von Hans Erler

Vor 10 Jahren, noch in der Konrad-Adenauer-Stiftung tätig, gab ich zusammen mit Ansgar Koschel, damals Generalsekretär des Deutschen Koordinierungsrats der Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit (er starb leider im März 2007), die Publikation Der Dialog zwischen Juden und Christen ‒ Versuche des Gesprächs nach Auschwitz als Bilanz von 50 Jahren CJZ heraus. Ich verfasste das Nachwort Philosophischer Antijudaismus – Hegel. Danach trat ich aus der evangelischen Kirche aus.

Sie hatte mich mit dem Vers »Denn einen anderen Grund kann niemand legen als den, der gelegt ist: Jesus Christus« (1. Korinther 3,11) in der Auferstehungskirche in Pforzheim konfirmiert. Der Vers hatte mich als 14-jährigen empört: Ich verstand ihn als Versuch, mich meinem sozialdemokratischen Elternhaus zu entfremden. Aber um aus der Kirche auszutreten bedurfte es der Gründe, die ich erst in der Aufarbeitung und Durchdringung des Jüdischen finden konnte.

Fast 20 Jahre, von 1988 bis 2007, habe ich mich mit Judentum auseinandergesetzt. 2007 regte ich an, Judentum als die erste der Quellen der Sozialdemokratie in das neue Hamburger Grundsatzprogramm aufzunehmen, 2008 entstand Judentum und Sozialdemokratie ‒ Das antiautoritäre Fundament der SPD.  Was als dialogische Auseinandersetzung mit Judentum begann, hatte zur Auflösung des christlich-idealistischen Bezugspunkts in meinem Denken geführt. Außer der Erfindung der Auferstehung hat Christentum, so musste ich erkennen, intellektuell Judentum nichts hinzugefügt. Mit dieser Hinzufügung aber wurde alles Spezifische des Judentums zerstört. Der Holocaust, die Shoa war dann der Abschluss.

Leo Baeck, einer der bedeutendsten deutschen Rabbiner und Religionsphilosophen, erklärt, was es bedeutet, dass Judentum die Auferstehung nicht in den religiösen individuellen und kollektiven gesellschaftlich-politischen Gefühls-, Phantasie- und Denkhorizont einfügt: Das »Gebot des Menschen, das Gebot: du sollst leben, tritt ... vor alle Fragen des Jenseits« (Leo Baeck Werke Bd. 1, S. 69). Für Baeck ist Judentum die ›klassische‹ Religion, weil es keine Form von Jenseitsmystik enthält. Das ist im  Allgemeinbewusstseins Europas nur unter größten Schwierigkeiten zu verstehen. Judentum ist »Mystik  des Lebens«, dies die gelungene Formulierung Leo Baecks, und erfindet sich aus solch konkreter Mystik immer neu (Baeck schrieb das 1923 in Bedeutung der jüdischen Mystik für unsere Zeit).

Das Unterscheidungsmerkmal von Judentum und allen übrigen Sinnstiftungen ist seine Weltversessenheit. Judentum, sagt Baeck, »will nicht vom Willen und von der Welt erlösen, sondern Willen und Welt mit Gott versöhnen, das Jenseits zum Diesseits herniederführen«. »›Du sollst leben‹ ist hier das Gebot aller Gebote, selbst gegenüber dem Sterben... das Gebot, wie tief es auch im Geheimnis wurzelt, macht... (den Menschen) zum Menschen auf dieser Erde« (Leo Baeck Werke Bd. 3, Die Mystik im Judentum).
Alle anderen Religionen und religiösen Philosophien jenseits des Judentums gelten Baeck als »Mystiken des Sterbens« (Leo Baeck Werke Bd. 3, S. 86), die in sich selbst »zukunftslos« (ebd., S.90) sind, weil sie von keiner innerweltlich-religiös begründeten Zukunft handeln. Neben Christentum ist uns der Islam heute besonders plastisch, aber für Baeck galt das auch für alle anderen religiösen oder philosophischen Sinnstiftungen. Nur Judentum kennt die Verklärung des Sterbens und die Verklärung des Todes – und damit des zentralsten Gewaltphänomens des Lebens ‒ nicht. Verklärung, z.B. als Auferstehung, bedeutet, dass der verklärte Tod die Endlichkeit ‒ jüdisch die Heiligkeit ‒ des Lebens außer Kraft setzt, aufsaugt und damit die Konzentration auf das Leben schwächt oder ganz in ein fiktiv-phantastisches Jenseits umbiegt. Verklärung der Gewalt des Todes bedeutet Verklärung von Autorität, Herrschaft und Gewalt in jeder zwischenmenschlichen, gesellschaftlichen und politischen Form. Solche Verklärung steht der systematischen Kritik von Gewalt entgegen.

