portion Realismus. Der Markteinbruch bei den Elektro-Automobilen in Europa und die schweren Verluste von VW-Marktanteilen in der Welt, insbesondere in China, zeigen also Wirkung. VW ist existenziell gefährdet, und diese Situation ist durchaus exemplarisch für den Industriestandort Deutschland. Aber bedeutet das geschlossene Abkommen, dass VW über den Berg ist? Die Krise betrifft tragende Säulen des Geschäftsmodells, das in den letzten Jahren und Jahrzehnten verfolgt wurde. Einsparungen und Reduzierungen der Produktionskapazitäten reichen da nicht.

Es geht um die Grundaufstellung des Unternehmens

Gemessen an der Tiefe der Krise sind die Aussagen, die der VW-Chef Blume in dem Interview macht, ziemlich schwach. Sie sind eine Mischung von Lösungen, aus denen nicht hervorgeht, mit welcher Grundaufstellung das Unternehmen aus der Krise herauskommen soll. Insbesondere sind die Kürzungen nicht mit einer Zurücknahme von Zielen verbunden, die zu der jetzigen Situation geführt haben. Der harte Kern der VW-Krise besteht ja darin, dass zwei große Auswege, auf die VW gesetzt hat, sich jetzt als ruinös erweisen. Zum einen ist der technologische Ausweg in die E-Mobilität keine Lösung für das Automobil als Massenverkehrsmittel. Setzt ein großer Autohersteller auf diese Zukunft, wird er seine Größe verlieren. Zum anderen ist auch der Ausweg in eine noch stärkere Globalisierung versperrt. Eine Exportoffensive, wie sie in vergangenen Jahrzehnten erfolgreich war, scheitert heute daran, dass andere Länder zu starken Hersteller-Ländern geworden sind. Also steht auf zwei zentralen Feldern bei nüchterner Betrachtung eine wirkliche Wende zum Besseren nicht in Aussicht. Die Einschnitte, die bei VW jetzt beschlossen wurden und die nicht bloß als kurzfristige Anpassung verstanden werden, sind im Grunde ein Eingeständnis, dass es hier kein Weiterkommen gibt.

Aber die Führung des Unternehmens und auch die Vertreter der Belegschaft scheinen nicht die Kraft aufzubringen, sich von diesen Grundentscheidungen wirklich zu verabschieden. Es wird noch nicht einmal in klaren Alternativen gedacht. Über dem Interview in der FAZ steht die Aussage des VW-Chefs: »Es liegt noch viel Arbeit vor uns«. Das kann man als vorsichtigen Hinweis lesen, dass VW noch große, schwierige Entscheidungen vor sich hat. Aber das »viel Arbeit« kann auch dahingehend verstanden werden, dass es nun nur noch um viele kleinere Details geht. Und dann liest man den Satz: »Die grundsätzliche strategische Richtung hin zur E-Mobilität ist klar«. Blume will also an der bisherigen technologischen Grundentscheidung weiter festhalten. Soll also »viel Arbeit« in ein Fahrzeug-Angebot investiert werden, für das kein entsprechender Markt da ist?

Bei den gewaltigen betrieblichen und infrastrukturellen Investitionen für die E-Mobilität ist es höchst zweifelhaft, ob sie wirklich als reale Investitionen zu zählen sind. Das heißt, ob sie wirklich eines Tages Überschüsse erzeugen, aus denen das ausgegebene Geld wieder hereingeholt wird. Andernfalls hätte man da nur eine gigantische Investitionsruine errichtet. Soweit das durch eine zusätzliche Sonder-Verschuldung von Unternehmen und Staat finanziert wird, ist mehr als fragwürdig, aus welchen Erträgen die Schulden je abgetragen werden können. Die Energiewende könnte sich also als ein ewiger Zuschussbetrieb und als eine schwere Belastung für die ganze Volkswirtschaft erweisen. Und auch bei der Globalisierung sind die deutschen Autobauer und politisch Verantwortlichen im Land an einem toten Punkt angelangt. Sie mögen sich nicht vom Exportbasis-Dogma trennen, und müssen dann zusehen, wie andere Länder ihre Binnenmärkte selbst bedienen. Und wie sie – siehe China – auch ihrerseits auf den Weltmarkt vordringen.

