Posthistoire?

Die zunehmende Enttäuschung über die sozialistische Linke ist Brückners Schriften aus der zweiten Hälfte der siebziger Jahre deutlich anzumerken. Mit dem immer offensichtlicher werdenden Scheitern der von ihm erhofften Dialektik von demokratischen und sozialistischen Kämpfen sieht sich der Theoretiker der gesamtgesellschaftlichen Emanzipation gleichsam zurückgeworfen auf die Analyse des herrschenden Kapitalismus und die diesem Kapitalismus eigenen Desintegrationstendenzen. Und er beginnt sich zu fragen, ob hier nicht zwei unterschiedliche und auch irgendwie unvereinbare Paradigmen am Werk sind. Mit seiner Unterscheidung zwischen dem sogenannten Revolutionsparadigma und dem später von ihm sogenannten Aneignungsparadigma will er ab Ende der siebziger Jahre beschreiben, wie sich neben den klassischen Problemen des Klassenkampfes – »also [neben] den Widerspruch von Lohnarbeit und Kapital, den Prozess der Konstituierung von Klassenbewusstsein« – die davon analytisch zu unterscheidenden Probleme der gesellschaftlichen Desintegration erheben, »also die Selbst-Zerstörung der Homogenität, der Grundordnungen einer Gesellschaft« (1978, S.146). Beide, das sozialistische Revolutionsparadigma wie das radikal-demokratische Aneignungsparadigma haben, wie er schreibt »ihr fundamentum in re, ihre materielle Basis in der Wirklichkeit« (ebd.). Erstmals fasst er diesen Befund hier, in seinem 1978 erschienenen Werk Versuch, uns und anderen die Bundesrepublik zu erklären, unter jenen erst später berühmt gewordenen Begriff des posthistoire, den er in seinen Aufsätzen Ende der siebziger Jahre gleichsam durchdekliniert (vgl. bspw. 1984, S.127ff. & 133ff.), bevor er ihn auch zur Chiffre seiner nachgelassenen Fragmente in Psychologie und Geschichte machen wird (1982, S.259ff.).

Auch in diesen seinen letzten Schriften erweist sich Brückner also theoriepolitisch ganz auf der Höhe seiner Zeit. Und seine diesbezüglichen Überlegungen sind einmal mehr der ausgesprochen nüchterne Versuch, seine Zeit in Gedanken zu fassen, sich intellektuell Rechenschaft abzulegen über den Gang der Dinge. Schaut man jedoch genauer hin, so erkennt man, dass er hier nur seine Analysen der sechziger Jahre, seine Analysen zum bürgerlichen Bewusstsein fortsetzt. Das Aneignungsparadigma ist, genauer betrachtet, nur ein anderes Wort für die Revolte des bürgerlichen Bewusstseins gegen seine eigene Krise, ein anderes Wort also für die radikal-demokratischen Kämpfe gegen die vorherrschende Involution der Demokratie, ein anderes Wort für den Kampf der Marginalisierten gegen das System, sprich: ein anderes Wort für das, was bald als das Paradigma des Postmodernismus in die Geschichte eingehen wird.

Der späte Peter Brückner findet sich also bemerkenswert nah am postmodernen Denken, vor allem dort, wo er bei der Dialektik von Demokratie und Sozialismus die Hoffnung auf den Sozialismus einer Neuen Linken, also das Revolutionsparadigma infrage zu stellen scheint. Analytisch jedoch weiß er auch weiterhin, dass man beide Paradigmen, so sehr sie in der historischen Realität auch auseinanderdriften zu scheinen, nicht wirklich trennen kann, denn »(d)er ›Aneignungs-Kampf‹ antwortet auf den Umstand, dass das Wertgesetz, die Bürokratie, die Verwaltung unsere Lebensbedingungen, unsere Entscheidungsräume monopolisieren« (1979, S.62). Der Kampf gegen Bürokratie und Verwaltung ist hier nichts anderes als der Kampf um Demokratie, während der Kampf gegen das Wertgesetz die Chiffre für den sozialistischen Kampf der Arbeiterklasse bildet. Beide Kämpfe sind also Aneignungs-Kämpfe und tragen, konsequent betrieben, einen revolutionären Charakter. Beide Kämpfe haben aber auch ihre eigenen Kampfformen und Logiken, sind also als Kampfparadigmen Teil einer widersprüchlichen Einheit, die man als Ganzes nur zu fassen bekommt in der historischen Bewegung selbst – also nur dialektisch.

