von Peter Brandt
Natürlich bedeutete das katastrophische Ende des Krieges im Frühjahr 1945, das zugleich die Befreiung von der NS-Diktatur brachte, keine »Stunde Null« im buchstäblichen Sinn. Das in einer gegebenen Gesellschaft materiell und menschlich (auch mental) Vorhandene wirkt stets weiter, selbst bei noch so radikalen Brüchen. Und der militärische Zusammenbruch des Dritten Reiches bedeutete einen der tiefsten Einschnitte in der deutschen Geschichte.
Diejenigen, die wieder politisch bzw. gewerkschaftlich tätig werden wollen, waren mit völlig neuartigen und einmalig komplizierten Bedingungen konfrontiert. Dabei ist in erster Linie an die enormen Zerstörungen und die sozialen Verwerfungen der Kriegs- und Nachkriegsjahre mit der Flucht und den Vertreibungen aus den Gebieten östlich der Oder-Neiße-Linie zu denken, ferner an die Versorgungsnot.
Zudem war Deutschland, nachdem ein Systemwechsel von innen heraus nicht zustande gekommen war, ab Mai 1945 auf allen territorialen Ebenen der prinzipiell uneingeschränkten Herrschaft der Besatzungsmächte unterworfen. Bei Kriegsende war völlig unklar, wann Deutschland aus seiner Objektrolle würde heraustreten können, wo die Außengrenzen gezogen würden, ob die nationale Einheit überhaupt bewahrt werden könnte, wie weit sich Straf-, Rache- und Sicherungsmaßnahmen in der Deutschlandpolitik der Siegermächte geltend machen würden. Die Beschlüsse der Potsdamer Konferenz vom Juli/August 1945 begrenzten die (faktischen) Gebietsabtretungen zunächst auf die preußischen Ostprovinzen und gingen von der Weiterexistenz eines einheitlichen, unter Verwaltung der vier Mächte stehenden Deutschland aus, schufen aber kaum institutionelle Hebel, um die auf eine Interzoneneinheit gerichteten Verabredungen in die Wirklichkeit umzusetzen.
Der Untergang der nationalsozialistischen Herrschaft war seit der Kriegswende überall in Europa vom Aufschwung antifaschistischer Massenbewegungen mit sozialrevolutionärer Tendenz begleitet, der sich nach der Befreiung in einer Veränderung des politischen Klimas zugunsten demokratischer Strukturreformen niederschlug, einen Aufschwung der Gewerkschaftsbewegung und auch beeindruckende Wahlerfolge der Linken mit sich brachte. In Deutschland hingegen nahm die Massenunterstützung für den Nationalsozialismus, als sich die militärische Niederlage 1943 abzuzeichnen begann, nur langsam und diskontinuierlich ab, und selbst angesichts der völlig aussichtslosen Fortsetzung des Krieges in den ersten Monaten des Jahres 1945 kam es nur auf lokaler Ebene zur Sabotage der von Hitler angeordneten Zerstörungsakte und zu Anstrengungen, die Verteidigung zu unterlaufen. Die selbstzerstörerische Dynamik des Dritten Reiches, die tendenziell staats- und gesellschaftsauflösend wirkte, machte zusammen mit der kriegsbedingten territorialen Zersplitterung paradoxerweise alle sozialen Gruppen, einschließlich der Eliten, immer handlungsunfähiger, je stärker die Fortsetzung der nationalsozialistischen Herrschaft objektiv das deutsche Volk insgesamt bedrohte.
Für das unter den Deutschen im Zweiten Weltkrieg mehr und mehr verbreitete Gefühl der Ausweg- und Alternativlosigkeit waren neben der zunehmenden, wenn auch ganz unvollständigen und ungenauen, Kenntnis deutscher Kriegsverbrechen auch die Forderung nach bedingungsloser Kapitulation und die alliierte Kriegführung, namentlich die Bombardierung der städtischen Wohngebiete, mitverantwortlich. Es gab aber auch tiefer, im Charakter des Herrschaftssystems liegende Ursachen. Der Nationalsozialismus vermochte erhebliche Teile des deutschen Volkes aktiv zu mobilisieren und die Loyalität der Mehrheit zweifellos zu bewahren, wenn es auch unzutreffend ist, wie es heutzutage häufig geschieht, eine weitestgehende Übereinstimmung von Regime und Bevölkerung anzunehmen. Dagegen zeugt der Widerstand, der auch in Hagen vor allem aus der sozialistischen Arbeiterbewegung kam. Allerdings war die organisierte Illegalität hier schon Mitte der 30er Jahre in mehreren Verhaftungswellen und Massenprozessen zerschlagen worden, die sich gegen rund 200 Hagener Antifaschisten richteten.
Als das hervorstechendste Merkmal der deutschen Wirtschaft und Gesellschaft in den ersten drei Nachkriegsjahren ist die Atomisierung und »Primitivisierung« des ökonomischen Lebens bezeichnet worden, die sich aus dem Funktionsverlust des Geldes und seiner Ersetzung durch verschiedene Formen des Tauschhandels ergab. Dieser verhinderte den Aufbau eines neuen, friedensgemäßen Systems wirtschaftlicher Spezialisierung und Arbeitsteilung. Die »währungslose Wirtschaft« brachte es mit sich, dass eine größere Anzahl von Menschen mehr Zeit für die Jagd nach Gewinnen, Waren oder einfach Lebensmitteln investierte, ohne dass diese Anstrengungen zu einem entsprechenden Aufschwung von Industrie und Landwirtschaft führten. Der enorme Geldüberhang infolge der inflationistischen Kriegsfinanzierung musste angesichts chronischen Warenmangels und wenig wachsenden Warenvolumens die offiziellen Zahlungsmittel entwerten. Das Resultat war eine Flucht der Unternehmen und Individuen in die Sachwerte. Mindestens die Hälfte der ohnehin niedrigen Industrieproduktion gelangte auf illegale und halblegale Märkte oder wurde gehortet und damit der geregelten Verteilung entzogen.
