von Kay Schweigmann-Greve
Eine Momentaufnahme fortgeschrittener Integration
Über den Konflikt mit dem fundamentalistischen Islam gerät aus dem Blick, dass es im Nahen Osten neben den dominierenden islamischen Glaubensgemeinschaften und der verfolgten christlichen Minderheit eine ganze Reihe sehr alter kleiner Religionsgemeinschaften gibt, die ihre Wurzeln teilweise auf die vorislamischen Religionen des Nahen Ostens zurückführen:
Die Êzîden, Zoroastrier und Yarsan. So haben erst die Verbrechen des sog. Islamischen Staates im Shengalgebirge und der Stadt Korbane im vergangenen Sommer die Weltöffentlichkeit an die Existenz der Êzîden erinnert. Die Verfolgungsgeschichte dieser Gemeinschaft ist jedoch viel länger, sie dauert praktisch die gesamte Herrschaftszeit des Islam in dieser Weltgegend über an und ist keineswegs auf die gegenwärtige Versklavung von Frauen und die Ermordung der Männer im Herrschaftsbereich des sogenannten ›Islamischen Staates‹ beschränkt. Erst in den Neunzigerjahren des 20. Jahrhunderts. hat z.b. die Türkei die Jahrtausende alte Siedlungsgeschichte der Êzîden in Anatolien gewaltsam beendet. In der Türkei lebt heute nur noch eine Gruppe von etwa 600 Personen. Die Überlebenden dieser Verfolgung leben heute im Westen, in den USA und zu einem erheblichen Teil in Deutschland. In Südniedersachsen und dem Norden Nordrhein-Westfalens, sind es ca. 50 000 Menschen. Schätzungen zufolge leben 300.000 Êzîden im Irak, 70.000 in Armenien und Georgien und 60.000 in Russland (S. 11). Bei den Êzîden handelt es sich ähnlich wie bei den anderen genannten relativ kleinen Religionsgemeinschaften nicht um Buchreligionen, sondern um Glaubensformen, die ihre religiöse Tradition – auch der Verfolgung wegen – über sehr lange Zeiträume nur mündlich überliefert haben. Die êzîdischen Migranten außerhalb der islamischen Welt sind daher die ersten Anhänger ihrer Religion, die unter freien Lebensbedingungen ihren Glauben praktizieren können. Dies hat zwei interessante Folgen: Zum einen ist erstmals eine Konsolidierung und schriftliche Fixierung des Traditionsbestandes möglich. Erst in den vergangenen drei Jahrzehnten hat in Westeuropa ein Prozess des systematischen Sammelns, Aufschreibens und systematischer Strukturierung der êzîdischen Glaubensüberlieferung begonnen. Zum anderen ist die Gemeinschaft, die bisher viel stärker durch die äußere Verfolgung als durch eine positive Kenntnis der eigenen Religion zusammengehalten wurde, mit dem Phänomen der Assimilation konfrontiert. Weshalb sollte ein junger Mensch, der in Deutschland aufgewachsen ist, das hiesige Bildungssystem durchlaufen hat und über eine moderne Qualifikation verfügt, sich mit dem archaischen unbekannten und unverstandenen Glauben seiner Vorfahren identifizieren? Die êzîdischen Gemeinschaften sind damit vor die Frage gestellt, wie sie unter freiheitlichen Bedingungen attraktiv genug für ihre Jungen sein können, um eine Zukunft als Glaubens- und/oder Kulturgemeinschaft in der neuen Umgebung zu haben.
Diese Situation reflektiert das Buch von Celalettin Kartal, Deutsche Yeziden. (Es ist nicht nur ein Buch über das Êzîdentum und seine prekäre Zukunft, sondern ein Produkt bereits ansatzweise gelungener interkultureller Gesellschaft in Deutschland.)
