von Herbert Ammon
Kritiken der reinen Immanenz – die Klimakrise als Religionsersatz
Nach kurzen Jahren der Hoffnung im Gefolge des Mauerfalls steht die Welt erneut im Zeichen des Unheils: Kriege, Klimawandel, negative Wirtschaftsdaten, Islamismus, Migration, Gewalt, alternde Gesellschaft, dazu der massenhafte Exodus aus den Kirchen. Dem politischen Befund entspricht die geistige Situation der Zeit unter dem Signum der Postmoderne. Deren Leitmotiv ist die ›Dekonstruktion‹ aller Begriffe und ›Erzählungen‹, die ehedem – selbst nach der Geschichtskatastophe des II. Weltkriegs und des Holocaust – noch Orientierung boten. Die Maxime ›Anything goes‹ ist gepaart mit Hypermoral und dem Postulat umfassender Emanzipation.
Im vorliegenden Buch skizziert der Mitherausgeber Sebastian Kleinschmidt die Lage wie folgt: »Man hat den Eindruck: sittliche Übereinkunft und gesunder Menschenverstand, antikes und jüdisch-christliches Erbe, Aufklärung und pragmatische Vernunft befinden sich im freien Fall.[...] Wenn bis hin zur Geschlechtlichkeit nichts mehr sicher ist, wenn Logik, Sprache und Grammatik zuschanden werden, zerbricht der Rahmen, der eine...demokratische Gesellschaft zusammenhält.« (8) Statt in Kulturpessimismus zu verfallen, sind die Autoren des Bandes – hauptsächlich Theologen, dazu der Historiker Egon Flaig und der emeritierte Politiker Wolfgang Thierse – bestrebt, durch Analyse und Wegweisung dem Zerfall in Kirche und Gesellschaft entgegenzuwirken.
I
Der Band ist in fünf Teile – Naturbild, Menschenbild, Gesellschaftsbild, Geschichtsbild, Gottesbild – gegliedert. Im ersten Teil untersucht zunächst der an der Martin-Luther-Universität Halle Wittenberg lehrende Systematiker Dirk Evers das – anthropologisch und theologisch – grundlegende Verhältnis von Natur und Kultur. Ausgehend von Charles Darwin, der entgegen populärem, naturalistischen Missverständnis in seiner Evolutionstheorie eben auch der Emotion in Man and Animal spezifische Bedeutung beimaß, sowie unter Bezug auf den Physiker Erwin Schrödinger betont er die Bedeutung kulturell bedingter Erkenntnisse über Prozesse der Natur. Er leitet daraus die Chance auf »einen erneuerten Umgang mit der Natur jenseits von anti-intellektualistischer Natur-Romantik und naturalistischem Determinismus« sowie »neue Perspektiven einer gelassen-zuversichtlichen Selbstbestimmung und eines auf wechselseitige Lebensförderung ausgerichteteten Miteinanders« ab (29f.) Im Hinblick auf die ›grüne‹ Apokalyptik und auf die gegenwärtigen und künftigen Konflikte hätten diese Perspektiven noch einer genaueren Defintion bedurft.
Vor dem Hintergrund des Ukraine- und des Gaza-Krieges ist die christliche Friedensbotschaft kaum noch zu vernehmen. Über Jahrzehnte hin bestand die Antwort der evangelischen Kirchen auf die bedrückenden Fakten des Weltgeschehens aus Variationen des ökumenischen Dreiklangs: ›Friede, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung‹. Eben dieses trinitarische Dogma des liberalen Protestantismus zerlegt der Systematiker Günter Thomas in seinem Aufsatz. Zum einen handle es sich nicht um eine ideelle Dreiheit, sondern um eine Doppelformel, da Friede und Gerechtigkeit in friedensethischer Absicht stets verknüpft erscheinen. Die – oft biblisch begründete (»Frieden und Gerechtigkeit küssen sich«, Ps. 85, 11) – Zielsetzung eines »gerechten Friedens« sei im Hinblick auf stets nur bedingt »gerechte«, auf Kompromiss gegründete Friedensschlüsse nicht nur unrealistisch, sondern letztlich utopisch. Eine andere Schwachstelle der theo-politischen Formel ist die fehlende christliche Gottesklage über die »Totenfelder der Geschichte«. (43) Zu ergänzen wäre die selektive Wahrnehmung von Unrecht, von Kriegen sowie von Kriegsursachen.
