von Jörg Büsching

1.

Angestoßen von den Fortschritten in der Informationstechnologie und befeuert von den deregulierten Kapitalmärkten hat die Weltwirtschaft seit den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts eine Dynamik entfaltet, die selbst die kühnsten Erwartungen übertroffen hat. Die damaligen Protagonisten in Wirtschaft, Wissenschaft und Politik fühlten sich gar berechtigt, die Heraufkunft eines neuen Zeitalters zu konstatieren, in dem viele der Gegensätze, die sich zuvor ganz handfest als weltgeschichtlicher Antagonismus manifestiert hatten, einfach in Luft aufzulösen schienen. Tatsächlich gelang es in den Entwicklungs- und Schwellenländern Asiens, Hunderte von Millionen Menschen aus der Falle von Armut, Hunger und mangelnder Bildung zu befreien.

Dieser positive Effekt wurde nicht zuletzt durch einen großangelegten Strukturwandel der Ökonomien in den westlichen Industrieländern, allen voran den USA und Großbritannien erreicht. Die Industrieproduktion, insbesondere von Konsumgütern, aber auch ganze Branchen der Schwerindustrie, wurden nach Asien ausgelagert; dafür entstanden neue Arbeitsplätze im Dienstleistungsbereich, und zwar nicht nur, wie ein besonders hierzulande verbreitetes, hartnäckiges Vorurteil behauptet, als sogenannte Mac-Jobs in Schnellrestaurants und Ladenketten: Für die Dynamik sehr viel entscheidender waren die hochdotierten Stellen in Beratungs-, Wirtschaftsprüfungs- und Maklergesellschaften, Designbüros, Anwaltskanzleien, Investmentbanken und Fonds.

Erkauft wurde diese nach den Stillständen bzw. Rückschlägen der siebziger Jahre neugewonnene Dynamik freilich mit einer größeren Volatilität der Märkte und zunehmender Unsicherheit für die abhängig Beschäftigten. Eine Reihe verheerender Krisen in Asien und Südamerika, die sich durch Rückkopplungseffekte in den deregulierten globalen Finanzmärkten und Fehlsteuerungen von Seiten der internationalen Institutionen noch unnötig verschärften, haben nicht nur einen großen Teil des erreichten Fortschritts dort zunichte gemacht, sondern auch in den entwickelten Ländern des Westens einen deutlich sichtbaren Flurschaden hinterlassen, der bei einigen der Vordenker, die zu Beginn der Epoche in wichtigen Regierungsämtern saßen oder als wissenschaftliche Berater tätig waren, zu einem durchgreifenden Sinneswandel geführt hat.

Einer der prominentesten unter ihnen ist der Wirtschaftsnobelpreisträger und ehemalige Chefvolkswirt der Weltbank Joseph E. Stiglitz. In seinem Buch »The Roaring Nineties. Vom Boom zum Crash«, München 2004 (Originalausgabe: The Roaring Nineties: »A New History of the World’s Most Prosperous Decade«, New York 2003) räumt er mit den hartnäckigsten Mythen seiner Zunft auf, etwa der berühmten Metapher der »unsichtbaren Hand«, der Mär von den »effizienten Märkten« und den Erfolgsstories so mancher »Leistungsträger« der »New Economy«. Stattdessen benennt er die Fehler, die damals – auch unter seiner Ägide – in den Ministerien und internationalen Institutionen begangen wurden und mahnt ein ausgewogenes Verhältnis von Staat und Markt an, um Exzessen wie den von (teilweise legalen) Bilanzmanipulationen und dreisten Betrugsmanövern noch zusätzlich aufgeblähten Finanzblasen vorzubeugen. Am Schluss seines Buches entwirft er das Modell eines »Neuen Demokratischen Idealismus«, der wieder die Belange und Bedürfnisse aller Teile der Gesellschaft berücksichtigt, und erklärt mit Albert Hirschmans These von den sich abwechselnden historischen Phasen des »Individualismus und der »Gemeinwohlorientiertung« (vgl. S. 307) die Epoche der »Roaring Nineties« für beendet, weil, so seine Beobachtung als Lehrer an der Columbia University, die jungen Leute »das Pendel wieder in Richtung Gemeinwohl ausschlagen lassen« (ebd.).