Kartal beginnt seine Ausführungen mit einer Darstellung der êzîdischen Religion und aktuellen Situation: »Die Êzîden bilden eine religiöse Minderheit unter den Kurden im Nahen Osten. Sie missionieren nicht. Êzîde wird man nur durch Geburt. Êzîden glauben an Gott, dessen Chefengel Tawisi Melek und sechs weitere Engel. ... Die ›feindliche Geographie dieser Region‹ bestimmt ihr Schicksal. Ihr Hauptsiedlungsgebiet im Nordirak ist von der Terrormiliz des Islamischn Staates eingenommen. Eine Rückkehr ist nicht in Sicht« (S. 11) In religionsgeschichtlichen und historischen Kapiteln geht er der êzîdischen Namensgeschichte und den Gemeinsamkeiten und Differenzen sowohl unter den ›kleinen‹ Religionen als auch mit Judentum, Christentum und Islam nach. Im Verhältnis zu den Universalreligionen betont er die Naturverbundenheit des Êzîdentums und eine friedliche Haltung gegenüber anderen Menschen und Religionen, die dem modernen Pazifismus sehr nahe stehe – Krieg gelte als absolute Sünde (S. 30). Die Êzîden räumten den Zentral- und Gründungsfiguren der Universalreligionen zwar keinen herausgehobenen, aber dennoch einen positiven Platz ein: Die Propheten werden positiv dargestellt, besonders Moses, letzterer wird als »Fürsprecher Gottes« bezeichnet, Jesus sei »aus dem Lichte Gottes geschaffen« und Mohammed werde als »idealer Mensch« bezeichnet. Jesus und Mohamed würde in den traditionellen Überlieferungen als Heilige dargestellt. Dem stellt er die den »Götzendienern« feindliche Sprache der Thora, die christliche Zwangsmissionierung und die aggressive Trennung der Welt in das »Haus des Islam« und das »Haus des Krieges« gegenüber. Eine Ursache dieser Differenz scheint ihm die relativere Stellung der êzîdischen heiligen Texte: Sie sind nicht das authentische Wort Gottes, dessen Betrachtung als Menschenwerk oder gar seine historisierende Analyse als »Apostasie« todeswürdig ist, wie im Islam.
Zwar glauben die Êzîden selbst, ihre Religion sei mindestens viertausend Jahre alt, jedoch lassen sich bei einer Religion, die nur mündlich überliefert wurde, die tatsächlichen Ursprünge und die ältere Geschichte nicht konkret nachweisen. Die ersten historisch greifbaren schweren Verfolgungen der Êzîden beginnen mit dem Einfall der islamischen Heere in Mesopotamien im Jahre 637, damals begann die Zeit islamischer Zwangsmissionierungen, des Genozids und der Zerstörung êzîdischer Glaubensstätten. Die Zeit zuvor, beschreibt Kartal in positiven Farben als »Schmelztiegel der Völker und Kulturen«: »Die Jahrhunderte lange religiöse Toleranz ermöglichte das Einströmen neuer Glaubensvorstellungen. Zunächst entwickelten sich die ersten Religionen, vor allem Naturreligionen wie das Êzîdentum. So hatte jede der Städte in Mesopotamien ihre eigenen Gottheiten. Gemeinsam war diesen Religionen, dass die Himmelslichter Sonne und Mond sowie die Planeten zumeist als Hauptgottheiten verehrt wurden. Selbst bei der Eroberung der Städte durch neue Herren wurden meistens die bestehenden Gottheiten übernommen. Erst dem streng monotheistischen Islam gelang es ab Mitte des 7. Jahrhunderts nach Christus, den vielen Religionen Mesopotamiens ein grausames Ende zusetzen» (S. 36 f.). Einen weiteren schweren Aderlass bedeutete im 12. Jahrhundert der Angriff auf das Zentralheiligtum der Êzîden in Lalisch durch den islamischen Konvertiten und Stadthalter von Mossul, nach dessen Triumpf die êzîdische gesellschaftliche Elite ermordet wurde. Auch die osmanische Geschichte der folgenden Jahrhunderte brachte bis zum Ende des 19. Jahrhunderts Verfolgungen und permanente Unsicherheit. Selbst im Rahmen des türkischen Genozids an den Armeniern während des Ersten Weltkrieges wurde Êzîden ›mit‹ ermordet.