Gerade politisch ist dieser Unterschied und Gegensatz von Judentum und allen  anderen großen Sinngebungen menschlichen Lebens von Bedeutung. Ihr politischer Gehalt wird aber so gut wie gar nicht ausgemessen. Nur der Jude Adorno sagt: Es braucht einer »Kopernikanischen Wendung« unserer europäischen (und nicht nur europäischen) Denkgewohnheiten, nicht nur, weil sie Auschwitz nicht verhindert haben, sondern weil sie Auschwitz möglich gemacht haben. Fast wortgleich mit Leo Beack spricht Adorno von dem »gesamte(n) ideologische(n) Unwesen der Todesmetaphysiken«. Er erklärt sie aus der »wohl ... bis heute andauernden Schwäche menschlichen Bewusstseins, der Erfahrung des Todes standzuhalten, vielleicht überhaupt sie in sich hineinzunehmen« (Negative Dialektik, S. 359). Adorno weicht hier zwar aus und bekennt sich nicht dazu, dass es gerade zum Judentum (seinem Judentum) gehört, der Erfahrung des Todes standzuhalten. Judentum will nur das Leben, denn nur mit dem Leben weiß der Mensch etwas anzufangen.

Hannah Arendt, die sich immer als Jüdin verstand und bekannte, sagt es so: Uns umgibt das zweifache »Nirgends, aus dem wir mit der Geburt plötzlich auftauchen und in das wir fast ebenso plötzlich mit dem Tode wieder hinabtauchen... Die Endlichkeit des Menschen... bildet gewissermaßen die Infrastruktur aller geistigen Tätigkeiten« (Das Denken, S. 196/7). Stattdessen aber verstehen Nichtjuden sich (meist ohne es zu bemerken) so wie Hannah Arendt das Selbstverständnis der totalen Machthaber beschreibt: »Die totalen Machthaber sind von ihrer eigenen Überflüssigkeit genauso überzeugt wie von der aller anderen,... weil es ihnen offenbar einerlei ist, nicht nur ob sie leben oder sterben, sondern ob sie je geboren wurden oder niemals das Licht der Welt erblickten« (Elemente totaler Herrschaft, S. 271). Solches Gefühl von ›Überflüssigkeit‹ kann sich überhaupt nur ausbilden, wenn neben dem Etwas einem Nichts eine relevante Qualität zugesprochen wird. Solches beschädigte Selbstverständnis vermag ‒ weder privat noch politisch ‒ Verantwortung zu wecken und zu inspirieren, ist verantwortungslos aus Prinzip, dem Prinzip Jenseitsmystik, dem Prinzip der Todesmetaphysiken. Dieses unbewusste Gefühl, diese Mentalität, ja diese Denkhaltung einer grundsätzlichen Gleichgültigkeit gegenüber dem Leben (allzeit bereite aktive Karitas täuscht uns in der Regel darüber hinweg) verdanken wir den Mystiken des Sterbens: Christentum, Islam, Buddhismus... Wir leben jenseits des Judentums als Nichtjuden in alles Leben infizierenden irrationalen ‒  gegensinnigen ‒ totalitären Welten: Wenn das Nichts, ein fiktives Jenseits in unserem Denken einen Platz hat, wird totalitäres Denken und Handeln möglich, das darauf beruht, die Vernichtung des anderen aus Gleichgültigkeit denken zu können.