Noch schärfer weist der Autor die Formel »Bewahrung der Schöpfung« (in der lingua franca der Ökumene: integrity of creation) zurück. Die Vorstellung einer ›guten Schöpfung‹, abgeleitet von einer simplifikatorischen Synthese der beiden Schöpfungsberichte (Gen. 1,1–2,4a, Gen. 2,4b–25) entstamme einem ›paradiesischen‹ Imaginationsraum, mithin der Romantik. Schöpfungstheologische Appelle ignorieren die nicht menschengemachte, in der Natur selbst vorhandene Gewalt. Mehr noch: Hinter dem Heilung verheißenden Konzept ›Gaia‹ komme ein christlich verbrämtes Neuheidentum zum Vorschein.
Kritisch bedacht wird der im Oktober 2023 von 250 Theologen und Kirchenpolitikern an Politiker gerichtete Appell für Klimaziele. Hinter dem Pathos, mit dem ›Seher‹ (bzw. Seherinnen) wie – die inzwischen abgemeldete – Greta Thunberg oder Luisa Neubauer – die Klimarettung als Ersatzreligion propagieren, treten Machtansprüche hervor. Im Gefolge der Öko-Religion ist ein gnostischer Antinatalismus wieder erstanden, was der Theologe Thoma wie folgt kommentiert: »Die Erde zu lieben, erteilt dann die Lizenz, den Menschen zu hassen.« (52).
Thomas Kritik an der ökumenischen Doppelformel zielt auf den Kern politisch progressiver Theologie, die sich – zugespitzt in der Rede vom ›Tod Gottes‹ – weitgehend auf Dietrich Bonhoeffers Aussagen zum »Verzicht auf die Arbeitshypothese Gott« in seiner späten Gefängnistheologie bezieht. Philosophisch betrachtet handelt es sich – selbst in der auf eine (post-)moderne imitatio Christi gerichteten Theologie – um die Proklamation einer »radikalen nachtheistischen horizontalen Transzendenz«. (55)
Wenn es den Herausgebern um eine Kritik am progressiven Nachtheismus – zugespitzt in Dorothee Sölles Konzept von ›Atheistisch an Gott glauben‹ (1966) – geht, so hebt sich davon der nachfolgende Text ab. In seinem Essay Rede der Kreatur an die Kreatur – der Text wäre auch im V. Teil ›Gottesbild‹ einzuordnen – plädiert auch der Pfarrer und Dichter Christian Lehnert für eine Umdeutung des Schöpfungsgedanken, wenn er fragt: »Ist das Bild einer Schöpfung und deren Urhebers außerhalb ihrer selbst, das Raumkonzept einer Schöpfungswelt wirklich so essentiell für das Christentum, wie es über Jahrhunderte erscheint und krisitisiert wurde?« (60f.) In Reflexionen über das Verhältnis von Natur, Mensch als Subjekt und Gott, in denen er sich zum einen auf den lógos des Johannes-Evangeliums sowie auf das Bild des ›kosmischen Christus‹ (Kolosser 1,15-20), zum anderen auf den Mystiker Jakob Böhme und dessen ›Urgrund‹ bezieht, versucht er, den in Wissenschaft und Aufklärung verwurzelten Trandszendenzverlust zu überwinden.