Die Vorstellung, dass das Unternehmen VW eigentlich auf dem richtigen Kurs ist und nur einzelne Anpassungen erforderlich sind, ist daher falsch. Es geht nicht um eine Übergangssituation, die nur irgendwie »überbrückt« werden muss, um dann wieder in Fahrt zu kommen. Diese Vorstellungswelt bewegt sich in Stimmungen zwischen Angst haben und Mut machen. Damit kommt man in der Welt der Realwirtschaft nicht zurecht. Kein Unternehmen kann sich auf dieser Basis längere Zeit halten. Es muss auf gegebene Realitäten mit eigenen Realitäten antworten. Umso wichtiger ist es, sich das Wesen und die Gesetze dieser unternehmerischen Realität noch einmal in Erinnerung zu rufen.

Über die unternehmerische Vernunft

Um die Misere von VW zu begreifen, muss man zunächst die Fähigkeiten und Anforderungen kennen, die das Wesen eines modernen Wirtschaftsunternehmens ausmachen. In dieser Hinsicht ist der eingangs zitierte Satz von Oliver Blume ein sehr richtiger und wichtiger Satz: »Wichtig ist, dass wir unsere Kernmarke VW so aufstellen, dass sie ihre Investitionen selbst finanzieren kann.« Dieser Satz handelt von einer auf Dauer angelegten Fähigkeit moderner Unternehmen: Dass sie sich aus ihren eigenen Überschüssen immer wieder reproduzieren können. Die Produktivität von Unternehmen misst sich nicht an einmaligen Überschüssen, sondern an Überschüssen, aus denen immer wieder von neuem Einkommen der Belegschaft und der Kapitaleigner bezahlt werden können. Und aus denen die Investitionen finanziert werden können, damit die Reproduktion der Unternehmen gewährleistet ist. Das kann die einfache Reproduktion sein, die den natürlichen Verfall und den Verschleiß in der Produktion ausgleicht. Oder die erweiterte Reproduktion, die die Maschinen und das Arbeitsvermögen des Unternehmens quantitativ oder qualitativ vergrößert.

Es geht also erstens um Eigenständigkeit, und zweitens um Dauerhaftigkeit. Beides ist im Profit enthalten, der an den Kapitaleinsatz gekoppelt ist. Von »Kapital« im Unterschied zu bloßem »Reichtum« kann erst die Rede sein, wenn es diese sich selbst reproduzierende Fähigkeit hat. Die unternehmerische Vernunft muss dieser Eigenschaft gerecht werden. Dass sie das tatsächlich kann, ist eine historische Errungenschaft. Die Zivilisation musste eine bestimmte Höhe der Produktivität erreicht haben. Und eine bestimmte institutionelle Ordnung musste gewährleisten, dass die Erfüllung oder Nicht-Erfüllung der Reproduktionsaufgabe dem oder den beteiligten Akteuren zugerechnet wurde – die Eigentumsrechte.

Gegenwärtig wird der Zustand und die Bedeutung von Unternehmen vor allem mit dem Gründungsgeschehen (den »Start Ups«) verbunden. Aber das geht an der Hauptsache vorbei und führt in die Irre. Das »Gründen« ist ja noch das Leichteste und immer schnell getan. Obendrein wird hier das (Risiko-)Kapital größtenteils von fremder Hand zur Verfügung gestellt. Es wird gar nicht von den Gründern erarbeitet. Man kann eine große »Gründerszene« haben, die zwar gewisse Umsätze macht, aber jahrelang keine Überschüsse erwirtschaftet.

Ist ein Unternehmen für die Einkommen und Investitionen immer mehr auf Schulden oder Subventionen angewiesen, ist es schon nicht mehr ein gesundes Unternehmen. Zu dessen Wesen gehört, eigenständig und dauerhaft Überschüsse erwirtschaften zu können. Wenn in der Unternehmens-Landschaft eines Landes ein immer größerer Teil der Unternehmen durch mehr Schulden oder Subventionen am Leben erhalten werden muss, kann von einer modernen, kapitalgetragenen Marktwirtschaft nicht mehr die Rede sein. Ohne eigenständige Unternehmen verliert auch das Land seine Eigenständigkeit. Und es verliert seine Motivation. Denn das ist ja der ökonomische Clou der Moderne: Dass sie zu Anstrengungen für positive Erträge motiviert, indem sie diese Erträge dort lässt, wo sie entstehen, und erst in einem zweiten Schritt einen Teil dieser Erträge für gemeinschaftliche Aufgaben und Infrastrukturen einzieht.