Auch wenn es unangemessen erscheint, Stiglitz die Krise von 2007/08 als Widerlegung seines optimistischen Fazits vorzuhalten (verantwortlich dafür dürften kaum die Studenten der Jahrgänge um 2002/03 sein!), ist doch angesichts der schlichten Pendelmetapher Skepsis angebracht. Ein Pendel kehrt immer wieder in seine Ausgangslage zurück, nicht aber die Geschichte, denn das würde ja z. B. auch bedeuten, dass die Fortschritte in Asien sowie die Umstrukturierungen bei uns wieder rückgängig zu machen wären. Aus einem chinesischen Bauern oder Handwerker, der es zum Industriellen gebracht hat, wird aber ganz sicher nicht wieder ohne weiteres ein selbstgenügsamer Bauer oder Handwerker werden, und aus einem amerikanischen oder europäischen Broker oder Unternehmensberater wird man so wenig einen Stahlkocher oder Schweißer machen können wie vice versa.

Natürlich lässt sich (anders als spiel- oder systemtheoretisch indoktrinierte »Analysten« zu glauben scheinen) die Zukunft niemals sicher prognostizieren. Doch wenn man einen Blick auf aktuelle Äußerungen jener wirft, die hierzulande als selbsternannte »Leistungsträger« am meisten von den Entwicklungen der neunziger Jahre profitiert haben, sei es, dass sie hochdotierte Posten in Staat und Wirtschaft innehatten und -haben oder als ideologische Wasserträger und Hofnarren mit postmodernen Modephilosophien den Veränderungen trügerisch leichtfüßige weltanschauliche Rechtfertigungen und talmihaften, ästhetischen Glanz verliehen, dann beschleicht einen das ungute Gefühl, dass wir (wie der alte, chinesische Fluch besagt) »interessanten Zeiten« entgegengehen.

2.

»Deutschland schafft sich ab« konstatiert der ehemalige Berliner Finanzsenator Thilo Sarrazin vom Hochaltar der Deutschen Bundesbank herab ebenso eingängig wie provokativ und sucht seine krude Tatsachenbehauptung mit statistischem Material und halbgaren Verweisen auf die Genetik zu untermauern. Journalisten, die ihn im Vorfeld des Erscheinens bereits zu denunzieren versuchten, begegnet er in gewohnt kämpferischer Manier und verweist auf die Objektivität seiner »Untersuchung«. Kritiker, die diese nicht würdigten, seien schlichtweg nicht satisfaktionsfähig, geradeso als hätte er nicht die politische Kampfschrift vorgelegt, als die seine Fans und Verteidiger das Buch ohne Zweifel betrachten werden. Es reiht sich nahtlos ein in die schier unendliche Reihe von Büchern deutscher Professoren (»Scheitert Deutschland?«, »Ist Deutschland noch zu retten?«, »Die deformierte Gesellschaft« etc. pp), die mit ihrer Erweckungs- und Hau-Ruck-Prosa seit Jahr und Tag dem Volk ins Gewissen zu reden versuchen, sich doch mehr anzustrengen, mehr Kinder zu erzeugen, den Gürtel enger zu schnallen, von liebgewonnenen Besitzständen Abschied zu nehmen ... All das selbstverständlich zum Wohle des Großen Ganzen. Sarrazin unterscheidet sich lediglich durch die publizistische Begleitmusik, zieht er doch offensichtlich die schrille Atonalität dem in gesetztem Marschtakt vorgetragenen Moll-Dreiklang vor.

Was den Bundesbankmanager hingegen mit den Barings, Miegels und Sinns verbindet, ist offensichtlich dieser unausrottbare deutsche Professorenglaube an die Substantialität des Gemeinwesens. Wie sonst sollte sich all dieses schwermütige Appellieren an das (nicht existente) Kollektivsubjekt namens Deutschland erklären lassen? Gegen den Weitblick und die Erfahrung eines Joseph Stiglitz, die mitreißende visionäre Kraft eines Jeffrey Sachs und die analytische Schärfe und pointierte Formulierungskunst eines Robert Reich nehmen sich diese blutleeren Untergangspropheten jedenfalls so schrecklich zwergenhaft aus, dass man schon deshalb um den Platz des ehemaligen Volkes der Dichter und Denker in der neuen globalisierten Welt fürchtet – ganz ohne den angstvoll-scheelen Blick auf Kreuzberger Gemüseläden, verpatzte Pisastudien oder rückläufige Geburtenraten richten zu müssen.