Kartal stellt dar, dass das Êzîdentum von Anfang an eine Minderheitenreligion auch unter den Kurden war, – einige Êzîden betrachten sich sogar als eigene Ethnie – deren Ursprünge im Dunkeln liegen. Von historischer Bedeutung für die Êzîden war das Auftreten eines Mystikers und Reformers, Sheikh Adi, im 11. Jahrhundert. Dieser wird von einem Teil der Êzîden als Zoroastrier betrachtet, andere halten ihn für eine Reinkarnation des Chefengels Tawisi Melek. Die historische Forschung hält ihn für einen (muslimischen!) Sufi. Erstaunlicherweise rettete diese von außen kommende Person das Êzîdentum vor der Auflösung und genoss bei seinen êzîdischen Zeitgenossen eine fast göttliche Verehrung – was aus islamischer Sicht eine schwere Sünde gegen Gott darstellte, dem allein derartige Verehrung gebühre. Dies, sowie die temporäre politische und militärische Stärke der Êzîden von Lalisch, die diese veranlasste die Tributzahlungen einzustellen, waren die Auslöser des folgeschweren Kriegszugs gegen die Êzîden durch den Mossuler Statthalter (S. 39).
Auch in der osmanischen Herrschaftszeit, die sich im 16. Jahrhundert an die Regierung der arabischen Reiche anschloss, galten die Êzîden als ›Götzendiener‹. Anders als die Juden und die Christen, die als Dhimmis, als Anhänger des Buches, zwar Bürger zweiter Klasse waren und erhöhte Steuern zahlen mussten, deren Lebensrecht jedoch grundsätzlich gesichert war, befanden sich die Êzîden in einem Status der Rechtlosigkeit und waren permanent der Drohung von Mord und Pogromen und der Zwangsislamisierung ausgesetzt. Es ist daher wenig verwunderlich, dass, wie Kartal schreibt, sich die Êzîden in die unzugänglichen Gebirge Kurdistans, wie das Shingal Gebirge zurückzogen und andernorts in feudale Abhängigkeitsverhältnisse zu muslimischen kurdischen Potentaten gerieten, die ihre Arbeitskraft ausnutzten und dafür einen gewissen Schutz boten.
Auch nach dem Ende des 1. Weltkriegs, als die êzîdischen Siedungsgebiete im Wesentlichen unter der Türkei, dem Irak und Syrien aufgeteilt wurden, erging es ihnen wenig besser. »Die Türkei gilt als eine säkulare Republik. Doch es ist eine Republik, die es verstanden hat, ihre nicht-türkischen Minderheiten entweder zu assimilieren oder notfalls mit Vertreibung oder Massakern zur Räson zu bringen« (S. 50). In der Türkei gehörten sie zur bekämpften Minderheit der Kurden und dort zu einer von vielen kurdischen Muslimen verachteten und marginalisierten Sondergruppe. Die Türkei weigerte sich, die Êzîden als Religionsgemeinschaft anzuerkennen, ihre kurdische Sprache durften sie ohnehin nicht benutzen. Religiös wurden sie als ›irregeleitete islamische Sekte eingestuft‹. Abgesehen von den drei Minderheiten (Juden, Armeniern und Griechen) mit religiösen Sonderreichen, deren Anerkennung ihr im Lausanner Abkommen von 1923 abgerungen wurde, erkennt die Türkei bis heute keine religiösen Minderheiten in ihrer Bevölkerung an (S. 50 f.).