Kein Jude vermutlich hat diesen widersinnigen Sachverhalt so präzise und knapp auf den Punkt gebracht wie der Jude Karl Marx: »... wenn du den Menschen und die Natur als nichtseiend denkend denkst, so denke dich selbst als nichtseiend, der du doch auch Natur und Mensch bist.« (Pariser Manuskripte 1844, S. 85).
Wir können nicht beides leben: das Leben und das Nichts. Leo Baeck formuliert jüdisch: Wir leben in einer »Welt des Endlichen, Begrenzten, Vergänglichen, Menschlichen... von der  wir nicht wissen, was sie eigentlich... bedeutet« (Epochen der jüdische Geschichte, S. 340f). Die ersten Worte der Thora »Im Anfang schuf Gott...« haben deshalb ‒ in jüdischem Verständnis ‒ nicht den Sinn einer Erklärung, sondern sind  Ausdruck des Einverständnisses mit dem Leben ‒ was viel mehr ist.

Hannah Arendt hat nicht nur den Mut, der Erfahrung des Todes standzuhalten, sondern ihr auch politisch zu widersprechen. Ihre politische Philosophie macht sich  nicht mit dem Tod gemein. Sie entwickelt ihre politische Philosophie ‒ im bewussten Gegensatz zur Tradition europäischer politischer Philosophie ‒ nicht aus der Mortalität, der Sterblichkeit sondern aus der Natalität, der Gebürtlichkeit, dem Geborensein, der unendlichen Pluralität des Lebendigen.
Heute, muss Hannah Arendt konstatieren, leben wir in einer »kaum noch dinglichen Welt« (Fragwürdige Traditionsbestände, S. 75). Ihre jüdische Religiosität (und Tradition) aber lässt sie sagen, dass die dingliche Welt unser einziges »zu Hause« (Elemente totaler Herrschaft, S. 292) ist. Von uns ist gefordert: die dingliche Welt zu verteidigen oder zurückzuerobern.
Der einzelne jüdische Mensch kann und will sich nicht als nichtseiend denken, so wie es die Mystiken des Sterbens und die Todesmetaphysiken scheinbar so spielerisch ‒ aber auch verantwortungslos ‒ zu tun vermögen.

Judentum geht den Weg der Aufgeklärtheit. Historisch gipfelt das in Moses Mendelssohns Schrift Jerusalem oder über religiöse Macht und Judentum, 1783 erschienen, ein Jahr vor Kants Text Was ist Aufklärung? Mendelssohn reflektiert darin den jüdischen Begriff ‒ nicht von Aufklärung ‒ sondern von Aufgeklärtheit, der Kants klassischem Aufklärungsbegriff widerspricht und hinter sich lässt.
Mendelssohn formuliert einen Begriff von Aufgeklärtheit, der sich zuerst gegen die Sprache überhaupt und jede Begrifflichkeit richtet, da ihr Wert sich aus jüdischer Sicht darin erschöpft, nur »Zeichen« zu sein. Das bedeutet: Die eigene Sprache darf nicht nur nicht wörtlich, sie darf und kann überhaupt nicht ernst genommen werden, das gilt ebenso für die Sprache des anderen. Nur auf dieser Basis, der explizit jüdisch-erkenntnistheoretischen Basis, ist überhaupt möglich was wir so dringend benötigen: Toleranz und das friedliche Zusammenleben. Wenn Worte nur Zeichen sind, gilt das Leben, die Wirklichkeit, gilt die Offenheit für die Mannigfaltigkeit und Pluralität dessen was ist.
Dem Diktum Mendelssohns: »Die Meinung nicht an Worte binden«, dem Wahlspruch jüdischer Aufgeklärtheit, steht die Christologie als Blasphemie ebenso entgegen wie die Sprache des Koran als unmittelbares Wort Allahs.
Besitzen die Worte ihren Wert nicht mehr darin,  bloße Zeichen zu sein, dann verwandeln sie sich für Mendelssohn in »verderbliches Gift«. »Ohngötterei (Gottlosigkeit) (ist dann, H.E.) der menschlichen Glückseligkeit weniger schädlich« als »eine solche Religion« (S. 115), die bloße Zeichen »für die Dinge selbst hält« (S.106) sagt Mendelssohn. Zu einem solchen Verhältnis zu dem was der Inhalt von Denken ist führt nur eine erkenntnistheoretische Einsicht, wie die jüdische, die G'tt nicht theologisch zu erkennen behauptet.