II
Die – ungeachtet der Rede von der ›Rückkehr der Religion‹ – fortschreitende Säkularisierung der Gesellschaft, die Ethisierung der Theologie sowie die Moralisierung des Sündenbegriffs haben das alte christliche Glaubenskonzept von Schöpfung-Fall-Erlösung aufgelöst. Allgemein wird im liberalen Protestantismus ›Sünde‹ durch Schuld ersetzt, was – politisch säkularisiert – nichts mehr mit dem alten Bekenntnis von ›mea culpa‹ gemein hat. Für Theologen wie Klaas Huising, der in einem Buchtitel Schluss mit der Sünde proklamiert, vermittelt der Begriff ›Sünde‹ nur noch ein negatives Menschenbild. Bei Huising wird Sünde zu »zurechenbarer Schuld«, wie dem Beitrag von Annette Weidhaus (»Was den Menschen zum Menschen macht«) zu entnehmen ist. 106)
Weidhaus hält an der theologischen Notwendigkeit des Sündenbegriffs fest, auch wenn sie Augustins ›Erbsünde‹ und dessen Ausfächerung im katholischen Sündenkatalog für untauglich erklärt. Der Verzicht auf die Sünde – als ›Getrenntsein von Gott‹ – entspringe dem Rousseauschen Irrglauben von der natürlichen Güte des Menschen sowie dem optimistischen Vernunftbegriff der Aufklärung. An dieser Stelle übersieht die Autorin die aufklärerische Skepsis eines David Hume. Zu Recht fragt sie jedoch – auch unter Bezug auf die politischen Fehlleistungen der Friedensaktivistin Dorothee Sölle – wer bestimme, was vernünftig sei.
Mit der Durchsetzung universaler Ideen und/oder im Kampf gegen das ›Böse› kommt Gewalt – und Fehlbarkeit – ins Spiel. Außer auf Luther, dem die ›Entmoralisierung‹ des Sündenbegriffs – mithin der Verweis auf die Gnade Gottes – zu verdanken sei, stützt sich Weidhaus auf den – im Buch vertretenen – in Wien lehrenden Ulrich Körtner, den sie wie folgt zitiert:
Einen anderen Akzent setzt der als Theologe in der politischen Bildung tätige Wolfgang Sander, wenn er gleichfalls die Säkularisierung des Sündenbegriffs – in Gestalt des ständigen Vorwurfs der tonagebenden Moralisten an die uneinsichtige (›unbußfertige‹) Mehrheit der – zu ergänzen ›reichen‹ – Gesellschaft ins Visier nimmt. Etwas vereinfachend – es fehlt der Bezug auf die grundlegende Paideia (Werner Jaeger) der Antike –, sieht Sander die Idee der Bildung »in der europäischen Kultur wesentlich durch christliche Impulse« geprägt. (109) Als deren Protagonisten Bildung nennt er die Humanisten, aber auch Meister Eckart und Luther. Selbst die berühmte Rede des Platonikers Pico della Mirandola Über die Würde des Menschen (De dignitate hominis) geht von einem christlichen Menschenbild aus. »Bis heute ist keine andere, rein säkulare Begründung der Menschenwürde erkennbar.« (117). Es steht zu bezweifeln, dass all denen, die bei jeder Gelegenheit Art. 1 GG beschwören, dieser philosophiegeschichtliche Hintergrund überhaupt bewusst ist.
Kennzeichnend für den in Politik und Kirche verbreiteten zivilreligiösen Moralismus ist die Leerstelle Metaphysik, erkennbar am Verschwinden des Wortes ›Gott‹ – etwa bei der Eidleistung von Amtsträgern – aus der öffentlichen Sprache. Von kirchlicher Seite ist dazu kaum Widerspruch zu vernehmen. Immerhin führt der in pathetischen Reden beschworene Begriff ›Gerechtigkeit‹ zurück auf Platon und über diesen zurück auf ›Gott‹ (hò theós). Explizit bekennt sich Friedemann Richert in seinem Beitrag (Seele und Glückseligkeit. Platon als Seelenlehrer) – in Anlehnung an seinen Lehrer Robert Spaemann sowie an den Physiker, Mathematiker und Philosophen Alfred North Whitehead (1861-1947) – zu Platon als geistigem Widerpart zur modernen bzw. postmodernen, seelenlosen, entzauberten Welt.
III
Der Katholik und Sozialdemokrat Wolfgang Thierse spricht zwar auch von der Klimakrise als bedrohlichem Signum einer ›Zeitenwende‹, wendet sich jedoch deutlich gegen ideologische ›Wokeness‹-Diktate.