Wer also, wie Brückner damals, auch weiterhin vom Klassencharakter der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaftsform ausging (und ausgeht), konnte (und kann) den sozialistischen Anspruch ihrer Überwindung nicht ernsthaft aufgeben, egal wie wenig aktuell eine solche realgeschichtlich erscheint. Wer sich dagegen vom sozialistischen Anspruch und Gehalt der wirklichen Geschichte enttäuscht sah (und sieht), musste (und muss) mit demselben auch die Erkenntnis des Klassencharakters der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaftsform aufgeben und denunzieren. Er oder sie landet dann – sofern er oder sie sich nicht ganz ins Konservative wendet – entweder im affirmativen Liberalismus oder in jenem nonkonformistischen Konformismus, der sich in den (von Terry Eagleton 1996 so wunderbar entblößten) Illusionen des Postmodernismus seit nun drei Jahrzehnten austobt.

Es ist hier natürlich Spekulation, ob Brückner, wenn er länger hätte leben dürfen, diesen Weg in den Postmodernismus mitgegangen wäre – viele Parteigänger der Neuen Linken sind ihn jedenfalls gegangen und wollten fortan nicht mehr rechts oder links, sondern vorn sein, wie es damals hieß. Sie haben damit den sozialistischen Anspruch, die Hoffnung auf eine Dialektik von Demokratie und Sozialismus (und ihr Engagement dafür) weitgehend fallengelassen. Brückner hat dagegen bis zu seinem allzu frühen Tod im Frühjahr 1982 gerade an dem festgehalten, was die postmodernistische Ideologie seitdem erfolgreich verdrängt: an der erfahrungsgesättigten Erkenntnis, dass wir auch weiterhin in einer bürgerlich-kapitalistischen Klassengesellschaft leben – und dass dies auch Konsequenzen für das eigene Denken und Handeln hat.

Geschichtsschreibung ist bekanntlich immer auch die Geschichtsschreibung der Sieger. Und Peter Brückner war sich seines Scheiterns schmerzhaft bewusst: »Die Entwicklung der BRD (und ihrer Linken) bedeutet ja für mich eine lebensgeschichtliche Niederlage«, schreibt er 1980 (1980a, S.152.) Entsprechend haben wir es beim heutigen Blick auf die Revolte von 67/68ff. mit einem vorherrschend liberalen Blick zu tun. In seiner linksliberalen Variante betont er die Demokratisierungs- und Liberalisierungstendenzen jener Zeit und belächelt gleichzeitig die diversen anarchistischen und sozialistischen Tendenzen (ob antiautoritär oder autoritär). In seiner rechtsliberalen, konservativen Variante speist sich er sich dagegen aus einer anklagenden Kritik an diesen anarchistischen und sozialistischen Tendenzen, weil ausgerechnet sie verantwortlich gemacht werden für die allgemein vorherrschenden gesellschaftlichen Desintegrationstendenzen, auf die sie doch, im Sinne Brückners, nur geantwortet haben. Mit seinem Versuch, uns und anderen die Neue Linke zu erklären, können wir dagegen verstehen, dass und wie die Revolte ein historisch spezifisches Gemengelage verschiedener Bewegungen war, in denen sich der Kampf um eine Rückeroberung demokratischer Traditionen mit der immanenten Konsequenz eines sozialistisch überschießenden, eines sozialistisch weitertreibenden Bewusstseins auf historisch spezifische Weise vermischt hat. Die Neue Linke steht dabei für dieses überschießende, weitertreibende Bewusstsein eines Sozialismusverständnisses, das a) antikapitalistisch, b) antistalinistisch und c) radikal-demokratisch/antiautoritär gewesen ist. Und die postmoderne Wende der 1980er und 1990er Jahre war, so betrachtet, die Zersetzung dieser Hoffnung auf eine Dialektik von Demokratie und Sozialismus. Emanzipationskämpfe sind seitdem vorwiegend demokratische Kämpfe – mal mehr, mal weniger radikal. Was seitdem fehlt, ist die die bürgerlich-kapitalistische Klassengesellschaft transzendierende Perspektive.