Der gänzlich illegale »Schwarze Markt« trat in seiner gesamtwirtschaftlichen Bedeutung weit hinter den »Grauen Markt« der Kompensationsgeschäfte zurück. Das Prinzip des Kompensationshandels bestand darin, dass der Einzelbetrieb dringend benötigte Rohstoffe auf eigene Faust beschaffte, wobei häufig eine ganze Reihe von Kettengliedern (Kompensatoren) eingeschaltet werden musste, bis alle am Geschäft Beteiligten das gewünschte Produkt erworben hatten. Kompensationsgeschäfte, die von den Behörden notgedrungen mehr und mehr geduldet wurden, bedeuteten eine grandiose Verschwendung von Arbeitskraft und trugen zur Desorganisation der Wirtschaft bei, auch wenn sie zum Überleben unvermeidlich waren.
Obwohl grundsätzlich Löhne und Preise einem Stopp unterlagen, war der legale Spielraum für Preiserhöhungen größer als für Lohnerhöhungen. Ganz abgesehen von der mangelhaften Versorgung sank der durchschnittliche Reallohn der deutschen Arbeiter und Angestellten von 1945 bis 1948 um fast ein Drittel. Es ist davon auszugehen, dass die finanziell am schlechtesten gestellten Teile der Arbeiterschaft nicht in der Lage waren, die völlig unzureichenden Rationen zu kaufen. Laut einer Untersuchung über die Zusammensetzung des Einkommens der Arbeiterhaushalte im Ruhrgebiet reichte das reguläre Arbeitseinkommen im August 1946 nicht einmal aus, um die Hälfte der Lebenshaltungskosten zu bestreiten. Der Schwarzmarkt mit seinen z. B. zu Beginn September 1945 im Durchschnitt 125fach überhöhten Preisen bot den Arbeitern und unteren Angestellten nur dann Möglichkeiten zur Deckung des Defizits, wenn sie z. B. auf ihre Zigarettenration verzichteten – die Zigarette war eine Art Ersatzwährung – oder ihren zweiten Anzug, ihren Teppich oder ähnliches veräußerten.
Die materielle Notlage spiegelt sich in anschaulicher Weise in den Hagener Polizeiberichten. So hieß es in Berichten vom Juni 1946: »Die Hauptsorge der ganzen Bevölkerung ist die Ernährungsfrage. Es herrschte eine wirkliche Not. Die Hausfrauen wissen nicht, woher sie die Lebensmittel für ihre Männer und Kinder nehmen sollen, da sämtliche Nahrungsmittel, hauptsächlich Kartoffeln und Brot, in nur unzureichendem Maße zur Verfügung stehen. […] Durch die herrschende Not wird die Stimmung in der Bevölkerung sehr nachteilig beeinflusst. […] Große Not herrscht in der Beschaffung von Bekleidung und Schuhen. Letztere sind überhaupt nicht zu haben. Auch an Flickmaterial herrscht großer Mangel. Hausfrauen können ihre verbrauchte Bett-, Leibwäsche und Kleidungsstücke nicht flicken, weil sie kein Garn und Stopfgarn mehr haben. […] Bei den Verbänden der freien Wohlfahrtspflege werden fast täglich Einzelpersonen vorstellig, die um irgendein Kleidungsstück dringend bitten. Da mit einer Verbesserung der Versorgungslage in Textilien in absehbarer Zeit kaum zu rechnen ist, herrscht über den Mangel in der Bevölkerung große Erbitterung. […] Großer Mangel herrscht in weiten Bevölkerungsschichten an Töpfen, Geschirr, Reinigungsmitteln wie Besen, Bürsten, Aufnehmern und Seife. Manche Leute wissen nicht, worin sie ihr Essen zubereiten und Geschirr und notdürftiges Unterkommen sauber halten sollen. Auch wird vielfach über die geringe Zuteilung an elektrischem Strom und ferner Gas geklagt, zumal auch Kohle äußerst wenig für den Haushalt verfügbar ist […].“ (Zitiert nach U. Geitz/U. Schledorn, Der Freiheit eine Gasse. Kleine Geschichte der Hagener Arbeiterbewegung, Hagen 1985, S. 142f.)
Hagen hatte mehr als 2000 Ziviltote zu beklagen; 6000 Soldaten waren an der Front gefallen. Statt 156000 Einwohner vor Kriegsbeginn hatte Hagen bei Kriegsende nur noch 109000. Doch begannen Evakuierte und auch Flüchtlinge aus dem Osten trotz Zuzugsverbots schon bald in die Stadt zu strömen und dort die Lage zu verschlimmern. Die Innenstadt war völlig zerstört; der Zerstörungsgrad der Wohnfläche wird mit 72 % angegeben. Von den 1939 rund 46000 Wohnungen war rund die Hälfte durch den Bombenkrieg zerstört oder jedenfalls unbewohnbar gemacht. Zusätzlich beschlagnahmten die Briten über 2000 Wohnungen für ehemalige Zwangsarbeiter und in erheblichem Umfang weitere Wohnungen für Angehörige der Besatzungsmacht.