Auf die Konsequenzen des in postmodernem Gewand und mit politisch-autoritativem Anspruch wiedergekehrte Thema ›Identität‹ verweist der Religionsphilosoph Ingolf Dalferth, der die Zerstörung wissenschaftlicher Standards an der kalifornischen Claremont Graduate School erleben musste. (Siehe. I.D.: Ideologische Selbstzerstörung. Kritische Anmerkungen zur allgemeinen Entwicklung an den Universitäten in den USA – https://zeitzeichen.net/node/8764). Identitätspolitik bewirkt den Zerfall der Gesellschaft in konkurrierende Gruppen. Die bittere Ironie der gegen die westlich-europäische (›weiße‹) Kulturtradition gerichteten identitären Proklamationen liegt darin, dass der von diversen Gruppen reklamierte Opferstatus allein in einer von christlichen Werten geprägten Gesellschaft geeignet ist, Sympathie und Solidarität zu erwecken. (197) Aus christlicher Sicht, so Dalferth, ist jedoch der unter Regenbogenfahne sowie unter ›linken‹ Feldzeichen von DEI (diversity, equity, inclusion) vorgetragene Machtanspruch von Gruppen unvereinbar mit dem Gedanken des je andersartigen Menschen in seiner Gleichheit allein vor Gott. (210).
Die übliche Antwort auf die durch den Pluralismus von Religionen in der multiethnischen Gesellschaft aufgeworfenen Fragen lautet ›Toleranz‹. Das Schlagwort verdeckt zum einen die in den Wahrheitsansprüchen unterschiedlicher Religionen angelegten Konfliktmomente, zum anderen das im Begriff selbst angelegte ›Paradox der Toleranz‹. Im liberalen Verzicht auf Letztbegründungen – man denke an die Indifferenz des Preußenkönigs Friedrich d. Gr. gegenüber jederlei Religion (›alles Fabeln‹) – werde ›Toleranz‹ ihres eigentlichen Sinnes beraubt, sofern der Begriff auf das ›Dulden‹ oder ›Ertragen‹ eines mit der eigenen subjektiven Gewissheit unvereinbaren Wahrheitsanspruchs zielt.
Das derart definierte Paradox glaubt der Autor Stefan Jäger – etwas blumig – mit Zweckoptimismus auflösen zu können. »Resonanzerfahrungen in der interreligiösen Begegnungen können auch die jeweils eigene Tradition neu und vielleicht ungewohnt zum Klingen bringen...und zu Korrekturen von dysfunktionalen Entwicklungen anleiten.« (232). Nun ja. So ähnlich mögen Gebete im Berliner ›House of One‹ klingen. Fanatiker unterschiedlicher Couleur und Herkunft werden sie damit kaum erreichen, geschweige denn überzeugen.
Jägers Text ist am besten zusammen mit dem unter ›Gottesbild‹ rubrizierten Aufsatz Geht von universalen Geltungsansprüchen Gewalt aus? von Henning Wrogemann zu lesen. Der Autor, Religionswissenschaftler an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal und Leiter des Instituts für Interkulturelle Theologie und Interreligiöse Studien (IITIS), setzt sich mit der These von Jan Assmann auseinander, der Monotheismus sei der welthistorische Ursprungsort von Gewalt. Wrogemann widerlegt dieses in der postkolonialen Kritik popularisierte Konzept, indem er die historischen Fakten ins Bewusstsein hebt. Dass in Religionen Gewalt zum Durchbruch kommt, gilt nicht nur für den Polytheismus, sondern auch für den nicht-monotheistischen, vermeintlich ›friedfertigen‹ Buddhismus sowie für Hindu-Traditionen.