Solches Denken besitzt seine Urkunde in der Thora, in der Sinngebung menschenwürdiger Geschichtlichkeit in Genesis 2.
Es geht um die Bewertung des dort erzählten Handelns Evas und Adams: War Evas Griff nach dem Apfel vom Baum der Erkenntnis der Sündenfall schlechthin, der uns bis heute verfolgt und alle Unvernunft, Ungerechtigkeit und Brutalität der Welt erklärt, weil er zum Verlust des Paradieses führte? Oder sollte die Erzählung vom Ungehorsam gegen das Gebot G'ttes, nicht vom Baum der Erkenntnis zu essen ‒ im jüdischen Denken ‒ nicht doch als Mitteilung eines außerordentlichen Glücksfalls verstanden werden? 
Ich mache es  kurz: Es war ein Glücksfall. So will der hebräisch-jüdische Erzähler der Thora Evas und Adams scheinbar unbotmäßiges Handeln verstanden wissen. Die Thora bietet damit die einzige Sinngebung unter den religiösen Sinnstiftungen, die die Geschichte der Menschheit aus dem Ungehorsam des Menschen gegenüber irrationaler Herrschaft, irrationalen Geboten, irrationalen Verboten verstanden wissen will ‒ und irrational war das Verbot vom Baum der Erkenntnis zu essen (selbst Hegel hat das in seiner Religionsphilosophie notgedrungen zugestehen müssen).

Das Verbot war vom hebräisch-jüdischen Erzähler gar nicht ernst gemeint, sondern nur ein didaktischer Trick, um  eine mit Sinn erfüllte Geschichte der Menschheit beginnen zu lassen und in den Blick zu bekommen. Ohne Erkenntnis wäre da nichts daraus geworden.
Eva tat also das Richtige, als sie das Verbot nicht ernst nahm und den Apfel brach. Sie zögerte nicht, gegen das Tabu zu verstoßen. Für sie waren die Worte des Verbots bloße Zeichen und keineswegs die Dinge selbst, Zeichen, die Eva sich herausnahm, selbst zu interpretieren ‒ und zu überspringen. Sie kam zu dem Schluss, dass ihnen nicht zu gehorchen sei. Die Wahrheit lag für sie im Ungehorsam: er öffnete den Blick für die Wirklichkeit. Die Todes- und Sterbensmystiken haben alles dafür getan, die Bedingungen einer menschlichen und menschenwürdigen Geschichte nahezu unkenntlich zu machen und den Ungehorsam, entgegen aller Logik, zum Sündenfall umgebogen.
Am Anfang war der Ungehorsam. Hätte Eva gehorcht, befänden wir uns noch immer im Paradies. Der Tod gehörte nicht zu unseren Zumutungen, auch nicht die Erkenntnis, die Liebe und die Geschichte. Der Ungehorsam Evas akzeptiert ‒ übermütig und achselzuckend ‒ das Sterben und den Tod. Sie wollte Erkenntnis ‒ und beiden, Eva und Adam, ging es um Erkenntnis und Liebe. Um ihretwillen akzeptierten beide das Sterben, weil sie  voll Neugier auf das Leben waren. Der Ursprung der jüdischen Mystik des Lebens ist hier IM ANFANG im Ungehorsam gegen jede Form von irrationaler Herrschaft zu finden. Der Mensch wie wir ihn kennen, der, der wir sind, soll in der hebräisch-jüdischen Sinnstiftung in den Zustand des Erkenntnishungers, der Autonomie und der Liebe zum Leben versetzt werden. Indem das erste Paar der Verführung der Schlange gehorcht, hat es G'ttes Willen entsprochen: Wie unsereiner lautet deshalb die Segensformel, mit der der Erzähler, im Namen G'ttes, beide ‒ uns alle ‒ in die wirkliche, in unsere, Welt entlässt.

