von Lutz Götze

Seit einigen Wochen ist das neueste Sprachmodell von Open AI in Gestalt des ChatbotGPT4 auf dem Markt: Eine künstliche Intelligenz, die nicht nur – wie ihre Vorgänger – Texte erstellen soll, sondern auch Bilder. Die Hoffnungen der Befürworter der Künstlichen Intelligenz waren gewaltig: Ein Chatbot – also eine Maschine, mit der man sich unterhalten kann – könnte Tätigkeiten übernehmen, für die es keine Arbeitskräfte mehr gibt oder die den Menschen entlasten: Roboter in der Industrie und im Gesundheitswesen, Übersetzungen, Schreibarbeiten, Navigationen zu Land, zu Wasser und in der Luft. Aber eben auch Überwachungs- und Bespitzelungssysteme, keineswegs nur in China; obendrein militärische Aktionen (Drohnen). Der Mensch könnte sich, so die steile These, auf individuelle und kreative Tätigkeiten konzentrieren und die Mühsal alltäglicher Routinearbeit überwinden. Eine vollkommen neue Gesellschaft, frei von Fremdbestimmung und Sachzwängen, sei im Entstehen.

Sam Altman, der Mann hinter ChatGPT, träumt bereits von der ›generellen künstlichen Intelligenz‹ (AGI), die dem menschlichen Gehirn sogar überlegen sei: tiefer, breiter und schneller solle das System agieren. Und er, Altman, sei der Mann, der dies entwickeln und steuern könne: ›Entweder wir versklaven die KI oder sie versklavt uns‹. Tertium non datur.

Ist es Größenwahn oder gar mehr, wenn sich Sam Altman in einem Gespräch mit der New York Times mit J. Robert Oppenheimer vergleicht, dem ›Vater der Atombombe‹? Ein ›schrittweiser Übergang in eine Welt mit menschenähnlicher künstlicher Intelligenz‹ schwebe ihm vor. Darauf könnten sich Menschen, Gesetzgeber und Wirtschaft besser einstellen als auf eine radikale plötzliche Änderung. Unvermeidbar sei diese Entwicklung ohnehin.

Die einzelnen Schritte der freilich keineswegs neuen Technologie namens Natural Language Processing sind leicht beschrieben: Embedding (Umwandlung sprachlicher Zeichen in token), Attention (Schlüsselwörter ermitteln, Algorithmen bilden), Corpusbildung (Erstellung eines ständig wachsenden Corpus völlig unterschiedlicher Textsorten) und Entwicklung von Parametern (Schaltungen analog den neuronalen Verbindungen im menschlichen Gehirn zur Erstellung eines syntaktisch wie semantisch stimmigen Textes). Durch das immer größer und differenzierter werdende Corpus samt den sich ständig verfeinernden Parametern, so die Protagonisten, ›lerne‹ der Chatbot, immer bessere und textsortenspezifische Endprodukte zu erstellen: Bewerbungsschreiben, Tagebucheinträge, Sachbeiträge, Kommentare, Reiseberichte, Märchen und fiktive literarische Werke.

Lernt der Chatbot?

›Lernt‹ er? Oder reiht er lediglich Wörter und Syntagmen aneinander, die einmal zueinander passen und einmal nicht? Sammelt er lediglich Fakten oder bildet er, durch eigene Entscheidung, Wissen?

Die Protagonisten behaupten, die Maschine lerne. Indem sie immer größere Datenmengen inkorporiere, also Millionen sprachlicher Mittel speichere, lerne sie, sich immer präziser und differenzierter auszudrücken. Am Ende ›denke‹ sie: selbstständig und unabhängig vom Menschen. Sogar schneller und tiefer schürfend, mithin besser.

Meine These lautet: Die Maschine sammelt besinnungslos alles, was ihr vom Menschen eingegeben wird. Sie speichert Unmengen von Daten, aber sie lernt nichts. Also denkt sie auch nicht, weil sie es nicht kann. Denn das Denken ist eine bewusste Tätigkeit, eine Aneignung und Auswahl, ja: Bewertung der Informationen (Daten), die minütlich, stündlich und täglich auf das menschliche Gehirn treffen. Sie werden verarbeitet, für – je individuell unterschiedlich – gut und wichtig oder schlecht und unwichtig erachtet. Im ersten Falle werden die Informationen aufbewahrt, im zweiten Falle verworfen. So lernt das Gehirn, immer besser, detaillierter und differenzierter zu agieren. Dies geschieht, wie Gerhard Roth vor Jahrzehnten beschrieben hat, auf drei Ebenen: der genetischen, der sozialen und der epigenetischen Determination, also den Erbanlagen, der Ausbildung und Erziehung sowie einem System sich selbst erzeugender neuronaler Netze. Über die Erbanlagen, also die Gene, wissen wir spätestens seit Freud und seinen Nachfolgern Einiges, über Ausbildung und Erziehung eher mehr, über die epigenetische Determination hingegen – trotz aller Erfolge der Hirnforschung gerade der letzten Jahrzehnte – vergleichsweise wenig. Über das Bilden sprachlicher Einheiten, also die mündliche und schriftliche Produktion von Sätzen und Texten, einerseits, und das Verarbeiten und Verstehen von Sprache oder Sprachen andererseits, wissen wir kaum Nennenswertes: Noch immer herrscht die sogenannte Zentrenlehre vor, die behauptet, das Verstehen von Sprache finde im Wernicke-Zentrum statt, also im Schläfenlappen der linken Großhirnhälfte, das Produzieren hingegen im Broca-Zentrum, also im Frontallappen. Neuere Forschungen hingegen belegen, dass beide Prozesse weit über das Gehirn verbreitet stattfinden. Da wir nun aber diese neuronalen Abläufe nur bruchstückhaft kennen und lediglich ansatzweise wissenschaftlich erklären können, vermögen wir auch nicht, sie der Maschine einzugeben, sie somit zu ›speichern‹. Also sammelt sie alles, was ihr eingegeben wird: ohne Bewusstsein, ohne Bewertung. Lediglich werden Informationen gespeichert, Denken findet nicht statt.