Die Analphabetenrate unter den Êzîden war höher als die unter den übrigen Kurden, da diese nur schwer ins noch immer islamisch dominierte Schulsystem integriert werden konnten. »Die Türkei selbst ließ nur in wenigen êzîdischen Dörfern Schulen bauen. Elektrizität und fließendes Wasser war in den meisten êzîdischen Dörfern kaum vorhanden. Dort, wo Schulen gebaut wurden, mussten Kinder ab den 1980er Jahren an dem vorgeschriebenen islamischen Religionsunterricht teilnehmen. Viele der Kinder mussten mit dem Aufsagen des islamischen Glaubensbekenntnisses Schahāda mit wichtigen Regeln ihrer Religion brechen und sich von türkischen Lehrern als ›Ungläubige‹ beschimpfen lassen. Diese Situation empfanden die Eltern als Bedrohung ihrer religiösen Identität. Aus islamischer Sicht kommt das bloße Aufsagen der Schahāda in Gegenwart von zwei Zeugen dem Beitritt zum Islam gleich. Der Schulbesuch beschränkte sich damals auf fünf Jahre. Jeder weitere Schulbesuch außerhalb der êzîdischen Ortschaften kam wegen der Gefahr der Zwangsislamisierung nicht in Frage« (S. 51).
In den Bürgerkriegsauseinandersetzungen der Achtzigerjahre betrachtete die Türkei die Êzîden als Anhänger der PKK, die diesen Unterschlupf und Verpflegung gewährten, was als Folge der massiven Verfolgung wenig verwunderlich erscheint. Die Repression war gegenüber den Êzîden besonders hart, denn die Kämpfer hielten sich bevorzugt in den ezidischen Dörfern auf. »Den Militanten der PKK war klar, dass sich die Êzîden nicht erlauben konnten, sie zu verraten … Razzien in den kleinen êzidîschen Dörfern und die Zerstörung ihrer Häuser waren keine Seltenheit« (S. 52). Verhaftung und Folter von Êzîden war an der Tagesordnung. Eine negative Rolle spielten auch die Agas, die sunnitischen kurdischen Ortsnotablen, die sich aktiv an der Demütigung, und Unterdrückung ihrer êzîdischen Nachbarn und Untergebenen beteiligten.
Die Auswanderung der Êzîden aus der Türkei, vornehmlich nach Deutschland begann bereits weitgehend unbemerkt zwischen den türkischen ›Gastarbeitern‹ in den Sechzigerjahren. Ausschlaggebend war damals neben der politischen Repression und gesellschaftlichen Diskriminierung ihre auch zu dieser Zeit benachteiligte ökonomische Situation. »Nachdem jedoch die ersten Êzîden (1964) erkannt hatten, was ein freiheitlich demokratisches Land von einer ›islamischen Türkei‹ unterscheidet, löste sich innerhalb weniger Jahre eine ›Kettenmigration‹ in Richtung Deutschland aus. Die Migration verstärkte sich in den1980 und dann später auch in den 1990er Jahren.« (S. 53). Zunächst war mit dem Anwerbestopp 1973 eine Einwanderung in größerem Maße nicht mehr möglich, es blieb nur die Familienzusammenführung und das Asylverfahren. Im Jahre 1979 lebten nach Kartals Schätzung noch 20.000 Êzîden in der Türkei (man hätte gerne gewusst, wie viele Êzîden zu dieser Zeit bereits in Westdeutschland lebten!). Bei der Enteignung und Vertreibung der Êzîden arbeiteten die kurdischen Notablen mit den türkischen Behörden aktiv zusammen. Verstärkt wurde die Fluchtwelle