Die christliche Erfindung der Auferstehung, um Sterben und Tod nicht in die Augen sehen zu müssen, setzt den Gegenpol und mit ihr nicht nur die Verklärung des Leidens und Todes, sondern ebenso des Gehorsams gegenüber der Irrationalität. Die als Wahrheit machtbewehrte Irrationalität und Autonomiefeindschaft gerät deshalb in dem zum Christentum mutierten Judentum und sämtlichen Mystiken des Sterbens zur nicht mit dem demokratischen Verfassunsgedanken kompatiblen gesellschaftlich-politischen Herrschaftsideologie. (Dass sich Christentum nach dem Holocaust schließlich pragmatisch und/oder wohlmeinend den demokratischen Spielregeln angepasst hat, muss hier nicht thematisiert werden.)
Der Ungehorsam öffnet dem Ungehorsamen die Augen über sich selbst (seine Freiheit), zugleich aber entdeckt auch der andere, der zu herrschen beansprucht (wenn er Glück hat), sich selbst in seiner Ausgesetztheit und Angewiesenheit. Der Ungehorsam ist so  Voraussetzung von Dialog, Konsens und gemeinsamem Handeln. Diese Dialektik und Denkfigur Judentum ist das Fundament einer glückenden Geschichte.

Wenn Judentum sich selbst meist so nicht gesehen hat und schon gar nicht so gesehen wurde, dann hat das seinen einzigen Grund in der Ghettoisierung des Judentums, die ihm die Luft zum Atmen und zur Selbstpräsentation raubte. Leo Baeck spricht davon, dass das Judentum sein Eigenes nie »hinausrufen« durfte. »Die, die es lebten, ... trugen das bestimmte Bewusstsein des Eigenen in sich, aber sie konnten nur zu sich davon sprechen« (Leo Baeck Werke Bd. 1, S. 281). Die Denkfigur Judentum wurde deshalb auch für uns ‒ für Nichtjuden ‒ nie zu einer ernstlich zu berücksichtigenden erkenntnistheoretischen und geschichtskritischen Position und Herausforderung.
Nach den Erfahrungen von mehreren tausend Jahren Geschichte im Zeichen des Gehorsams ‒ und der erfolgreichen Diskreditierung und Marginalisierung des Ungehorsams und mit ihm des Judentums ‒, die ihren Höhepunkt in der  Shoa erreichte, hat der Gehorsam seinen schon immer menschenverachtenden Anspruch verwirkt. Zur hebräisch-jüdischen menschenfreundlichen Sinngebung menschheitlicher Geschichte hat er ‒ nach jüdischer Sinngebung und jüdischem Denken ‒ nie gehört. Leo Baeck hat das in seinem für die Unterscheidung der Religionen grundlegenden Text Romantische Religion aus dem Jahr 1922 mit unüberbietbarer Deutlichkeit herausgearbeitet.

Wozu führen die bisher angeführten Überlegungen?
Susannah Heschel, die amerikanische – jüdische – Judaistin, Tochter des bedeutenden polnisch-amerikanischen Religionsphilosophen Abraham Heschel, arbeitet den emotionalen, widerständigen Kern allen Un- und Missverständnisses zwischen Juden und Christen in der Analyse des Werkes von Abraham Geiger, einem der Gründer der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums in Berlin 1870, heraus:
Mit ›Umkehrung des Blicks‹ benennt sie die Intention Geigers. Wie gewinnt sie dieses Bild? Sie erinnert an eine Ausstellung mit Gemälden Édouard Manets und das darin gezeigte Gemälde Olympia, das einen Skandal im Paris des Jahres 1865 provozierte. Das Bild zeigt »eine nackte weiße Frau auf einer Chaiselongue... dahinter stehend eine bekleidete schwarze Frau... Olympia schockierte, weil sie den Blick umkehrte, sodass nicht mehr der Betrachter ein Gemälde anschaute, sondern das Bild den Betrachter anzustarren schien« (S. Heschel, Der jüdische Jesus und das Christentum, S. 27).