Und heute? Auch heute wieder haben wir es mit einer Krise des bürgerlichen Bewusstseins im Sinne Brückners zu tun. Auch heute wieder haben wir es mit einer partiellen Revolte des bürgerlichen Bewusstseins gegen diese Krise zu tun. Und auch heute wird der Unmut noch immer von den soziologischen Rändern der Gesellschaft her artikuliert – von den Hartz IV-Betroffenen und der neuen Lumpen-Intelligenz, von den noch immer ausgegrenzten Ossis wie den in die Defensive gedrängten Gewerkschaftern. Was uns heute jedoch fehlt, ist die Tradition eines ganzheitlichen, dialektischen Denkens und ein Verständnis und eine Vision von der Dialektik von demokratischem und sozialistischem Kampf. Und dies verweist uns vor allem auf die nachhaltigen Folgen des kumulativen Scheiterns der diversen linken Emanzipationsbewegungen in den siebziger und achtziger Jahren – von den nationalen Befreiungsbewegungen der sogenannten Dritten Welt bis zur Implosion des einstmals real existierenden Sozialismus der sogenannten Zweiten Welt, vom Scheitern der Neuen Linken bis zum Scheitern der grünen Alternativbewegungen in der sogenannten Ersten Welt (vgl. Anderson 1993). Von diesem epochalen Bruch haben sich die Kräfte der Emanzipation bis heute nicht wirklich erholt – auch die neue Linkspartei scheint eher hin und hergerissen zu sein zwischen staatsragend sozialdemokratischen und autoritär-kommunistischen Konzepten, als dass sie einen Weg über diese beiden Traditionen hinaus sucht.

An der Vergangenheit der Neuen Linken bruchlos anknüpfen wird man aber auch nicht können. Sie ist ebenso Geschichte wie der Kapitalismus Geschichte ist, in dem sie groß geworden ist. Vorbei die Zeit, wo man den Sozialstaat als klassenlose Wohlstandsgesellschaft und die Involution der Demokratie als Fortleben des Faschismus missverstehen konnte. Vorbei die Zeit, in der man den Antiautoritarismus und die Große Weigerung als Feinde herrschender, vermeintlich formierter Verhältnisse und als Garanten gesellschaftlicher Emanzipation missverstehen konnte. Vorbei die Zeit, wo man den konformistischen Pferdefuß des Nonkonformismus einfach ignorieren konnte. Vorbei die Zeit, wo man auf eine Entstalinisierung der kommunistischen Bewegung oder auf eine Rückkehr zur klassisch-sozialistischen Sozialdemokratie hoffen konnte. Vorbei schließlich auch die Zeit, als man auf einen linkssozialistischen Erb-Antritt der beiden zusammenbrechenden Hauptströmungen organisierter Arbeiterbewegung setzte.

Die alten politischen Strategien eines antiautoritären Radikaldemokratismus und eines emanzipativen Neo-Sozialismus stecken in einer nachhaltigen Krise. Und doch glimmen auch heute noch (und heute wieder) die alten und neuen Ansätze einer moralischen Ökonomie der Marginalisierten, Ausgebeuteten und Unterdrückten immer wieder auf. Die Impulse für einen wirklichen gesellschaftlichen Wandel zum Guten liegen noch immer dort, wo sie Peter Brückner 1976 festmachte, nämlich »dort, wo die Prävention des Staates sie kontinuierlich verdrängen oder zerstören will: in den arbeitenden und abhängigen Klassen, in den Emanzipations-Bewegungen und in den ›revolutionären Hintergedanken‹ der bürgerlichen Freiheitsrechte« (1976, S.8). Wer also am gesellschaftlich Guten festhalten möchte, ist gehalten, die Dialektik von Demokratie und Sozialismus gleichsam neu zu erfinden.