Unterbrochen waren anfangs die Verkehrs- und Kommunikationsverbindungen (Post und Telefon). Anordnungen und Mitteilungen der Militärregierung wurden im Rathaus und über in der Stadt aufgestellte Plakate verbreitet. An der Spitze der Stadtverwaltung – auch das gehört ja zu den Handlungsbedingungen der Arbeiterbewegung – stand, von den Briten ernannt, Oberbürgermeister Ewald Sasse, der als früherer Dezernent die Kontinuität der Bürokratie verkörperte. Er hatte vor 1933 der katholischen Zentrumspartei angehört und war insofern auch für Sozialdemokraten und Kommunisten akzeptabel. Als 1946 das Amt des Oberstadtdirektors eingerichtet wurde, wechselte Sasse dorthin. Oberbürgermeister war seit Januar 1946 Fritz Steinhoff. Zur politischen Absicherung und Unterstützung der Kommunalverwaltung ernannte der britische Stadtkommandant Major Alexander aus Vertretern der neu entstehenden Parteien einen gemeinsamen beratenden Ausschuss, dann auch eine Stadtverordnetenversammlung.
Faktoren wie der Verlust von Eigentum durch den Bombenkrieg, die Sperrung von Bankguthaben, der Verlust des Arbeitsplatzes wegen politischer Belastung, oder aber hohe Gewinne durch Schwarzmarktgeschäfte, unmittelbarer Zugang zu Lebensmitteln, Kontakte zur Besatzungsmacht zerstörten zwar nicht die traditionelle Hierarchie von Besitz und Herrschaft, überlagerten sie jedoch im Bewusstsein der Werktätigen zu einem gewissen Grad. Die Zusammenbruchsgesellschaft und das Besatzungsregime förderten objektiv nicht unbedingt vereinheitlichende, sondern eher sektorale oder sogar individuelle Lösungsversuche.
Die Partikularisierung des Arbeiterbewusstseins während des Nationalsozialismus fand in den gesellschaftlichen Verhältnissen der unmittelbaren Nachkriegszeit eine Fortsetzung: Tendenzen zu Passivität und Selbstmitleid standen neben Aktivismus, das Warten auf Anordnungen ›von oben‹ neben Initiative und Risikobereitschaft, kruder Egoismus neben Solidarität, »volksgemeinschaftliches« neben klassenkämpferischem Denken, Anerkennung der »guten Seiten« des Nationalsozialismus neben militantem Antifaschismus, Fügsamkeit neben rebellischem Verhalten. Die Widersprüchlichkeit und Diffusität des kollektiven, häufig auch des individuellen Bewusstseins machte die Neuordnungskonzepte der Arbeiterbewegung zwar nicht zu einer reinen Fiktion, bedeutete aber, dass diese sich im Volk auf eine eher labile Basis stützen mussten – eine Tatsache, die die Unterordnung der Gewerkschaften und Arbeiterparteien unter die Besatzungsmächte über das unvermeidbare Maß hinaus zweifellos begünstigte.
Mehrheiten für antikapitalistische Strukturreformen (vor allem die Sozialisierung von Banken und Schlüsselindustrien sowie die Mitbestimmung der Arbeitnehmer auf betrieblicher und überbetrieblicher Ebene), zum Teil (Sachsen, Hessen, Bremen) durch Volksabstimmungen objektiviert, beinhalteten nicht ohne weiteres die Bereitschaft, für diese Reformen aktiv einzutreten. Die von zeitgenössischen Beobachtern immer wieder konstatierte »politische Apathie« der deutsche Bevölkerung, deren Interesse nur den nächstliegenden materiellen Fragen gelte, steht zu einem reformerischen Meinungsklima insofern nicht unbedingt im Gegensatz. Es muss jedoch innerhalb des »werktätigen Volkes« (einschließlich der Frauen, Jugendlichen, Rentner, Flüchtlinge, ehemaligen Kriegsgefangenen) stark differenziert werden. Gewerkschaftlich und politisch mobilisierbar war nur eine Minderheit, die industriellen Arbeiter der Großbetriebe, und auch diese nur begrenzt; kontinuierlich interessenpolitisch tätig war von dieser Kernschicht wiederum nur eine ›Elite‹ aus sozialdemokratisch oder kommunistisch, in unserer Region teilweise auch christdemokratisch orientierten Basiskadern: Vertrauensleute, Betriebsräte, untere Gewerkschaftsfunktionäre.