Und nun Geigers Intention in den Worten Susannah Heschels: Die »Logik seiner historischen Argumentation« stellte »eine Umkehrung des allgemein anerkannten europäischen Selbstverständnisses« dar, ... »Seine Forschung zielte nicht auf eine Christianisierung des Judentums, sondern auf eine Judaisierung des Christentums« (ebd., S. 29). »Geigers Wahrnehmung des Christentums entspricht dem Blick von Manets Olympia. Indem er die Position des Beobachtenden, der Christen, die über das Judentum schreiben, verkehrte, so dass ein Jude über das Christentum schrieb, kehrte Geiger die Machtverhältnisse zwischen Betrachter und Betrachtetem um« (ebd., S. 54).
Mit dieser unschuldigen Umkehrung des Blicks rief Geiger »unter christlichen Theologen eine tiefe Erbitterung, die weit über die Grenzen des wissenschaftlichen Diskurses hinausging« (ebd., S. 27), hervor.
An die Stelle der Erbitterung ist heute die Selbstgerechtigkeit der Einsichtigen getreten, die mit gänzlichem Unverständnis Geigers Programm der Judaisierung des Christentums zurückweisen würden. Was sie einsehen und kritisch nachvollziehen können, das ist die fast zweitausendjährige respektlose Zurücksetzung und Annullierung des Judentums durch das Christentum und die Aufnahme der Shoa in den Kanon der kollektiven Erinnerung als Verbrechen an der Menschheit. Diese Einsicht aber ist nicht gleichbedeutend mit einem Verstehen, mit einer Durchdringung von Judentum. Judentum – auch nach Auschwitz – bleibt, wenigstens bisher, auf sich selbst zurückgeworfen. Juden konnten, wie Leo  Baeck sagt, »nur zu sich davon sprechen«.

Hier nun einige Antworten zur aufgeworfenen Frage:
1.Wir müssen im Dialog die ›Umkehrung des Blicks‹ trainieren: Christentum mit den Augen des Judentums betrachten;
2.Wir müssen Adornos Programm wahr machen: »dass die Menschen durch das Erziehungssystem zunächst einmal alle mit dem Abscheu vor der physischen Gewalt durchtränkt werden« (Erziehung zur Mündigkeit, S. 130);
3.In Zusammenarbeit müssen die Religionen in Gesellschaft, Wirtschaft und Staatswesen  mehr Demokratie organisieren;
4.Wir müssen in der Erziehung zum Ungehorsam erziehen (dabei ist Ungehorsam mehr als Widerstand, als Aufbegehren, als Empörung), denn ihm geht es um Erkenntnis und Liebe und damit um Dialog und Konsens, um die menschliche Ordnung von Beziehungen und Zukunft, um einen sozialen Gegenentwurf in jeder akuten zwischenmenschlichen, sozialen und politischen Beziehung;
5.Die Antwort auf Auschwitz heißt Judentum, der einzige Weg, aus der Erinnerung an die Verbrechen des autoritär-totalitären Charakters  dauerhaftes, Sinn getränktes, menschliche Wirklichkeit erfindendes Handeln hervorzurufen;
6.Der G'tt des Judentums ist weder der des Christentums noch der des Islam, denn er ist das, was ist und was sich wandelt: seine Wahrheit ist Erkenntnis und Liebe, beides der