Ein weiteres Problem: Wenn Chatbots in Zukunft Texte auf der Grundlage weniger Stichworte eines Menschen generieren: Wer ist dann der Autor? Wer ist der Verfasser einer Doktorarbeit oder eines Romans? Wer plagiiert hier bei wem? Oder ist hinfort von einem Plagiat überhaupt nicht mehr die Rede? Ist geistiges Eigentum dann Geschichte?

Wilhelm von Humboldt

Der große Sprachphilosoph stellte vor weit mehr als zweihundert Jahren fest, der ›Geist‹ – also das menschliche Gehirn – vollbringe mit endlichen Mitteln Unendliches. Wir fügen heute hinzu: Die Maschine hingegen vollbringt mit unendlichen Mitteln Endliches. Die Einzigartigkeit des menschlichen Gehirns wird sie nie erreichen. Das ist die quantitative Ebene der Betrachtung.

Auf der qualitativen Ebene ist ein weiterer fundamentaler Unterschied zu konstatieren: Der Chatbot speichert ohne Sinn und Verstand, weil er nichts vermag, außer sprachliche Einheiten-Morpheme, Wörter, Sätze und Texte-aneinanderzureihen und zu speichern. Das menschliche Gehirn verarbeitet sprachliche Reize, bewertet sie und macht sie sich zu eigen oder verwirft sie. Es denkt.

Der Irrtum der Künstlichen Intelligenz

Die große Gefahr der Moderne besteht nun darin, dass Individuen in ihrem Größenwahn – manche unter ihnen zitieren gern die Schlange, die Adam und Eva verspricht, wenn sie den Apfel vom Baume der Erkenntnis äßen: Eritis sicut Deus, scientes bonum et malum – glauben oder zumindest hoffen, mit der weiteren Entwicklung der ›generellen künstlichen Intelligenz‹ das menschliche Gehirn einzuholen oder gar zu übertreffen. Sie ahnen, gelegentlich, bei immer neuen Rückschlägen freilich, dass sie das nie werden schaffen können. Also versuchen sie, den Menschen der Maschine anzupassen, genauer: mit der Maschine den Menschen zu dominieren. Nicht umgekehrt, wie bislang gemeinhin üblich. Die Maschine soll das Leben des Menschen bestimmen, ihn steuern. Dabei geben die Protagonisten vor, dass auf diese Weise das Alltagsleben erleichtert werde, mithin der Mensch von, in der Tat, lästigen Pflichten befreit werde: Saubermachen, Pflegedienst, Kommunikationsverbindungen. Das Reich der Notwendigkeit sei vorüber, jenes der Freiheit beginne. In Wahrheit wird der Mensch auf diese Weise abhängig gemacht, genauer: entmündigt. Die Büchse der Pandora ist geöffnet: Der ›gläserne Mensch‹ steht vor der Tür, Diktatoren frohlocken.

Die Vertreter der Künstlichen Intelligenz – und es sind sehr unterschiedliche und unterschiedlich demagogische Vertreter darunter – irren freilich, wenn sie den Menschen zu ersetzen versuchen. Er ist widerständig, will selbst denken und in eigener Verantwortung entscheiden. Er will nicht von vermeintlich höheren Mächten gelenkt oder gar verführt werden. Er will, kantianisch formuliert, sich durch bewusstes Handeln aus seiner selbst geschaffenen Unmündigkeit befreien. Zumindest Teile der Menschheit wollen das.

Doch es naht Unheil: Die Industrie wittert Riesengewinne in der Entwicklung immer neuerer und leistungsstärkerer Chatbots. Elon Musks enorme Investitionen in den vergangenen Jahren belegen dies. Jetzt soll Microsoft 13 Milliarden Dollar in die Entwicklung gigantischer KI-Systeme zugesagt haben. Die Konzerne haben es in der Vergangenheit bereits geschafft, mit ihren Smartphones und sonstigen Computern große Teile der Menschheit abhängig und süchtig gemacht zu haben: Chatten, Batterien von Werbeanzeigen, Influencer und Follower gibt es bereits in Milliardenzahl. Das sind geeignete Voraussetzungen für die Versklavung des Menschen durch die Künstliche Intelligenz. Ihm eignet dann allenfalls, was Max Horkheimer vor Jahren die Funktionale Intelligenz genannt hat. Menschen funktionieren dergestalt, wie es die Maschine befiehlt. Eine düstere Perspektive!

Vielleicht aber wehren sich menschliche Vernunft und Verstand beizeiten.

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