Diese Reproduktivität aus eigenen Überschüssen (Profiten) ist der gute harte Kern des Kapitalismus. Sie beruht nicht auf einer Moral, die von außen den Unternehmern auferlegt werden muss und in die Unternehmen hineingetragen werden muss. Sondern sie ist Teil der Logik des Kapitals. Mit der Re-Investition von Teilen des Überschusses steht und fällt das Gesamtkapital. Würde man die Überschüsse als bloßen Schatz behandeln und Stück um Stück verzehren, wäre bald der Produktionszusammenhang nicht mehr aufrechtzuerhalten – geschweige denn zu erweitern. Das ist ein mächtiges, originär unternehmerisches Motiv zur Reproduktivität.

Ein oberflächlicher Blick sieht bei der Produktivität eines Unternehmens nur den einmaligen Akt. Und das gibt Raum für alle möglichen Vorurteile: Ein heute sehr verbreitetes Vorurteil lautet, dass in der Welt der Unternehmen der Imperativ des »immer höher, immer weiter, immer größer, immer schneller« herrschen würde. Dass nur die höchsten Profite zählen würden. Dass die kapitalistische Konkurrenz deshalb eine gnadenlos verdrängende Konkurrenz auf Leben und Tod wäre. Wer nicht bei dieser Maximierung mitmache, sei zum Untergang verurteilt. Und da alle mitmachen, kommt es zu einer ruinösen Steigerung, die schließlich zu einer terminalen Krise führen würde.

So macht man der ökonomischen Vernunft einen falschen Schauprozess, indem man ihre Eigenschaften von vornherein völlig verzerrt. Man übersieht geflissentlich, dass es für das Kapital völlig logisch ist, bei einer Investition in eine erweiterte Reproduktion sehr vorsichtig zu sein – denn man setzt dann ja die erzeugten Überschüsse und auch das Kapital, das sie bisher erzeugt hat, aufs Spiel. Der Schauprozess basiert also im Grunde auf der Annahme, dass die Haftung mit eigenem Eigentum kein Grund zu besonderer Sorgfalt ist, sondern ein Grund zu besonderem Leichtsinn und grenzenloser Verschwendung.

Es geht hier um die Frage, ob der unternehmerischen Vernunft eine Kraft zur Selbstbegrenzung innewohnt oder nicht. Ein realwirtschaftliches Faktum kann zeigen, dass es diese Kraft gibt, und dass sie gar nicht in einer besonderen persönlichen Weisheit des Unternehmers besteht, sondern von den Gegenständen der unternehmerischen Tätigkeit abhängt. Es fällt nämlich auf, dass sich die Konkurrenz in verschiedenen Branchen zu sehr verschiedenen Unternehmenslandschaften führt. Es gibt keineswegs überall die Tendenz, dass nur einige wenige Monopolisten übrigbleiben und das Marktgeschehen unter sich ausmachen. Die Schwerindustrie führt, auf Grund des Kapitalaufwandes und der Unteilbarkeit von Produktionsprozessen, zu wenigen Akteuren, während die Leichtindustrie viel mehr Unternehmen umfasst. Der Flugzeugbau weist höhere Konzentrationsgrade als der Automobilbau auf. Aber in beiden Branchen bietet die Spezialisierung von Flugzeugen bzw. Fahrzeugen auch Platz für kleinere Hersteller. Ebenso führen Teilbarkeiten des Herstellungsprozesses auch zur Trennung zwischen Hauptunternehmen und Zulieferern. Statt eines monotonen Trends zum »immer größer« gibt es ein immer wieder neues Spiel der Grenzen. Und dies Spiel folgt weniger den Launen der Personen als den Veränderungen der Dinge.