Sie waren fast durchweg mehr als 35 Jahre alt und in der Zeit der Weimarer Republik in der Regel bereits gewerkschaftlich bzw. parteipolitisch tätig gewesen. Jedenfalls gehörte die Zeit vor dem Dritten Reich zum Erfahrungshintergrund dieser »Männer der ersten Stunde« (Frauen waren kaum darunter), deren Bewusstsein also noch von der klassischen Arbeiterbewegung und deren Leitbildern geprägt war. Wer 1945 50 Jahre alt war, war im Kaiserreich aufgewachsen, hatte im allgemeinen den Ersten Weltkrieg (nicht hingegen den Zweiten) als Soldat mitgemacht, die Revolution 1918/19 als Erwachsener erlebt und sich möglicherweise an dem großen Aufstand der Ruhrarbeiterschaft im März 1920 beteiligt, dessen eines Zentrum ja in Hagen lag. 1933 befand er sich bereits im reifen Mannesalter. Diejenigen, die 40 und jünger waren, hatten von der alten Arbeiterbewegung vor allem den »Bruderkampf« zwischen SPD und KPD und das Versagen gegenüber dem Nationalsozialismus mitbekommen. Die immer wiederkehrende Beschwörung, die politische Entwicklung zwischen 1918 und 1933 dürfe sich nicht wiederholen, entsprach insofern eigenem Erleben. Antifaschistischen Widerstand im engeren Sinne hatten die wenigsten geleistet; aber die Gruppe, von der hier die Rede ist, hatte zumindest zum Regime kritische Distanz gehalten und stellte auch deshalb 1945 das Hauptpotential für den Wiederaufbau der Arbeiterbewegung in Deutschland.
Im Zuge der Besetzung des Deutschen Reichs kam es vielerorts zur Bildung von lokalen Antifaschistischen Ausschüssen, in Einzelfällen Organisationen mit tausenden von Mitgliedern, meist hingegen kleinere Ad-hoc-Gruppen auf Wohngebietsebene, mit denen die überlebenden Kader der alten Arbeiterbewegung beider Richtungen auf die Situation der Zusammenbruchsgesellschaft reagierten. In den vier Besatzungszonen Deutschlands gab es insgesamt etliche Hunderte »Antifas«, wie die Amerikaner sagten, auch in kleineren Orten. Sie widmeten, wie die gleichzeitig entstehenden provisorischen Betriebsausschüsse auch, ihre Energie hauptsächlich dem Überleben durch gemeinschaftliche Selbsthilfe, bemühten sich um die Ausschaltung der »Nazis«, kümmerten sich um die Vorbereitung der Wiedergründung von Gewerkschaften und sahen sich vielfach zugleich als Vorform einer einheitlichen sozialistischen Partei oder einer die Parteien ersetzenden linken Volksbewegung.
Sie konnten mit ihren Aktivitäten teilweise erheblich über den ursprünglichen Kreis der Initiatoren hinauswirken, doch Ausdruck einer revolutionären Massenbewegung waren sie nicht, anders als die Arbeiter-, Soldaten- und Volksräte 1918/19, die aus einer echten Volkserhebung gegen die Fortsetzung des Krieges hervorgegangen waren. In allen vier Besatzungszonen wurden die Antifas meist noch im Frühjahr und Sommer 1945 von den Besatzungsmächten bzw. deren Auftragsverwaltungen aufgelöst. Sie galten den Siegern als dysfunktional für die Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung, zugleich aber auch als politisch zu eigenständig und schwer kontrollierbar, den Westalliierten zudem vielfach als kryptokommunistisch.
In Hagen, wo in der Endphase der Weimarer Republik die KPD hinsichtlich der Wählerstimmen stärker gewesen war als die SPD, fand sich unmittelbar nach der Besetzung der Stadt durch amerikanische Kampftruppen – nach wenigen Tagen abgelöst durch die britische Okkupationsstreitmacht – ein Kreis von 25-30 früheren Arbeiterfunktionären zusammen und gründete die Antifaschistische Front. Neben der gewerkschaftlichen hatten die Beteiligten auch die parteipolitische Einheit der Arbeiter im Auge, wie sie im Frühjahr 1945 (nicht nur in Hagen) wahrscheinlich die Mehrheit der Sozialdemokraten und Kommunisten erhoffte. Zum 1. Mai 1945 trat die Antifaschistische Front Hagens mit einem klassenkämpferischen Aufruf an die – wie es hieß – »antifaschistischen Hagener Arbeitnehmer« hervor. Gegen ausdrückliches Verbot der Militärbehörden demonstrierten einige Dutzend Aktivisten am traditionellen Kampftag auf der Straße, was eine kurzzeitige Inhaftierung der Unterzeichner des Aufrufs und ernste Ermahnungen durch die Briten nach sich zog.
In Hagen zerbrach die Antifaschistische Front an der wieder aufkeimenden Rivalität zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten, welch Letztere sich im Einklang mit ihrem Zentralkomitee im sowjetisch besetzten Berlin schon sehr bald wieder separat organisierten. An einer sozialistischen Einheitspartei, die sie nicht selbst kontrollierte, hatte die KPD-Führung kein Interesse. So kippte die Stimmung, beeinflusst auch durch beunruhigende Berichte aus der Sowjetzone, unter den Sozialdemokraten schon seit Sommer 1945 wieder um, und als die KPD, nachdem sie ihre Organisation gefestigt und ihre Anhänger ›auf Linie‹ gebracht hatte, im Herbst und Winter ihre zentrale Einheitskampagne startete, konnte sie im Westen nur noch eine Minderheit erreichen. Ungeachtet dessen muss man betonen, dass die Zusammenarbeit zwischen den politischen Parteien, insbesondere zwischen SPD und KPD, bis zum offenen Ausbruch des Kalten Krieges im Jahr 1948 auf der lokalen Ebene, in den Gewerkschaften und Betrieben, dominierend blieb, vor allem in den beherrschenden Fragen der Existenzsicherung und des materiellen Wiederaufbaus.