Entsprechend aktuell bleibt auch Peter Brückners Haltung – das Denken des Ganzen, das Denken in Zusammenhängen. Den zwangsläufig partiell Handelnden ihren eigenen geschichtlichen Zusammenhang als Aufklärung und Selbstaufklärung, als Aufklärung und Aktion, anzubieten und damit beizutragen, das allseitige Gattungswesen Mensch auf allseitige Weise zu entfalten – das bleibt die ebenso selbstbewusste wie selbstlose Aufgabe des kritischen linken Intellektuellen und ist doch nicht zu haben ohne eigenes Engagement in politischen, sozialen und kulturellen Bewegungen. Denn produktiv, so Brückner, kann diese Dialektik von Teilnahme und Widerstand nur werden, »wenn wir im Handgemenge mit der Wirklichkeit bleiben« (1979, S.58).

Der Beitrag ist die schriftliche Fassung eines Vortrages auf dem Kongress »Sozialpsychologie des Kapitalismus heute. Zur Aktualität Peter Brückners« Anfang März in Berlin. Zusammen mit den anderen Beiträgen des Kongresses wird er Anfang 2013 in dem von Klaus-Jürgen Bruder u.a. herausgegebenen Tagungsband im Gießener Psychosozial-Verlag erscheinen.

Zitierte Literatur:

Perry Anderson (1992): Zum Ende der Geschichte, Berlin 1993
Peter Brückner (1965/1972): Freiheit, Gleichheit, Sicherheit. Von den Widersprüchen des Wohlstands, Berlin 1989
Peter Brückner (1967): »Die Transformation des demokratischen Bewusstseins«, in Johannes Agnoli/Peter Brückner: Die Transformation der Demokratie, Frankfurt/M. 1968, S.89-194
Peter Brückner (1968): »Die Geburt der Kritik aus dem Geiste des Gerüchts«, in ders.: Zerstörung des Gehorsams. Aufsätze zur politischen Psychologie, Berlin 1983, S.109-122
Peter Brückner (1970): »Provokation als organisierte Selbstfreigabe«, in ders.: Selbstbefreiung. Provokation und soziale Bewegungen, Berlin 1983, S.11-78
Peter Brückner (1972/73): »Untersuchungsobjekt: Die Protestbewegung in der Bundesrepublik Deutschland und West-Berlin«, in Alfred Krovoza u.a. (Hrsg.): Zum Beispiel Peter Brückner. Treue zum Staat und kritische Wissenschaft, Frankfurt/M. 1981, S.297-321
Peter Brückner (1973): Kritik an der Linken. Zur Situation der Linken in der BRD, Erlangen 1973
Peter Brückner (1976): Ulrike Marie Meinhof und die deutschen Verhältnisse, Berlin 1984
Peter Brückner (1978): Versuch, uns und anderen die Bundesrepublik zu erklären, Berlin 1984
Peter Brückner (1979): »Zwischen den Stühlen«, in: Hermann L. Gremliza/Heinrich Hannover (Hrsg.): Die Linke. Bilanz und Perspektiven für die 80er, Hamburg 1980, S.57-67
Peter Brückner (1980a): Das Abseits als sicherer Ort. Kindheit und Jugend zwischen 1933 und 1945, Berlin 1980
Peter Brückner (1980b): »Über linke Moral«, in ders.: Vom unversöhnlichen Frieden, Berlin 1984, S.7-9
Peter Brückner (1982): Psychologie und Geschichte. Vorlesungen im »Club Voltaire« 1980/81, Berlin 1982
Peter Brückner (1984): Vom unversöhnlichen Frieden. Aufsätze zur politischen Kultur und Moral, Berlin 1984
Peter Cardorff (1980): Studien über Rationalismus und Irrationalismus in der sozialistischen Bewegung. Über den Zugang zum sozialistischen Handeln, Hamburg 1980
Terry Eagleton (1996): Die Illusionen der Postmoderne. Ein Essay, Stuttgart/Weimar 1997
Terry Eagleton (2000): Was ist Kultur? Eine Einführung, München 2001
Christoph Jünke (2007): Der lange Schatten des Stalinismus. Sozialismus und Demokratie gestern und heute, Köln 2007
Henri Lefebvre (1962): Einführung in die Modernität. Zwölf Präludien, Frankfurt/M. 1978

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