Freilich, man könnte sich mit mild missbilligendem Kopfschütteln von diesem bizarren Trauerzug abwenden und leichthin zur Tagesordnung übergehen, würde sich nicht aus der Schar der ihm folgenden Hofnarren wie aus den Reihen der am Straßenrand stehenden Claqueure ein schieferer Ton hinzugesellen, ein gefährlich aufwieglerischer Ton: wenn etwa ein habilitierter Meinungsdesigner öffentlich über eine Partei rechts von der CDU als Hort der »Bürgerlichkeit« nachdenkt, ein saturierter Großdenker, sekundiert von einem pensionierten Literaturprofessor, das moderne Gemeinwesen der Gnade von schenkenden Besitzbürgern ausliefern möchte und ein Funktionär ebendieser Besitzbürger am liebsten die Kanonenbootpolitik Wilhelms II. wiederaufleben lassen würde.

Erst in der Zusammenschau dieser unterschiedlichen publizistischen Reaktionen auf die ›deutsche Krise‹ ergibt sich ein Bild, das die (vermeintlich) großbürgerliche Attitüde mit dem Lamento über den »Werteverfall«, den mannigfaltigen Klagen über das Versagen der Institutionen und den populistischen Angriffen auf Minderheiten und Andersgläubige zu einem erkennbaren Muster vereint. Vorgeblich auf dem Boden der bürgerlichen Demokratie – bzw. im Falle Sarrazins der sozialdemokratischen Bewegung – argumentierend (einen besonders perfiden Versuch, die Parteizugehörigkeit des Volkswirts und Bundesbankvorstands großbürgerlicher Herkunft auszuschlachten, indem dessen unausgegorene Verweise auf die Genetik mit sozialdarwinistischen Äußerungen und Programmatiken von Sozialdemokraten aus den zwanziger und dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts – als diese Denkrichtung nicht nur in Deutschland in Mode war – in Verbindung gebracht werden, um so durch eine behauptete Kontinuität eugenischer Bestrebungen letztlich die heutige Sozialdemokratie zu denunzieren, unternimmt der Politologe Franz Walter in seinem ZEIT-Artikel »Sozialdemokratische Eugenik«, http://www.zeit.de/politik/deutschland/2010-08/sarrazin-spd-eugenik; 1. September 2010), bedient diese Mesalliance aus konservativen, national-liberalen und technokratischen Kräften ein kleinbürgerliches Ressentiment, das die genossenen wirtschaftlichen Vorteile der Globalisierung vor allem der eigenen Leistung zuschreibt, während gleichzeitig die politischen und humanitären Herausforderungen des Zusammenwachsens der Welt als Bedrohung der ›kulturellen Identität‹ aufgefasst werden. Mit anderen Worten, hier paaren sich Besitzstandsdenken und sozio-kulturelle Arroganz zu einer gefährlichen populistischen Mischung, um einerseits den eigenen Status quo zu wahren und andererseits der Frustration des im globalen Konkurrenzkampf unterlegenen Mittelstandes eine neue, für das eigene Wohlergehen ungefährliche Stoßrichtung zu geben.

3.