Diese reproduktive Orientierung der unternehmerischen Vernunft bindet sie stets von neuem an die Realität dieser Welt. Die Tatsache, dass die Überschüsse eines Unternehmens zeitweilig die Form des Geldes annehmen, ändert an diesem Realismus nichts. Das Geld ist eine verallgemeinerte Form des Unternehmensprofits. Und es ist prinzipiell für die unterschiedlichsten Käufe (Rückverwandlungen in Sachwerte) offen. Aber dass heißt nicht, dass man sich darauf zurückziehen kann, diese abstrakte Form des Reichtums bloß als Schatz aufzuhäufen und anzubeten. Bei aller Offenheit ist die Rückverwandlung in die Bestimmtheit eines Sachwertes (ob als Einkommen oder als Investition) unverzichtbar. Die kapitalistische Ökonomie hat diese Rückverwandlung gewaltig ausgedehnt – allein schon durch die geschichtliche Entwicklung, in deren Lauf sie aus der Handelssphäre in die Produktionssphäre vorgedrungen ist. So hat die reproduktive Vernunft der Unternehmen ihr Potential erst richtig durchgesetzt.

Auch in anderer Hinsicht ist der Blick auf die Realwirtschaft und ihre Geschichte hilfreich: Sie zeigt, dass Unternehmen immer die Fähigkeit hatten, längere »träge« Perioden zu überstehen, in denen es bei Technologie und Arbeitsverfahren einfach keine Gelegenheiten zu Erweiterung und Innovation gab. Eine kapitalistische Volkswirtschaft besteht immer auch aus Branchen, Unternehmen und Unternehmensteilen, die relativ »alte« Produkte und Herstellungsverfahren verwenden. Das macht ihre Breite und Komplexität aus. Auch ihre Überlebensfähigkeit. Es hat daher nichts mit unternehmerischer Vernunft zu tun, wenn heute in Deutschland zwanghaft nach sogenannten »Zukunftstechnologien« gesucht wird und nur diese als erstrebenswert betrachtet werden. Und diese Verengung der Zukunft auf das Neue dann als Stärkung der »Resilienz« (Widerstandskraft in Krisen) gilt – wo diese Flucht nach vorne doch gerade krisenanfällig macht.

Es gibt kein höheres Gesetz, dass jedes kapitalistische Unternehmen immer nach einer erweiterten Reproduktion streben muss. Ein kapitalistisches Unternehmen braucht unbedingt Überschüsse (Profite), aber die Überschüsse müssen nicht so hoch sein, dass sie um jeden Preis eine Erweiterung tragen müssen. Es funktioniert auch bei einfacher Reproduktion: bei dem bloßen Ersatz des natürlichen und produktiven Verschleißes der Maschinen und Anlagen. In der Realität kommt es oft vor, dass ein Unternehmen in einem tragenden Teil bewährte Technologie, Maschinerie und Fachkönnen verwendet und in einem kleineren Teil mit neuen Dingen experimentiert. Dass es also Standbein und Spielbein hat.

Nur durch diese reproduktive Flexibilität ist die erstaunliche Beständigkeit zu erklären, die der Kapitalismus in den vergangenen Jahrhunderten gezeigt hat. Könnte er wirklich nur dem Steigerungs-Gesetz des Höher, Weiter, Größer, Schneller folgen, wäre er längst untergegangen.

Ein anderes grundlegendes Merkmal der unternehmerischen Vernunft wurde bisher noch nicht erwähnt. Es geht um die Dinge, die ein Unternehmen bei seiner Tätigkeit als Aufgaben (und Kosten) berücksichtigen kann, und die Dinge, die es als Aufgaben (und Kosten) nicht berücksichtigen kann. Es geht also um die Unterscheidung und Grenze zwischen den sogenannten »internen Kosten« und »externen Kosten«. Zunächst einmal muss hier hervorgehoben werden, dass ein Unternehmen sehr viele und sehr verschiedene Kosten berücksichtigt. Aber einige Kosten sind im Prinzip unendlich groß und können daher nicht im vollen Umfang berücksichtigt werden. Die dadurch entstehenden Kosten würden jedwede Möglichkeit zu positiven Erträgen zunichtemachen. Zum einen können Unternehmen nicht Einkommen bezahlen, die alle Bedürfnisse der beteiligten Menschen befriedigen. Die menschlichen Bedürfnisse und Wünsche sind im Prinzip unendlich. Zum anderen können Unternehmen auch nicht alle Aufgaben der Naturerhaltung und Naturentfaltung erfüllen, weil auch diese Aufgaben im Prinzip unendlich sind. Auf beiden Seiten wird es also externe »soziale« und »ökologische« Kosten geben, die nicht »internalisiert« werden können. Sie können nicht alle berücksichtigt werden, sondern müssen extern bleiben.