Eine wichtige Voraussetzung dafür was das neuartige Bekenntnis der deutschen Kommunisten zur parlamentarischen Demokratie (anders als vor 1933), während sich in der neuen interkonfessionellen Sammlungspartei CDU, gerade in Hagen, vorübergehend starke christlich-soziale und kapitalismuskritische Tendenzen geltend machten. In Hagen zeigte sich das Zusammenwirken der drei in der Arbeitnehmerschaft vertretenen parteipolitischen Richtungen exemplarisch an der Besetzung führender Positionen beim Gewerkschaftsaufbau: Vorsitzende des im Oktober 1945 gegründeten Westfälischen Gewerkschaftsbundes – er umfasste den Hagener Raum, das südliche Ruhrgebiet und das Bergische Land – waren der Sozialdemokrat und alte Freigewerkschaftler Walter Freitag sowie der aus den Christlichen Gewerkschaften kommende Wilhelm Alef. Beide waren im Juni 1945 von der Besatzungsmacht zu Beauftragten des Gewerkschaftsaufbaus ernannt worden. Leiter der Hagener Ortsverwaltung der mit Abstand wichtigsten Einzelgewerkschaft, der IG Metall, und dann Vorsitzender des DGB-Kreisausschusses Hagen wurde Paul Harig, der Betriebsratsvorsitzende der Hasper Hütte. Er war ein prominentes KPD-Mitglied und hatte vor 1933 eine leitende Funktion in der Revolutionären Gewerkschaftsopposition inne gehabt.
Während nach 1945 der Einfluss der Kommunisten in Hagen in den Großbetrieben und Gewerkschaften sehr groß, teilweise überragend war, mussten sie sich bei den allgemeinen Wahlen zur Stadtverordnetenversammlung (erstmals im Herbst 1946) und zum Landtag mit deutlich weniger Zustimmung als die Sozial- und Christdemokraten begnügen, die beide etwa ein Drittel der Stimmen auf sich vereinigen konnten. Die Hagener KPD, die immerhin bis zu 19% erhielt, bewegte sich hinsichtlich der Wählerstimmen in etwa auf dem Niveau der bürgerlich-liberalen FDP, auch diese eine Neugründung.{mospagebreak}
Ich hatte bisher noch nicht ausdrücklich erwähnt, dass weder Parteien noch Gewerkschaften sogleich ungehindert tätig werden durften. Der Besatzungsmacht ging es darum, deren Wiederentstehung genau zu kontrollieren, weshalb man den sog. Organisationsaufbau ›von unten‹ in mehreren, jeweils genehmigungspflichtigen Phasen vorschrieb, der verzögernd und komplizierend wirkte und die Arbeiterbewegung daran hinderte, in einer Periode, da ihre Gegner – nicht nur die früheren NSDAP-Anhänger – geschwächt und tief verunsichert waren, das Gewicht der großen Zahl voll in die Waagschale zu werfen.
Für den Gewerkschaftsaufbau bedeutete das, dass der erste, noch im Zeichen der Antifaschistischen Front unternommene Anlauf, für Hagen eine stark zentralisierte Einheitsgewerkschaft (die Kritiker sprachen von »Eintopfgewerkschaft«) zu schaffen, von der Militärregierung gestoppt wurde. In den Betrieben waren schon Listen herumgereicht worden, in die sich Eintrittswillige eintrugen. Immerhin duldeten die Briten die Arbeitsgemeinschaft der Betriebsräte, die neben vielem anderen auch auf die Legalisierung der Gewerkschaften hinarbeitete. Allerdings wurden ab August 1945 zunächst nur Betriebsgewerkschaften zugelassen; deren regionalen Zusammenschluss im Oktober 1945, den Westfälischen Gewerkschaftsbund, hatte ich bereits kurz erwähnt. Dieser erhielt im Frühjahr 1946 die Erlaubnis, die Betriebsgewerkschaften in Industrieverbände zusammenzufassen. Mitte 1947 gehörten dem inzwischen auf Zonenebene unter dem Namen DGB konstituierten Gewerkschaftsbund im Gebiet der Ortsverwaltung Hagen bereits rund 30000 Mitglieder an, davon 18300 der IG Metall und 5500 der ÖTV.
Unter den Bedingungen der frühen Nachkriegszeit mit Warenmangel und Kaufkraftüberhang – ich erinnere an das oben Ausgeführte – waren traditioneller gewerkschaftlicher Interessenvertretung enge Grenzen gesetzt: Der Lohnstopp und die Arbeitszeitregelungen der Kriegswirtschaft galten weiter, und kollektive Arbeitsverträge durften zunächst nur auf Betriebsebene abgeschlossen werden. Wenn ein Arbeiter für ein zusätzliches Pfund Butter einen ganzen Monatslohn aufbringen musste, verlor die Forderung nach zehn oder zwanzig Prozent Lohnerhöhung wesentlich an Bedeutung.
