von Boris Blaha
Die Tatsachenwahrheit gibt der Meinungsbildung den Gegenstand vor und hält sie in Schranken.
Hannah Arendt
Man betritt den rechteckigen Raum durch eine Tür an der Schmalseite, geht bis zum Fenster auf der gegenüberliegenden Seite und dreht sich um. Alle drei Wände außer der Fensterwand sind bemalt. Auf der linken Seite werden die Auswirkungen der schlechten Regierung auf Stadt und Land gezeigt, man sieht Verzweiflung und Elend, die Menschen nur noch schemenhaft, alles grau in grau, Feuer, Krieg und große Not. Auf der gegenüberliegenden rechten Seite kräftige Farben, stabile Gebäude, eine fruchtbare, gepflegte Landschaft und glückliche Menschen, die sich ihres Lebens freuen.
Wir sind gewissermaßen im Bundeskanzleramt, im Zentrum der Macht, im ›Sale dei Nove‹ des Palazzo Pubblico von Siena und betrachten an den drei Wänden die Allegorie der guten und schlechten Regierung, gemalt im Auftrag der Regierung 1337 – 1339 von Ambrogio Lorenzetti. Der Maler hat damit den neun politischen Entscheidungsträgern der freien Stadt Siena die Folgen ihres Tuns in einer Weise vor Augen geführt, die sie nicht ignorieren konnten. Aus dem Zustand des Landes wurde später die Staatsräson, um die es in der Politik zu gehen habe, so der erste politische Denker nach der langen Zeit der christlichen Weltdeserteure, Niccolò Machiavelli.
Wenn man sich den aktuellen Zustand Deutschlands vor Augen führt und sich den Tatsachen so konfrontiert, wie sie nun mal sind, kommt man nicht umhin, zu sagen: Das beste Deutschland ist ein Trugbild bestimmter Medien, das wirkliche Deutschland sieht erschreckend aus. Das einst friedfertige Zusammenleben verroht von Tag zu Tag mehr, Bahnhöfe und ganze Stadtteile werden zu Slums, öffentliche Marktplätze werden zu Angsträumen, eine islamische Partei erreichte gerade bei der EU-Wahl in zwei Duisburger Stimmbezirken über 40%. Leistungsträger und Unternehmen verlassen in Scharen das Land und ausländische Investoren machen einen großen Bogen um Deutschland. Noch in den Fünfzigern wurden die vollen Lohntüten vom Postboten zu Hause abgeliefert – heute undenkbar, der Postbote würde nicht einen Tag überleben. Und dann denken Sie mal kurz an die Zugbegleiter, die Busfahrer, die Notfallsanitäter, die weiblichen Polizisten und die Kinder in der Schule, wenn das Geld für eine Privatschule nicht reicht. Sagt dann mal einer wie der CEO der Deutschen Börse, wie es wirklich ist, wird er als Wirrkopf abqualifiziert, weil die vorherrschende Negativelite und ihre medialen Claqueure jeden Realitätsbezug verloren haben und sich verzweifelt an ihre Privilegien klammern. Die restliche Welt schüttelt verwundert den Kopf, dass die Deutschen zum dritten Mal hintereinander in die gleiche Grube fallen.
84 Millionen Staatsbürger lassen sich von Figuren auf der Nase herumtanzen, deren einzig erkennbare Fähigkeit ist, dass sie ihr Gesicht in jede Kamera halten und minutenlang sinnfreie Phrasen abspulen. Ohne ständigen medialen Hype wären diese Leute, was sie sind: unqualifiziert und belanglos.
Die amerikanische Unabhängigkeit begann mit der Boston Tea Party und dem alten Schlachtruf des englischen Parlamentarismus: no taxation without representation. Heute geht es nicht um Holzkisten mit Tee, sondern um die obszönen Gehälter von Angestellten in den öffentlich-rechtlichen Anstalten, die sich dafür fürstlich bezahlen lassen, uns den tatsächlichen Zustand des Landes zu verheimlichen, was eine normale Meinungsbildung nicht nur verunmöglicht, sondern die Auseinandersetzung grenzenlos macht. Weil die Tatsachenwahrheit gegenüber der Vernunft- und Offenbarungswahrheit weitaus mehr gefährdet ist, ist sie, so Arendt, zu ihrem Schutz auf uns angewiesen. Verschwindet der Unterschied zwischen Meinung und Tatsache, wird alles möglich.
Unsere Gebühren sind unsere Macht, die Anstalten dazu zu zwingen, ihrem Verfassungsauftrag nachzukommen. Kann sich ein erwachsener Mensch zumuten lassen, seine tägliche Desinformation auch noch selbst zu bezahlen?
Literaturempfehlungen:
Quentin Skinner: Macht und Ruhm der Republik in den Fresken Lorenzettis, in: Visionen des Politischen, Frankfurt a. Main, 2009
Patrick Boucheron: Gebannte Angst: Siena 1338. Essay über die politische Macht der Bilder, Schmalkalden 2017
Hannah Arendt: Wahrheit und Politik, in: Zwischen Vergangenheit und Zukunft, München 1994