Kritik an der inzwischen alle gesellschaftlichen Bereichen durchdringenden Ideologisierung – zum Diversity-Programm gehört der Buchstabe J für Justice (Dalferth, 204. Fn. 204) – wird reflexartig mit der Empörungsformel ›rechts‹ aus dem Diskursraum verbannt. Mit diesem Verdikt hat der Egon Flaig zu rechnen, der in seinem weitgespannten Aufsatz (›Warum es historische Gerechtigkeit nicht geben kann‹) die im Zuge des ›Dekolonialismus‹ verbreitete Vorstellung von ›redemptive politics‹ als ahistorisch zuückweist. Die Idee ›historischer Gerechtigkeit‹ entstamme dem chiliastisch aufgeladenen Arsenal politischer Theologie.
Nicht nur am Beispiel der Rückgabe der Benin-Plastiken an die Nachfahren des dank Versklavung von Nachbarvölkern machtvoll aufgestiegenen westafrikanischen Königtums erweise sich der Begriff als ›Nonsens-Postulat‹. Um den Widersinn zu belegen, zitiert Flaig zitiert den Kenyaner Ali Mazroni: »Twelve years of Jewish hell – against several centuries of black enslavement.« (Zit. 217) Mazroni entstammt selbst einer Sklavenhändlerfamilie in Mombasa. Schließlich verweist Flaig auf Karl Jaspers, der – ungeachtet seiner nicht ganz trennscharfenAbgrenzung von metaphysischer und moralischer Schuld (242) – hinter Schuldbekenntnissen die Psychologie des Machtwillens des Bekenners erkannte. (275)
IV
Nach einem theologischen Ausweg aus der Beliebigkeit der Postmoderne sowie aus dem Fangnetz »kulturprotestantisch propagierter Hypermoral und protestantischer Säkularapokalyptik« (279) fragt der soeben aus seinem Amt als Vorstandsvorsitzender der Internationalen Martin Luther Stiftung (IMLS) verabschiedete DDR-Bürgerrechtler Thomas Seidel. Im Anschluss an eine präzise Rekonstruktion des Denkens von Karl Löwith (1897-1973) zielt er auf eine »zeitgemäße lutherische Theologie, die Gottvertrauen, Urteilskraft und und Weltverantwortung ermöglicht.« (278).
Im Hinblick auf den – von säkularisierter Selbstanklage begleiteten – politischen Aktionismus des Linksprotestantismus kommt Seidels Bezug auf Löwith nicht von ungefähr. Nach langen Jahren des Exils – in Italien, in Japan und in den USA – kehrte Karl Löwith 1952 auf Vermittlung Hans-Georg Gadamers nach Deutschland zurück, um in Heidelberg Philosophie zu lehren. Ein Jahr später erschien sein 1949 in den USA publiziertes Buch Meaning in History in erweiterter Form auf deutsch unter dem Titel Weltgeschichte und Heilsgeschehen. In rückläufigem Verfahren – ausgehend von dem Fortschrittsskeptiker Jacob Burckhardt über die Linkshegelianer und Marx, über Hegel, Proudhon und den positivistischen Erfinder des ›Drei-Stadien-Gesetzes‹ Auguste Comte, über die Fortschrittsphilosophie der Aufklärung, den Theologen des französischen Absolutismus Bossuet sowie über Joachim von Fiore bis zurück auf den grundlegenden Augustin und dessen Schüler Paulus Orosius – erkannte Löwith im teleologischen Fortschrittsdenken der Moderne die säkularisierten Prinzipien christlicher Eschatologie.
Die moderne Geistesgeschichte – mit ihren mörderisch-totalitären Katastrophen – erscheint nach Löwith in »einem paradoxen Licht: sie ist christlich von Herkunft und antichristlich im Ergebnis.« (Zit. 291). Die Betrachtung der säkularisierten Heilsgeschichte führte den lutherisch getauften, ›frommen Agnostiker‹ Löwith zu folgendem Resümee: »Am Ende führt der Nachweis des theologischen Sinnes unseres geschichtsphilosophischen Denkens über alles bloß geschichtliche Denken hinaus.« (Zit. 285).