Um die rechtspopulistischen Vorstöße, die sich, in unterschiedlichen parteipolitischen Manifestationen, in vielen europäischen Ländern zu zeigen beginnen, besser beurteilen zu können, empfiehlt der niederländische Politologe Cas Mudde in seinem Aufsatz »The populist radical Right: A pathological normalcy« (http://www.eurozine.com/articles/2010-08-31-mudde-en.html; 1. September 2010) einen Perspektivwechsel in der politikwissenschaftlichen Betrachtung. Die Theorie rechtspopulistischer Bewegungen in westlichen Demokratien sei seit den Arbeiten von Daniel Bell in den USA und Erwin K. Scheuch und Hans D. Klingemann in Deutschland von der Auffassung ausgegangen, es handele sich dabei um pathologische Abweichungen von der (demokratischen) Normalität (»normal pathology These«), die vornehmlich in psychologischen Kategorien abzuhandeln seien. Eine Grundaussage dieser Theorie, die auch in den entsprechenden Arbeiten des Frankfurter Instituts für Sozialforschung unter Theodor Adorno vertreten wurde, war, dass ein relativ kleiner Prozentsatz der Bevölkerung anfällig für rechtsradikale politische Ansichten sei und diese getrennt von den demokratischen Meinungen der Mehrheitsbevölkerung untersucht werden müssten.

In seinen Ausführungen kommt Mudde zu dem Ergebnis, dass diese These von den empirischen Befunden im heutigen Europa nicht gedeckt sei. Vielmehr müsse konstatiert werden, dass die Aussagen rechtspopulistischer Demagogen zu den Themen »Korruption (der ökonomischen und politischen Eliten)«, »Immigration« sowie »innere Sicherheit«, von einem großen Teil der Bevölkerung geteilt würden, wenn auch nicht unbedingt deren radikale ›Lösungs‹-Vorschläge. Deshalb sollten rechtspopulistische Ansichten nicht länger als pathologische Abweichungen von der Normalität angesehen werden, sondern als deren Übertreibungen (»pathological normalcy«). Eine wichtige Konsequenz dieses Perspektivwechsels ist, dass der Aufstieg oder das Scheitern rechtspopulistischer Parteien nicht mehr ohne weiteres in ein Urteil über Anfälligkeit bzw. Immunität der Bevölkerung des jeweiligen Landes für rechtspopulistische Propaganda umgemünzt werden können. Die Vorbehalte gegenüber Rechtsparteien in Deutschland sind vor allem der Geschichte des Dritten Reiches geschuldet. Konfrontiert mit den unter Punkt eins umrissenen Herausforderungen der sich rasch wandelnden Weltwirtschaft, suchen sich die entsprechenden populistischen Gegenreaktionen hierzulande deshalb andere Wege. Sarrazin nimmt in dieser Gemengelage eher den Part des technokratischen Unterstützers ein, der mit seinem mit biologistischen Pseudoargumenten unterfütterten bilanzierenden Effizienzdenken den Verwaltern und Verwertern des »Menschenparks« Munition und legitimierende Objektivität zuschanzt. Dem ließe sich im Übrigen viel leichter begegnen, wenn nicht auf der anderen Seite die Tendenz bestünde, die tatsächlich bestehenden Problemkerne (die, das muss man sich auch immer wieder vor Augen führen, unser Land ja nicht flächendeckend betreffen, sondern auf einzelne ›Brennpunkte‹ in den Metropolen begrenzt sind) mit einer, ebenfalls der deutschen Vergangenheit geschuldeten, Konsenssoße zuzukleistern, die mehr Wert auf Sprachregelungen als auf Problemlösungen legt.

Mudde weist darauf hin, dass die rechtspopulistischen Bewegungen sich nicht auf sozio-ökonomische Themen konzentrieren, sondern auf sozio-kulturelle. Sie reißen diese an sich, um damit in der breiten Öffentlichkeit Unterstützung für ihre auf Ungleichheit und Autorität setzende Ideologie zu erhalten. Damit würde der ›cultural turn‹ freilich in eine fragwürdige Richtung gelenkt, war doch der postkolonialistische Emanzipationsdiskurs eine seiner wichtigsten Wurzeln. Sich heute noch gegen eine Welt stemmen zu wollen, in der unterschiedliche Kulturen immer enger zusammenrücken (müssen) und mehr denn je aufeinander angewiesen sind, mutet aber nachgerade absurd an und ist – nicht nur in ökonomischer Hinsicht – selbstmörderisch. Insofern darf die »Okkupation der Kulturen« (Polanyi) durch rechtspopulistische oder faschistische Bewegungen auf gar keinen Fall unwidersprochen bleiben.

 

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