von Peter Brandt
Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Freunde!
Erlauben Sie, dass ich mich bezüglich der protokollarisch vollendeten Anrede meinem Kollegen Contiades anschließe und nur unseren verehrten Preisträger, den Präsidenten des Europäischen Gerichtshofs, Herrn Professor Vassilios Skouris, direkt anspreche. Auch sonst will ich nicht mehr als unbedingt nötig wiederholen, denn mein Vorredner hat das an dieser Stelle für beide Institute Wesentliche gesagt.
Als wir der Leitung unserer Universität die Idee vortrugen, unser Hagener Institut nach Dimitris Tsatsos zu benennen, der – ohne mein Licht allzu sehr in den Schatten zu stellen – seit der Gründung vor rund zehn Jahren bis zum Lebensende sein spiritus rector war, stießen wir sofort auf einhellige Zustimmung; und nicht anders war es, als wir zusammen mit dem Athener Zentrum den Plan entwickelten, einen Dimitris-Tsatsos-Preis zu vergeben. Man versteht nicht nur in Griechenland, wo das fast selbstverständlich ist, sondern auch in Deutschland, dass die Vergabe eines Preises mit dieser Benennung eine große Ehrenbezeugung darstellt. In Deutschland denken wir bei dem Namen Tsatsos nicht nur an den großen Verfassungsrechtler, Europäer und Demokraten, Gelehrten und Intellektuellen, der besser Deutsch sprach und schrieb als viele Deutsche, auch etliche deutsche Akademiker. Und wir, die ihn näher kannten, denken natürlich an seine menschlichen Qualitäten, seine farbige unverwechselbare Persönlichkeit. Lassen Sie mich ebenso betonen, dass uns die Entscheidung bezüglich des ersten Preisträgers nicht schwer fiel – und das nicht in erster Linie wegen der engen Verbindung zum Namensgeber des Preises. Es dürfte schwer sein, eine zweite Persönlichkeit zu finden, die sowohl das Kriterium der wissenschaftlichen Exzellenz und Einschlägigkeit als auch das nicht zwingende Zusatzkriterium der öffentlichen Wirksamkeit im Prozess der europäischen Vervollkommnung, wie Kollege Contaides so schön formuliert hat, in dem Maße verkörpert wie Präsident Skouris.
Der Preis wird in einer schwierigen Situation, sagen wir offen: einer Krise des europäischen Einigungsprozesses (wie auch, wir hörten es schon, der griechisch-deutschen Beziehungen) vergeben. Dieses ist keine politische Versammlung. Trotzdem möchte ich einige Worte zu der Problematik sagen, mit der wir es derzeit zu tun haben: Das, was als Krise der staatlichen Finanzen mehr oder weniger fast aller europäischen Staaten, als Schuldenkrise bezeichnet wird, ist nicht nur, aber nicht zuletzt ein Ergebnis der Bankenrettungsmaßnahmen, die in der internationalen Finanz- und Wirtschaftskrise von 2008/09 auf Kosten der öffentlichen Haushalte durchgeführt wurden, und diese Krise war wiederum in erster Linie das Ergebnis des viele Jahre lang ungehemmten Wirkens eines hoch spekulativen internationalen Finanzkapitals.
Auch wenn es derzeit so aussieht, als ob es dem abgestimmten europäischen Krisenmanagement gelingen könnte, das Schlimmste zu verhindern – schon diese Aussage mag für griechische Ohren angesichts der Zumutungen, mit denen man hierzulande konfrontiert ist, zynisch klingen – beobachten wir mit Sorge, wie die Staaten und Völker der EU, in der praktischen Politik und nicht minder mental, entzweit werden. Dabei spielen sowohl unterschiedliche Ansätze in der Wirtschaftspolitik als auch partiell differierende nationale Interessen eine Rolle, die die Protagonisten der öffentlichen Meinung wechselseitig dazu verleiten, primitivste national-antagonistische Klischees und Ressentiments wiederzubeleben. Damit meine ich natürlich nicht eine in alle Richtungen erlaubte (und vielleicht gebotene) Kritik an Handlungen und Verhaltensweisen nationaler Regierungen, die das europäische Projekt vermeintlich schädigen oder bedrohen.
Die historisch gewachsenen Nationen werden sich im europäischen Einigungsprozess nicht einfach auflösen wie der Zucker im Kaffee, und das ist ja auch nicht intendiert. Die Nationalstaaten werden für die absehbare Zeit als Bausteine einen vereinten Europa fortbestehen. Doch in dem Maß, wie sie nach und nach Teile ihrer Souveränität übertragen und schon übertragen haben, werden die Völker darauf zu achten haben, dass der Verlust an nationaler Selbstbestimmung kompensiert wird durch die beschleunigte Demokratisierung der EU-Institutionen. Ich nehme an, ich spreche im Namen der meisten der hier Versammelten, wenn ich abschließend formuliere: Wir wollen ein vereintes, nach außen handlungsfähiges, nach innen solidarisches und demokratisches Europa. Wir wollen unser Zivilisations- und Demokratiemodell in der Welt verteidigen, zu dem, jenseits der parteipolitischen Kontroversen, der Sozialstaat und ein gewisses Maß an Marktkoordinierung gehören. Ich bin jedenfalls ganz sicher, damit das Anliegen von Dimitris Tsatsos auf den Punkt gebracht zu haben.
Ansprache des Direktors des Dimitris-Tsatsos-Instituts für Europäische Verfassungswissenschaften an der FernUniversität in Hagen, Prof. Dr. Peter Brandt, bei der Verleihung des Dimitris-Tsatsos-Preises in Athen am 2. November 2012