nach dem dritten Militärputsch 1980, als die – vermeintlich säkularen – Militärs für das ganze Land verbindlich Islamunterricht einführten. »Am 30.06.1992 entschied das Bundesverfassungsgericht, in einem Grundsatzurteil, dass die Türkei nicht willens ist, mit den ihr zur Verfügung stehenden Mitteln eine Verfolgung der Êzîden durch die Muslime zu verhindern. Dieses Urteil brachte eine Änderung der Sach- und Rechtslage und sorgte für Klarheit in der Asylrechtsprechung für êzîdische Flüchtlinge aus der Türkei. Nun gehörten die Êzîden aus der Türkei zu den wenigen Asylbewerbern, die in der Bundesrepublik Deutschland als Flüchtlinge anerkannt wurden. Innerhalb weniger Jahre war der Exodus der Êzîden aus der Türkei abgeschlossen« (S. 54). Auch der Exodus der syrischen Êzîden ist in vollem Gang, circa einDrittel von ihnen lebt inzwischen in Deutschland. Auch in Syrien bilden sie als Nichtmuslime und Nichtaraber eine besonders verfolgte Minderheit. Obwohl seit Urzeiten ansässig, behandelt die Syrische Arabische Republik sie rechtlich als Staatenlose oder Ausländer. »Vor allem staatenlose Êzîden sind in Syrien einer prekären Verfolgung und Ausgrenzung ausgesetzt [genauer: waren dies bereits vor dem Bürgerkrieg]. Bestimmte verfassungsrechtlich garantierte Rechte [syrischer Staatsbürger] werden ihnen vorenthalten: Sie erhalten keine vom Staat subventionierten Lebensmittel, können bzw. dürfen weder wählen, noch Besitz- und Eigentumsrechte fordern. Vor allem haben sie keinen Anspruch auf Behandlung in staatlichen Krankenhäusern. Weder können sie im öffentlichen Dienst beschäftigt werden noch haben sie Zugang zu Hochschulen.« Diese fatalen Lebensbedingungen, muss man Kartal ergänzen, gelten nicht nur für die Êzîden, sondern für die Mehrheit der kurdischen Bevölkerung Syriens. Die êzîdische Einwanderung aus Syrien begann in den achtziger Jahren, 2005 soll es noch 15.000 Êzîden in Syrien gegeben haben (S. 55), aktuelle Zahlen existieren nicht.
Die letzte größere êzîdische Siedlungsgemeinschaft befand sich bis zum Sommer 2014 im irakischen Shengalgebirge. Die Politik des Irak unterschied sich nicht wesentlich von der seiner Nachbarstaaten, so ist seit 1963 der êzîdische Religionsunterricht (wieder) verboten, die Kinder waren auch hier aggressiver Zwangsassimilierung ausgesetzt. Noch in den neunziger Jahren betrieb der Irak eine aggressive Arabisierung seiner Nordprovinzen, was zur Enteignung und Zwangsumsiedlung von über 400 êzîdischen Dörfern führte. Nur 10 Prozent der êzidischen Siedlungsgebiete liegen in der kurdischen Selbstverwaltungszone, die mit Hilfe der von Amerikanern und Briten durchgesetzten Flugverbotszone eigene politische Strukturen und eine Verteidigung aufbauen konnte. Auch hier existieren jedoch islamische Parteien mit einer ausdrücklich antiêzîdischen Pogrammatik (S. 57). Anschließend beschreibt Kartal die Folgen des genozidartigen Überfalls des ›Islamischen Staates‹ auf das Hauptsiedlungsgebiet der irakischen Êzîden und ihre verzweifelten Versucht nach Deutschland zu gelangen.