Dabei ist eine Tatsache noch gar nicht erwähnt worden, die die gegenseitige Beziehung der sozialen (menschenbezogenen) Kosten und den ökologischen (naturbezogenen) Kosten betrifft: Diese Beziehung ist eine konträre, gegenläufige Beziehung. Eine größere Steigerung bei der Erfüllung menschlicher Bedürfnisse und Wünsche muss mit einer stärkeren Belastung der Naturbedingungen und Ressourcen bezahlt werden. Eine stärkere Berücksichtigung natürlicher Knappheiten muss mit weniger Einkommen auf Seiten der Menschen bezahlt werden. Gerade diese Gegenläufigkeit der Aufgaben, die ein Unternehmen berücksichtigen muss, zieht der »Internalisierung externer Kosten« enge Grenzen. Gewiss kann der technologische Fortschritt oder eine höhere Effizienz bei der Unternehmensorganisation die Spielräume etwas erweitern. Aber die Grenzen bleiben eng und die Steigerungen müssen konkret auf dem jeweiligen Tätigkeitsfeld eines bestimmten Unternehmens oder einer bestimmten Branche wirksam sein. Eine generelle Wette auf ein allgemeines »Gesetz des Fortschritts« hilft den Unternehmen nicht. Sie müssen immer von der konkreten Situation ihrer Industrie ausgehen. Sie müssen dabei immer mit der Möglichkeit rechnen, dass diese Industrie in einer historischen Phase ist, in der es keine großen Sprünge gibt, sondern nur kleinere und langsame Entwicklungsschritte. Für abstrakte Gesetze können sie sich nichts kaufen.

Die »Internalisierung externer Kosten« ist ein großes Thema unserer Zeit. Nachdem dabei lange Zeit vor allem sozial-menschliche Bedürfnisse und Ansprüche gestellt wurden, werden jetzt zusätzlich ökologische Restriktionen (siehe Klimarettung, Rettung der Artenvielfalt) betont. Aber dabei geschieht nicht eine Internalisierung in dem Sinn, dass die gegenläufige Beziehung zwischen sozialen Kosten und ökologischen Kosten berücksichtigt wird. Vielmehr werden die ökologischen Aufgaben einfach zu den sozialen Bedürfnissen hinzuaddiert – sie werden also auf die fortbestehenden sozialen Bedürfnisse einfach draufgesattelt. Ein Beispiel sind die sogenannten ESG-Kriterien, über deren Erfüllung mittlere und größere Unternehmen nach einer EU-Verordnung penibel Bericht erstatten müssen. Hier werden die verschiedenen Kriterien auf einer Liste nebeneinandergestellt und nebeneinander behandelt. Ob und wie das Unternehmen diese Ansprüche in ihrer Produktionsaufgabe zusammenführen kann und positive Erträge erzielen kann, bleibt offen. Die Unternehmen werden zur Übernahme von zusätzlichen Aufgaben und Ausgaben veranlasst, die dann eventuell ihren Wertschöpfungs-Zusammenhang sprengen. Die Aufgabe der »Internalisierung« wird den Betrieben nach dem Prinzip »Friss, Vogel, oder stirb« vor die Füße gekippt.