Das Besatzungsregime kam auch unmittelbar zur Geltung, denn Streiks (und Aussperrungen) die die militärische Sicherheit und die Ziele der Okkupationsmächte berührten, waren untersagt. Deutsche, die bei Behörden der Militärregierung arbeiteten, oder in Betrieben, die unter deren Verwaltung wirtschafteten, unterlagen einem generellen Streikverbot. Ferner war die Interessenvertretung der Beschäftigten im öffentlichen Dienst, in Versorgungsunternehmen und anderen für die Besatzungsmächte relevanten Betrieben zumindest eingeschränkt. Auf der anderen Seite versäumten es in ihrer Gründungsphase die Gewerkschaften selbst, in Tarifverhandlungen und -verträgen die Position der Arbeitnehmer zu stärken, weil man eine Anerkennung von Arbeitgeberorganisationen als dem ›natürlichen‹ Gegenpart der gewerkschaftlichen Verbände vermeiden wollte. Allerdings unterliefen mehrere Einzelgewerkschaften, so auch die nordrhein-westfälische IG Metall, schon 1947 diese Politik der DGB-Spitze.
Hinter deren Nichtanerkennungsdoktrin stand, weit verbreitet, die Vorstellung, der Kapitalismus sei bereits erledigt; ein privatkapitalistischer Wiederaufbau sei aus sozialen Gründen unvorstellbar, wirtschaftlich nicht möglich und liege (wegen der Rolle des Großbesitzes in der Weimarer Republik und in der NS-Zeit) letztlich auch politisch nicht im Interesse der Alliierten. Hier wurden die materiellen Zerstörungen und das soziale Elend, die zeitweilige und teilweise Suspendierung von Eigentümerrechten durch die Alliierten und die Fortführung der Zuteilungswirtschaft sowie die Diskreditierung des Großkapitals mit dem Ende des Kapitalverhältnisses verwechselt. Nicht alle Gewerkschafter teilten diesen Irrtum, aber kaum jemand hielt 1945/46 eine solche Rekonsolidierung des Kapitalismus für möglich, wie sie auf der Grundlage eines lang anhaltenden Booms dann ab 1948 tatsächlich vor sich ging.
Die geschilderte Einschränkung der gewerkschaftlichen Aktionsmöglichkeiten in den ersten drei bis vier Nachkriegsjahren verlieh den Betriebsräten bzw. ihren Vorläufern, den provisorischen Betriebsausschlüssen des Frühjahrs 1945, eine zentrale Rolle, die kaum zu überschätzen ist. Obwohl die häufig etwas radikaleren Betriebsräte auf den höheren Ebenen der Funktionärshierarchie der Gewerkschaften mit Misstrauen und Sorge betrachtet wurden – der »Betriebssyndikalismus« war tatsächlich ein Problem –, sahen sich die Betriebsräte ihrerseits als untrennbaren Teil der gewerkschaftlichen Arbeiterbewegung und nicht als Konkurrenz oder verselbständige Einrichtungen. Sie waren in den frühen Monaten und Jahren nach Kriegsende tatsächlich allzuständig. Das begann mit einfachsten Reparatur- und Aufräumarbeiten sowie der vielfach maßgeblichen Beteiligung an der Wiederingangsetzung der Produktion und deren Umstellung auf die Friedenswirtschaft. Fragen der Lebensmittel- und Wohnraumverteilung können als indirekte Lohnpolitik verstanden werden. Dazu kamen Initiativen zur »Entnazifizierung der Betriebe«. Vor allem hinsichtlich des Managements gingen deren Ziele deutlich über die Vorgaben der Westalliierten hinaus.
Dass ein Betriebsausschuss im Frühjahr 1945 von der Gesamtbelegschaft gewählt wurde – sei es auch durch Akklamation – war die Ausnahme. Gesamtbetriebliche Zusammenkünfte waren kaum möglich, weil die Besatzungsmacht sie als Verletzung des zunächst geltenden Versammlungsverbots ansehen konnte. Außerdem begannen die Betriebe 1945 erst nach und nach wieder zu arbeiten. Ebenfalls nur nach und nach kehrten die Beschäftigten zu ihrem Arbeitsplatz zurück, wenn auch Teilbelegschaften vielfach schon vor der offiziellen Wiedereröffnung tätig wurden. Ohne das beispielhafte Handeln einer meist kleinen Gruppe älterer Stammarbeiter mit ausgeprägtem politischen Bewusstsein und qualifiziertem Fachwissen, die in Zusammenarbeit mit der Geschäftsführung oder einem Teil derselben, nicht selten aber auch auf eigene Faust tätig wurde, wäre – wenn überhaupt – die Produktion wesentlich langsamer in Gang gekommen. Diese Stammarbeiter waren 1939-45 – sofern sie nicht ohnehin schon zu alt waren – häufig als »unabkömmliche« Fachkräfte vom Militär zurückgestellt worden; sie fühlten sich ihrem Werk stark verbunden und meldeten sich bei erster Gelegenheit zurück, während die Mehrheit noch zögerte. Sie waren im buchstäblichen Sinn gesellschaftsstiftend.
Paul Harig berichtet in seinem Erinnerungsbuch Arbeiter, Gewerkschafter, Kommunist (Frankfurt am Main 1973): »Es gab kaum einen Betrieb, der damals nicht auf die Hilfe der Betriebsräte angewiesen war.« Viele Unternehmer hätten zu ihren Betriebsräten gesagt, sie sollten in ihre Versammlungen gehen und dort fragen, was in diesem oder jenem Fall zu tun sei. Als die Firma Gummi-Becker wegen eines defekten Motors nicht arbeiten konnte, habe Harig aus Ausweichlagern mehrmals Motoren besorgt, damit Gummi-Becker Autoreifen vulkanisieren konnte, die wiederum bei Koch&Mann fehlten. Wäre dies nicht gelungen, hätten deren Autos die knappen Lebensmittel nicht heranholen können. »Da war kein Koks für die Heizung. Für die Hasper Krankenhäuser habe ich Koks besorgt und eine elektrische Leitung haben wir legen lassen, um bei Stromsperren Strom zu haben« (S. 25).