Es folgt eine Darstellung wichtiger Elemente der êzîdischen Religion und der kurdisch-nahöstlichen Tradition – Chefengel, Kastenordnung, und Stellung der Frau, Brautpreis, arrangierte Ehen – sowie der Spannung, die zwischen dem Sichern der überkommenen Glaubensinhalte und ihrer notwendigen Anpassung an das Leben in einer westlichen Demokratie bestehen. Dieser Teil ist für den deutschen Leser besonders interessant, da er die Spannungen, die zwischen einer nahöstlichen archaischen Tradition und den Werten einer modernen Gesellschaft bestehen, benennt und einen aktuellen Zwischenbericht aus der Binnenperspektive über den laufenden Transformationsprozess gibt. Ein ständig wiederkehrendes Motiv dieser Debatte ist der Versuch, Tradition von Religion zu trennen. So existiert die mindere Stellung der Frauen in allen nahöstlichen Gesellschaften, bei den christlichen Minderheiten ebenso wie bei der islamischen Mehrheit in all ihren Schattierungen und eben auch bei den Êzîden. Es ist daher wichtig, dass in der religiösen Überlieferung keine Hierarchisierung der Geschlechter zu finden ist. Junge Frauen, die in Deutschland innerhalb ihrer Gemeinschaft gleiche Rechte einfordern, kämpfen folglich gegen Traditionen des Herkunftslandes und nicht gegen Elemente der êzîdischen Religion. Wenig erstaunlich ist die Mitteilung, dass das Kastenwesen in Deutschland in Auflösung begriffen sei. Eine so kleine Gemeinschaft gefährdet ihre Fortexistenz, wenn nicht nur Ehen mit Nichtêzîden traditionell zum Ausschluss aus der Gemeinschaft führen, sondern auch innerhalb jeweils nur ein sehr kleiner Personenkreis als legitime Ehepartner in Betracht kommt. Ein weiteres Phänomen, das zu Spannungen führt, ist die nahöstliche Forderung nach Jungfräulichkeit der Frau bei der Eheschließung, ebenfalls eine gesellschaftliche Tradition und kein religiöses Gebot: Traditionell konnte eine Ehefrau, die sich als bereits ›entjungfert‹ herausstellte nach der ersten Nacht zurückgewiesen werden. Nach einer Befragung aus dem Jahr 2009 »betrachten 47 Prozent der Êzîden die Jungfräulichkeit nicht [mehr] als Symbol der Ehre. 73 Prozent würden das Zusammenleben vor der Ehe akzeptieren. Fast die Hälfte der deutschen Êzîden will seine Ehepartnerin auch behalten, wenn sie vor dem ersten Geschlechtsverkehr mit ihm nicht mehr Jungfrau war. (S. 98f). Obwohl hier ein Wandlungsprozess deutlich erkennbar ist, habe eine Êzîdin, die keine Jungfrau mehr sei es bis heute schwer, einen Partner ihrer Wahl in der êzîdischen Gemeinschaft zu finden. Auch die Probleme von in Kurdistan möglichen Ehen mit zwei Frauen und die in Deutschland auftretenden Schwierigkeiten in diesem Zusammenhang, sowie der Umstand, dass traditionell Ehen religiös geschlossen und oft nicht staatlich registriert werden, sowie die Probleme der auch unter jungen Êzîden in Deutschland verbreiteten ›Ehen ohne Trauschein‹ werden dargestellt (S. 98ff.).
Der letzte Abschnitt befasst sich mit der Haltung der deutschen Êzîden zu ihrer neuen Heimat und zu ihrer Religion und Tradition. »Von allen orientalischen Migrantengruppen identifizieren sich die Êzîden sowie die Aleviten am meisten mit den europäischen Mehrheitsgesellschaften und ihrem politisch-sozialen Wertesystem. So identifizieren sich die Êzîden mit westlichen Verfassungswerten wie Rechtsstaat, Sozialstaat und Säkularismus. Viele Êzîden haben Schikane, Willkür und Unterdrückung bzw. Verfolgung durch strenggläubige Muslime und ›orientalische Behörden‹ erfahren.« (S. 103) Die Folge dieser Wertschätzung sind eine hohe Lernmotivation und Bildungsunterstützung für die eigenen Kinder. Diese Haltung führe bereits zu gesellschaftlichem und politischen Engagement: »Deutsche Êzîden engagieren sich seit einem Jahrzehnt in der Landes und Kommunalpolitik. Sie wollen von den unvergleichlichen Vorzügen dieser Gesellschaft profitieren. Diese Gesellschaft hat den Êzîden prinzipiell Arbeit, Geborgenheit, Gesundheitsvorsorge, Wohlstand, Schutz und Freiheit ermöglicht. In der Türkei konnten sich Êzîden kaum im Bereich der Politik offiziell betätigen. Für Êzîden war es fast unmöglich, einen Hochschulabschluss zu erlangen. Inzwischen gibt es hunderte von Êzîden, die über einen akademischen Abschluss verfügen. Das ist der Grund, warum deutsche Êzîden vor allem Dankbarkeit gegenüber Deutschland empfinden« (S. 103). Diese Aussagen sind nicht nur die Meinung des Autors, sondern stützen sich auf eine Befragung aus dem Jahr 2009. Ein interessantes Indiz für die starke Identifikation mit der neuen Heimat ist auch die hohe Einbürgerungsrate: während von den circa. 4 Millionen Muslimen nur etwa 45 Prozent eingebürgert seien, betrüge die Einbürgerungsrate unter Êzîden 80 Prozent.