Die Antwort auf Fragen nach Sinn oder Unsinn der Geschichte findet Seidel in der conditio humana, wie sie im Segensfluch der biblischen Schöpfungsgeschichte (Gen. 3, 22) angelegt ist, sodann in der von Paulus (Galater 4, 36-37) beschriebenen Gotteskindschaft. Sie begründe, so Seidel im Anschluss an den Hermeneutiker Paul Ricoeur, eine »zweite Naivität«, die einen »aufgeklärten und zugleich für das Mysterium empfänglichen Blick« öffne und »die Unterscheidung zwischen ›erfüllter‹ und ›verlorener‹ Zeit, zwischen ›Ewigkeit‹und ›Erdenzeit‹, zwischen Weltgeschichte und Heilsgeschehen« ermögliche. (319)
Seidel verweist auf Dietrich Bonhoeffer, der – als Protagonist einer ›realistischen‹, der Utopie abholden Eschatologie – in seinem Buch Gemeinsames Leben (1939) die Erfahrung vermittlelt habe, dass »Christi Advent Präsens und Futur« umgreift. (316) Offen bleibt, ob Bonhoeffers christologisch begründete Überwindung irdischer Geschichte sich mit dem vom Anblick des Absurden ungebrochenen Geschichtsbild des widerständigen Schriftstellers Ulrich Schacht deckt. Schacht war – nicht zuletzt im Hinblick auf den Mauerfall – überzeugt, dass es »der dreieinige Gott [ist], der Geschichte macht.« (322) Für den 2017 verstorbenen Schacht kam es darauf an, den von den Geschichtsphilosophen – allgemein von der westlichen Philosophie – »aus der Welt hinausinterpretierten« Gott, »in ihr wiederzuentdecken.« (Zit. 324) Schacht schöpfte seine Hoffnung aus dem platonischen Gottesbegriff bei Whitehead: Gott »schafft die Welt nicht, er rettet sie; oder genauer: Er ist der Poet der Welt, leitet sie mit zärtlicher Geduld durch seine Vision von Wahrheit, Schönheit und Güte.« (Zit. 333)
V
Naturgemäß fordert eine solche platonische Fundierung des Christentums – wie sie nicht zuletzt im Christusbild des Apostels Paulus aufscheint – die Nietzschesche Verachtung für die ›Hinterweltler‹ heraus. Für den Schlussteil ›Gottesbild‹ im Buch wäre daher ein Text des Philosophen Holm Tetens (Gott denken. Ein Versuch über rationale Theologie, 2015) wünschenswert gewesen. Tetens ist von einer atheistischen Weltsicht zu einer nichtplatonischen, theistischen Gottesvorstellung zurückgekehrt. Selbst die Trinität Gottes findet in seinem Denken eine rationale Begründung.
Seit der Aufklärung hat sich im Westen der Glaube an den dreieinigen Gott zugunsten »einer fakultativen Möglichkeit religösen Bewusstseins« verflüchtigt. »So kann selbst der Monotheismus zu einer Religion ohne Gott mutieren«, konstatiert Ulrich Körtner. Der – mit namhaften Vorläufern in der Reformationszeit – der angelsächsischen Aufklärung entstammende, ehedem deistische Unitarismus steht mittlerweile – weiterhin als ›Kirche‹ firmierend – in den USA allen Spielarten modischer ›Spiritualität‹ offen, obenan der westliche Buddhismus. Diffuses Transzendenzbewusstsein ist der Wesenskern des Pantheismus, wie er seine klassische Ausformung in Faustens Antwort auf die Gretchenfrage bei Goethe gefunden hat: / Ich habe keinen Namen / dafür! Gefühl ist alles; / Name ist Schall und Rauch, / Umnebelnd Himmelsglut./
Bereits Schleiermacher hielt in seiner ›Glaubenslehre‹ für ein christliches Selbstbewusstsein den Trinitätsglauben nicht für notwendig. Gegenüber einer bloßen christlichen Gefühlsreligion verteidigt Körtner im Anschluss an Karl Barth das trinitarische Gottesverständnis. »Die Trinitätslehre [ist] keine metaphysische Spekulation über Gott, sondern die Hermeneutik christlicher Gottesrede.« (339) Der Geist Gottes werde im Neuen Testament nicht als pantheistischer Schöpfergeist beschrieben, »sondern als Geist Christi«. (340)