Die »Internalisierung von externen Kosten« ist daher keine wirkliche Internalisierung, sondern nur eine von außen dem Unternehmen auferlegte Zusatzlast. Sie ist ein Einfallstor für die Zerstörung der unternehmerischen Vernunft. Man hört immer wieder das Argument, dass eine Nichtbeachtung human-sozialer und ökologischer Aufgaben auf die Dauer (wegen sozialer Unruhen und Naturkatastrophen) »viel teurer« käme als eine sofortige Behandlung und Bezahlung als »Kosten«. Doch damit würde das Problem nur in die Unternehmen verlagert, die in den Ruin getrieben würden. Eine Wirtschaft mit positiven Erträgen würde in eine Defizitwirtschaft verwandelt, deren Verschuldung Tag für Tag wächst. In eine solche Wirtschaft würde niemand investieren. Und es gäbe auch kein Motiv mehr, bei der Arbeit Tag für Tag Mühe und Sorgfalt aufzubringen. Es gehört offenbar zur wirtschaftlichen Vernunft, dass sie einen erheblichen Teil der natürlichen und menschlichen Entwicklungen als Externa hinnimmt und sich nur, soweit es geht, vor den schlimmsten Folgen schützt. Dass man also viele Entwicklungen, an deren Ursachen man nichts ändern kann, in ihrem Verlauf »palliativ« mildert.

Und noch ein Punkt ist hier wichtig. Die unternehmerische Vernunft ist nicht die einzige Vernunft, die in einem modernen Land vorhanden sein muss. Es gibt auch eine staatliche Vernunft, die sich von der unternehmerischen Vernunft unterscheidet und anderen Kriterien folgt. Der Staat unterliegt eigenen Leistungskriterien, auch er muss liefern – wie es exemplarisch in den verschiedenen Infrastrukturen ihren Niederschlag findet. Auch hier werden viele, verschiedene und gegenläufige Dinge integriert. Und auch hier gibt es Externa, die kein Staatswesen in seinen Strukturen auffangen kann. Doch zieht die staatliche Vernunft die Grenze zwischen intern und extern etwas anders als die unternehmerische Vernunft es tut. Die unternehmerische Vernunft »produziert«. Sie geht induktiv vom Einzelding aus und kann in der wiederholten Herstellung von Produkten Überschüsse erwirtschaften. Die staatliche Vernunft ist nicht auf solche Überschüsse gerichtet, sondern setzt breiter an: Sie richtet sich auf eine Allgemeinheit und hebt deren Niveau. Ob es um Wegesysteme, Leitungssysteme, Müllentsorgung, Gesundheit, Bildung geht – immer richtet sich die staatliche Vernunft auf eine Allgemeinheit und leitet deduktiv daraus ihre Strukturen und Größenordnungen ab. Sie muss selber keine Überschüsse erwirtschaften, sondern nur »Bedingungen der Möglichkeit« von Überschüssen herstellen. Der Staat finanziert sich aus diesen Überschüssen und ist insofern von einer eigenständigen und starken unternehmerischen Vernunft abhängig. Der moderne Staat hat seine eigenen sachlichen Effizienzgesetze. Er ist nicht in erster Linie ein personales Herrschaftssystem. Er hat seine eigenen Internalisierungs-Grenzen: Er kann nur einen Teil der sozialen Ansprüche und ökologischen Restriktionen integrieren. Generell kann man sagen, dass Staaten einen weiteren Umkreis von sozialen Ansprüchen und ökologischen Restriktionen internalisieren können. Aber das liegt nicht daran, dass ihre Vernunft einen höheren Standpunkt innehat oder moralisch besser ist, sondern dass sie nicht tagtäglich mit der Erzielung von Überschüssen beschäftigt sein muss.

Man kann es auch so ausdrücken: Die Gesamtheit der Unternehmen stellt eine große Produktionsmaschine dar, während die Gesamtheit der staatlichen Einheiten eine große Hebemaschine ist. Diese Unterscheidung ist wichtig. Die Differenzierung zwischen einer Unternehmenswelt und einer Staatswelt ist eine Errungenschaft moderner Länder. Sie ist effizienter als eine Vermischung von Unternehmen und Staat. Wenn Unternehmen wie ein Staat funktionieren sollen, oder wenn Staaten wie Unternehmen funktionieren sollen, kommt es zu einer Überlastung und Überdehnung – sowohl auf Seiten des Staates als auch auf Seiten der Unternehmen. Nur eine klare Differenzierung zwischen unternehmerischer und staatlicher Vernunft kann das vermeiden. Die unternehmerische Vernunft, um die es in diesem Essay geht, kann also niemals die alleinige Patentformel für ein modernes Land sein. Aber sie ist eine tragende Säule.