Ursprung von Zärtlichkeit als Antwort jüdischer Aufgeklärtheit auf die bloße Zeichenhaftigkeit all dessen was wir denken.
Dialog und Zusammenarbeit von Christen und Juden ‒ Religionen überhaupt ‒ haben dann eine Zukunft unter der jungen Generation, wenn sie sich im Willen zur ›Umkehr des Blicks‹ neu versammeln: einer Rückkehr zu den Bedingungen menschlicher Erkenntnisfähigkeit.
Judentum und Christentum nebeneinander gestellt macht deutlich, dass die Rede vom Judentum als der Wurzel des Christentums falsch ist: Für Judentum ist das Christentum nicht Stamm und Krone. Judentum ist nicht das Wurzelwerk des Christentums. Der Gott des Judentums ist nicht zum Anfassen und hat kein Gesicht, ein Vorwurf, den Benedikt XVI. meint in seiner zweiten Enzyklika Über die Hoffnung den Juden Theodor W. Adorno und Max Horkheimer machen zu sollen.
In ihrer »äußersten Radikalisierung des alttestamentarischen Bilderverbots« haben sie, sagt der Papst, so »entschieden ... an dieser Bilderlosigkeit« festgehalten, dass sie unfähig seien zu erkennen, dass die »Menschwerdung Gottes in Christus... beide -  Gericht und Gnade – so ineinander gefügt (hat), dass Gerechtigkeit hergestellt wird« (Spe salvi, Abs. 47).

Nach Auschwitz ist ein solcher Vorwurf abenteuerlich und beleidigend. Er trifft nicht nur Adorno und Horkheimer und die gesamte jüdisch geprägte Kritische Theorie der Gesellschaft, er trifft die Überlebenden der Shoa, ihre Kinder, Enkel und Urenkel. Der Vorwurf des Papstes kommt einem erneuerten Bannfluch über das Judentum gleich und erklärt manche Handlung, die die Öffentlichkeit in der kurzen Zeit seines Wirkens mit Unverständnis zur Kenntnis genommen und Juden verstört hat.
G'ttes Versprechen (oder - was dasselbe ist - unser Versprechen an uns selbst) in der Thora ist nicht die »Auferstehung des Fleisches« sondern dass »es uns das ganze Leben gut geht und er uns Leben schenkt, wie wir es heute haben«. Die Gebote zu ›halten‹ hat nur einen Zweck: »damit ihr Leben habt«. Beide, Judentum und Christentum, sind deshalb auch keine Geschwister und zusammen mit dem Islam auch keineswegs die heute so gern verklärten  abrahamitischen Religionen, die als Religionen sich etwas zu sagen hätten.

Die Religionen können nur darin wetteifern, den demokratischen Rechtsstaatsgedanken, der den Ungehorsam des Individuums zu legitimieren, zu organisieren und zu institutionalisieren ausgezogen ist, zu schärfen, zu stärken, den ökonomischen Bereich damit zu durchtränken und bis in den letzten Winkel der Erde auszudehnen. Das geht nicht ohne den unbefangenen und begeisterten Rekurs auf den Ungehorsam, die jüdische Sinnstiftung der Menscheitsgeschichte, deren Epos das irdische Beheimaten der menschlichen Gattung erzählt.
Es gilt, diese ›Umkehr des Blicks‹, auf den Susannah Heschel die Aufmerksamkeit gerichtet hat, ohne Angst in allen Sinnstiftungen zu vollziehen. Er weist in kein Nichts, sondern in das Leben, das Judentum durch die Jahrtausende getragen hat und das uns alle trägt, wenn wir es wollen. Allerdings: die Umkehr des Blicks ist ein individueller Akt des Ungehorsams gegen das allgemein anerkannte europäische Selbstverständnis, oder ‒ global ‒ wie Adorno sagt, gegen das gesamte ideologische Unwesen der Todesmetaphysiken, denn: »Kein Paradies kann dem Menschen verlockender sein als das Leben selbst«.

 

Der Beitrag ist eine von der Redaktion leicht bearbeitete Version eines Vortrags, den der Autor am 25. Oktober 2009 in Mannheim zum 50-jährigen Bestehen der CJZ Rhein/Neckar im Festsaal des jüdischen Gemeindezentrums hielt.