Die Betriebsräte – und über sie die Gewerkschaften – wurden aber auch zum wichtigsten Träger sozialen Protests, so bei der großen Hagener Hungerdemonstration gegen die akut extrem niedrigen Lebensmittelrationen, als sich am 28. März 1947 20000 Menschen auf der Springe versammelten. In einer einstimmig angenommenen Resolution forderten sie Teilnahme an den Weltnahrungsmitteln durch Güteraustausch, Freigabe der Kriegsgefangenen, Kontrolle der Verbraucher bei Erfassung und Verteilung aller Bedarfsgüter, radikale Bekämpfung des Schwarzmarktes und Schiebertums, eine deutsche Zentralverwaltung bei Fortfall der Zonengrenzen, eine gesunde Wirtschaftsreform, Beseitigung der Personen des sog. Rechtsnährstandes (unter Leitung des früheren Deutschnationalen Schlange-Schöningen), die einer gerechten Erfassung und Verteilung im Wege stünden, und eine höhere Zuteilung für Normalverbraucher.
Ebensolchen Unmut verursachte die Bekanntgabe der (wenn auch gegenüber 1946 reduzierten) alliierten Demontageliste im Oktober 1947. 2000 Beschäftigte der Hasper Hütte besetzten den Elektro-Ofen und das gesamte Stahlwerk, um eine Demontage zu verhindern; sie standen bewaffneten britischen Einheiten gegenüber. Am Ende beschränkten sich die Demontagen bzw. Teildemontagen in Hagen auf sechs Unternehmen.
Weitere Protestdemonstrationen und Proteststreiks folgten im Januar 1948 und dann am 11. und 12. November 1948, als rund sieben der elfeinhalb Millionen Arbeitnehmer der vereinigten britisch-amerikanischen Zone, der »Bizone«, für einen Tag die Arbeit niederlegten, um die Preiserhöhungen im Gefolge der die Sachwertbesitzer einseitig bevorzugenden Währungsreform anzuprangern. Die Währungsrefom änderte zwar schlagartig die Versorgungslage (viele Waren waren vorher gezielt gehortet worden) – insofern stimmt die Legende –, aber nicht die Einkommenssituation für die breiten Volksschichten. Es sollte noch Jahre dauern, bis das sog. Wirtschaftwunder bei der Arbeiterbevölkerung anzukommen begann.
Einen großen Erfolg konnten Gewerkschaften und Betriebsräte speziell in Hagen verbuchen: die Durchsetzung der paritätischen Mitbestimmung in der Hasper Hütte gemäß zweier Betriebsvereinbarungen 1946 und 1947, erstmalig in Deutschland und vorbildlich für parallele Regelungen in der von den Briten »entflochtenen« Eisen- und Stahlindustrie, von den Gewerkschaften 1951 flächendeckend verteidigt. Die Mitbestimmung in der Montanindustrie bildete dann den Kern ökonomischer Konsensstrukturen (wie sie später für das »Modell Deutschland« prägend werden sollten) in Branchen, die vor 1933 durch besonders heftige soziale und politische Konfrontationen gekennzeichnet waren. Man muss allerdings hinzufügen, dass die faktischen Befugnisse der Betriebsräte bzw. der Gewerkschaften in den ersten drei Nachkriegsjahren teilweise deutlich über die paritätische Mitbestimmung entsprechend dem Modell der Hasper Hütte hinausgingen. Sie verfielen im Zuge der Rekonsolidierung der Kapitalmacht wieder rasch, wenn sie nicht rechtlich abgesichert wurden wie in der nordrhein-westfälischen Eisen- und Stahlindustrie und dann in der gesamten bundesdeutschen Montanindustrie.
Was bleibt somit als Fazit? Auch wenn die 1945/46, so auch in Hagen, vertretenen Pläne einer zentralisierten Einheitsgewerkschaft nicht verwirklicht werden konnten und die erstrebte gesamtdeutsche Gewerkschaftseinheit wegen der politischen Gesamtlage, letztlich wegen des beginnenden Kalten Krieges, nicht zustande kam, muss doch die Überwindung der Richtungsgewerkschaften (wie sie vor 1933 existiert hatten) und die gemeinsame Organisierung von Arbeitern, Angestellten und Beamten in großen Industrie- bzw. Bereichsverbänden – Berufsgewerkschaften waren kein Thema mehr – als großer Fortschritt der deutschen Gewerkschaftsbewegung gewertet werden. Doch blieb der Organisationsgrad von Frauen, Jugendlichen sowie Beamten relativ niedrig, und es entstand mit der Verselbständigung der DAG für mehrere Jahrzehnte eine eigene, konkurrierende Angestelltengewerkschaft.