Die dann folgende Bestandsaufnahme ist dennoch für die Êzîden keineswegs optimistisch. Es sei nicht ausgemacht, dass die êzîdische Gemeinschaft in Deutschland eine Zukunft habe, genauso sei es möglich, dass sie sich restlos assimiliere und als soziales und kulturelles Phänomen einfach verschwinde. Hier gerieten die Êzîden auch in Deutschland leicht ins Hintertreffen: Ohne mächtige Sponsoren und Staaten, die sich für êzîdischen Religionsunterricht oder die kurdische Sprache einsetzen könnten, sei die Situation hier weit unbefriedigender als beim muslimischen Religionsunterricht oder Sprachlernangeboten für Türkisch oder Arabisch für Kinder. Der letzte Teil, der sich mit den êzîdischen Vereinen und aktuellen Versuchen, dem êzîdischen Leben hierzulande einen schützenden Rahmen zu schaffen befasst, ist der wohl schwächste Teil des Buches. Man erfährt über konkrete Vereine und Institutionen gar nichts und die allgemeinen Informationen über zwei Lager, in die die Gemeinschaft gespalten sei (S. 113), bleiben zusammenhangslos – was die beiden Gruppen trennt, hätte man mindestens gern gewusst! Stattdessen folgen Ausführungen über Bemühungen das Kastenwesen zu reformieren, die weit besser an eine frühere Stelle, an der ja bereits dieses Thema zur Sprache kam, gepasst hätten. Wenige Seiten weiter ist von drei Hauptgruppen die Rede (S. 116): die erste, weitestgehend assimiliert, lebe säkular und hänge ebensolchen Weltanschauungen an, die zweite definiere sich über die Sprache und verstünde sich als Zoroastrier, was nach den vorangegangenen Ausführungen über die êzîdische Religion erstaunt, aber nicht erläutert wird. Eine dritte Gruppe, die er als Minderheit bezeichnet, verstehe sich als êzîdische ohne ethnisch-kurdischen Bezug. Keine dieser Gruppe, fügt der Autor pessimistisch hinzu, verfüge über eine ›Überlebensstrategie‹ für das Êzîdentum.
Zuletzt beschreibt er die aktuelle – äußerst unübersichtliche – Diskussion in der êzîdischen Gemeinschaft in Deutschland, in der stärker assimilierte Personen sowohl die Abschaffung des Kastenwesens, als auch die Öffnung der Religion für Konvertiten und die Akzeptanz von Heiraten mit Angehörigen anderer Religionen fordern. Abgesehen von vielen Redundanzen zu den vorangehenden Ausführungen werden jedoch keine Diskussionslinien oder Zentren der Debatten deutlich. Man bleibt am Ende ebenso ratlos, wie vermutlich ein großer Teil der an diesen Debatten Beteiligten selbst.
Sehr nützlich ist hingegen ein Anhang, in dem pointiert religiöse Vorstellungen zusammengefasst und ein weiterer, der (noch vor dem eigentlichen Literaturverzeichnis) eine Literaturübersicht bzw. Kurzrezensionen von Arbeiten, die auf Deutsch, Türkisch und Kurdisch über die Êzîden und ihre aktuellen Probleme erschienen sind, zusammenfasst.
Das Buch ist eine lesenswerte Augenblicksaufnahme aus der Binnensicht einer wenig beachteten, aber interessanten Migrantengemeinschaft, der man ihren Fortbestand unter den veränderten und glücklicheren Bedingungen westlicher Gesellschaften wünscht!