Die Zerstörung der unternehmerischen Vernunft

Eine nähere Betrachtung der unternehmerischen Vernunft – der »Unternehmensräson«, wenn man so will – kann helfen, besser zu verstehen, was bei VW auf dem Spiel steht, und welche Mechanismen hier am Werk sind. Wer bei unternehmerischer Vernunft nur an etwas denkt, das irgendwie »zu eng«, zu kurzsichtig«, »zu einseitig«, »zu egoistisch« ist, wird dazu neigen, sie mit zusätzlichen Aufgaben und höheren Zielen zu befrachten. Das führt zu einer Überlastung und zu einer Auflösung des Zusammenhalts und Zusammenhangs des Unternehmens. Das Unternehmen kann seine produktiven und reproduktiven Vorzüge gar nicht mehr zur Geltung bringen. Von dieser Art ist die VW-Krise. Ihre tieferen Gründe liegen nicht in einer Übertreibung oder »Radikalisierung« der unternehmerischen Vernunft, sondern in einer Überlastung durch unternehmensfremde und uferlose Ziele. Mit einem anderen Begriff: Es handelt sich um eine Überdehnungskrise.

Wenn man versucht, den tieferen Gründen der VW-Krise nachzugehen, die auch eine Krise anderer großer Automobil-Unternehmen und eine allgemeine Unternehmens-Krise in Deutschland ist, dann stößt man immer wieder auf den gleichen Vorgang: auf Versuche, externe Veränderungen in interne Umstrukturierungen zu transformieren. Doch führen diese Internalisierungen zu einer Überdehnung der Unternehmen. Sie verzehrt ihre Wertschöpfung und damit auch die Ressourcen, auf denen ihre Fähigkeit zur eigenen Reproduktion beruht. Die bedingungslose »Öffnung« eines Unternehmens für unkontrollierbare Faktoren und Entwicklungen zerstört seine Existenz.

Die VW-Krise ist keine Krise einzelner, isolierter Fehlentscheidungen, wie sie immer vorkommen und relativ leicht korrigierbar sind. Sie ist auch keine Krise im Rahmen eines Strukturwandels, bei dem eine sichere neue Struktur zur Verfügung steht, die an die Stelle der alten Struktur gesetzt werden kann. Die VW-Krise ist eine systematische Krise, die die Grundaufstellung des Unternehmens betrifft. Diese Krise hat insbesondere mit den Grenzen des Unternehmens zu tun. Diese Grenzen können nicht beliebig ausgedehnt werden, wenn nicht die Integrationsleistung des Unternehmens und seine (Re-)Produktivität Schaden nehmen soll.

Deshalb ist es wichtig, an das Wesen und die Eigenart der unternehmerischen Vernunft (und der realen Unternehmens-Welt) zu erinnern und diese gegen falsche Kritik in Schutz zu nehmen. Das ist offenbar in Deutschland bitter notwendig. Denn wir erleben gerade eine schwere Wirtschaftskrise, die sichtlich eine Überlastungskrise der Unternehmen ist. Nach langen Jahren, in denen die Unternehmen sich in ihren öffentlichen Äußerungen sehr zurückgehalten haben, ist seit einiger Zeit eine Änderung zu beobachten. Verschiedenste Unternehmerverbände sehen sich gezwungen, die Bedrohung ihrer Existenzgrundlagen deutlich auszusprechen.

Allerdings spielen Unternehmen als tragende Säule in Deutschland im politischen Diskurs dieses Landes selten eine Rolle. Man liest von »Brutto und Netto« oder von »Arbeitsplätzen«, als würden Arbeitsplätze und Kaufkraft unmittelbar durch politisches Handeln erzeugt. Es wird auch der Eindruck erweckt, das politische Handeln könne – an den Unternehmen vorbei – Sozialleistungen oder Infrastrukturen einfach durch die Aufnahme von Schulden finanzieren. In Wirklichkeit lassen sie sich nur mittelbar finanzieren – durch das Bestehen einer Unternehmenslandschaft, in der positive Erträge erwirtschaftet werden. Da liegt die wirtschaftliche »Mitte« dieses Landes.

(Wird fortgesetzt)