Auch Körtner warnt vor einer – von umfassendem Glaubensschwund in der postchristlichen Gesellschaft beförderten – Verwischung der Unterschiede im Glauben an den ›einen Gott‹. Die von Mohammed empfangenen ›Offenbarungen‹ seien zwar eine Resonanz auf die jüdisch-christlichen Zeugnisse göttlicher Offenbarung, »aber keine neue Offenbarung«. Zudem handle es sich beim Islam im Unterschied zum christlichen Heilsgeschehen nicht um eine Erlösungsreligion. (333)
Nicht zufällig haben die Herausgeber einen Text aus der Glaubenswelt der östlichen Orthodoxie an den Schluss ihres Buches gestellt. In der Ikonographie – mit Christus als Pantokrator – , in der Heiligenverehrung sowie in der Liturgie der orthodoxen Kirchen wird das christliche Gottesbild in eindringlicher Ästhetik anschaulich. In seinem Essay Vergöttlichung statt Selbst-Vergottung expliziert Erzpriester Martinos Petzolt die in der Orthodoxie lebendige – auf Platon zurückweisende – Vorstellung der Gottesschau. Durch die Menschwerdung Gottes in Christus wurde der im Südenfall aufgerissene »unüberwindbare Graben zwischen Gott und Mensch – ontologisch der Unterschied zwischen Urbild und Abbild, Ewigkeit und Raumzeitlichkeit, göttlicher Absolutheit und menschlicher Kontingenz, kurz Schöpfer und Geschöpf« – überwunden. (372) Der Menschwerdung Gottes entspricht die Vergöttlichung (theopoiesis) des durch den Sündenfall entstellten, »aber nicht jeder Würde verlustig« gegangenen Menschen. (371) Durch Taufe und Eucharistie, durch Gebet und Fasten wird die Annäherung des nach Gottes Ebenbild geschaffenen Menschen an Gott möglich.
VI
Von derlei christlich-religiöser Gewissheit ist die heute in den meisten evangelischen Kirchen gepredigte Botschaft himmelweit entfernt. Nichtsdestoweniger bedarf im Zeitalter der ›vollendeten Gottlosigkeit‹ – so Bonhoeffer in seiner Ethik – christlicher Glaube der ›letzten Wirklichkeit‹ Gottes als einer jenseits unfundierter Ethik verankerten Transzendenz. Geht es in der postmodernen, sinnentleerten Gesellschaft um ›Sinn‹, so genügt dafür nicht die – nicht nur im progressiven Protestantismus – vorherrschende, meist von Bonhoeffer abgeleitete ›horizontale Transzendenz‹. Der Bezug zum Nächsten – zum ›anderen‹ – sowie an der widerspruchsvollen Realität orientierte christliche Weltverantwortung bedarf der vertikalen Dimension im Gottesbild.
Wenn Seidel in seinem zentralen Beitrag den früheren EKD-Vorsitzenden Wolfang Huber zitiert, der vor der Selbstsäkularisierung der Kirche gewarnt hat, so stellt er zugleich fest, dass Huber die Tendenz zur Reduktion der evangelische Kirche auf eine bloße ›moralische Agentur‹ selbst befördert hat. Die Kirche als – eine vom Staat begünstigte – NGO tritt in einer Rede Hubers (›Plädoyer für die Institution Kirche als Verband und Akteur der Zivilgesellschaft‹, 2005) hervor. (299f.) Nicht nur für Konservative – erst recht für ›Evangelikale‹ – erscheint derlei Botschaft zu dürftig.
Vor dem Hintergrund sich leerender Kirchen, über den sich viele Kirchenleute und Theologen mit moralischer Selbstgewissheit hinwegsetzen, bietet das vorliegende Buch kein fertiges Handlungskonzept, wohl aber geistige Orientierung. Es bleibt zu hoffen, dass es in seiner Kritik an der vorherrschenden politisch-moralischen Selbstgenügsamkeit die Kirchenoberen – sofern sie den intellektuell anspruchsvollen Band nicht lieber übersehen – zum Nachdenken nötigt.