Weniger erfolgreich waren die Versuche, die wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Neuordnungsvorstellungen, wie sie nicht allein, aber nicht zuletzt von den Gewerkschaften vertreten wurden, durchzusetzen. Zwar gelang es durch eine breite Parteienzusammenarbeit von SPD, KPD und CDU, in diverse Landesverfassungen entsprechende Richtlinien aufzunehmen. Doch die Verfassungsartikel, die sich mit Teilsozialisierungen und Wirtschaftsdemokratie beschäftigten, bedurften konkreter Ausführungsgesetze, für die Mehrheiten wesentlich schwerer zu finden waren, als sich in der CDU/CSU die wirtschaftsliberalen Kräfte ab 1947 immer deutlicher durchsetzten. Das, was dennoch von den Landesparlamenten beschlossen wurde, wie z. B. das Gesetz über die Sozialisierung der Kohlegruben in Nordrhein-Westfalen, suspendierten die Besatzungsmächte mit dem Hinweis auf eine künftige, gesamtstaatliche Regelung.
Umso mehr wird man die paritätische Mitbestimmung in der Eisen- und Stahlindustrie des Ruhrgebiets als einen wichtigen Schritt zur Demokratisierung der Wirtschaft positiv würdigen müssen. Es handelte sich dabei um eine gezielte Konzession der britischen Besatzungsmacht, um in der für eine Wiederbelebung der Ökonomie grundlegend bedeutsamen Schwerindustrie eine störungsfreie Produktion zu gewährleisten. Die Mitbestimmungsregelung vom Februar 1947 war auch deshalb kein Geschenk der Militärregierung, weil sie infolge nachdrücklicher Forderungen der Arbeiterbewegung, flankiert von einer derzeit verbreiteten Betriebsratspraxis, und unter dem Druck einer sich ausbreitenden Streikwelle zustande kam.
Wenn die Gewerkschaften (und, wie man ergänzen könnte, die Sozialdemokratie) spätestens 1952/53 mit der Niederlage bei der Auseinandersetzung über das Betriebsverfassungsgesetz und mit der zweiten Bundestagswahl (dem großen Sieg der CDU/CSU) hinsichtlich ihres Konzepts umfassender gesellschaftlicher Neuordnung gescheitert waren, heißt das nicht, dass die von ihnen ausgehenden Anstöße in der Folgezeit nicht wirksam geworden wären. Der Ausbau des Sozialstaats hin zu einer neuen Qualität, die Gestaltung sozialpolitisch relevanter Bereiche wie des sozialen Wohnungsbaus und des zunehmend umverteilenden Steuerwesens erfolgten unter Mitwirkung, zumindest aber unter Berücksichtigung der Existenz und der Stärke der Organisationen der Arbeiterbewegung. Das, was politisch geschieht, ergibt sich ja nicht einfach logisch aus bestimmten Eigentums- und Herrschaftsstrukturen, sondern ist – in deren Rahmen – stets eine Resultante des Ringens unterschiedlicher, lebendiger politisch-sozialer Kräfte.
Wir können in jedem Fall sagen, und damit möchte ich ganz ohne wissenschaftliche Distanz schließen: Wir haben mehr als einen Grund, denen zu danken, die 1945 unter schwierigsten Umständen neu begannen, auch für uns, für die kommenden Generationen. Es hat sich gelohnt.
[Vortrag, gehalten am 29.10.2007 anlässlich der Eröffnung der Ausstellung 60 Jahre DGB in Hagen]
Literatur (Auswahl)
A. Zu Hagen
J. Becker, Das Verhältnis von Militärregierung, Verwaltung und Parteien in Hagen 1945-1947, Magisterarbeit Münster 1991.
P. Harig, Arbeiter, Gewerkschafter, Kommunist, Frankfurt am Main 1973.
F. Keinemann, Hagen 1933-1948. Beiträge zur Geschichte einer Stadt in kritischer Zeit, Hagen und Hamm 1977.
W. Schmidt/T. Turck, Kartoffelring und Mitbestimmung. Gewerkschaftlicher Neubeginn in Hagen, Hagen 1996.
R. Stöcker, Tatort Hagen 1933-1945. Geschichte der Hagener Arbeiterbewegung Bd. III, Essen 1993.
B. Arbeiten des Referenten zur frühen Nachkriegszeit
P. Brandt, Antifaschismus und Arbeiterbewegung. Aufbau – Ausprägung – Politik in Bremen 1945/46, Hamburg 1976.
Ders. (Hg. mit U. Borsdorf u. L Niethammer), Arbeiterinitiative 1945. Antifaschistische Ausschüsse und Reorganisation der Arbeiterbewegung in Deutschland, Wuppertal 1976.
Ders., Betriebsräte, Neuordnungsdiskussion und betriebliche Mitbestimmung 1945-1948. Das Beispiel Bremen, in: Internationale wissenschaftliche Korrespondenz zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, 20. Jg. (1984), S. 156-202.
Ders., Die deutsche Linke, die Arbeiterklasse und die nationalsozialistische »Volksgemeinschaft« in der Kriegs- und frühen Nachkriegszeit, in: H. Grebing/P. Brandt/U. Schulze-Marmeling (Hg.), Sozialismus in Europa – Bilanz und Perspektiven, Essen 1989, S. 272-296.
Ders., Deutschland nach 1945. Die Nachkriegsgesellschaft vor dem Hintergrund des Nationalsozialismus, in: Dokumentation der 5. Leverkusener Hochschultage, Juni 2005. [Zuerst auf Englisch in: R. Rürup (ed.), The Problem of Revolution in Germany, 1789-1989, Oxford/New York 2000, p. 129-159).
C. Weitere Titel zur Geschichte Deutschlands und der deutschen Arbeiterbewegung in der frühen Nachkriegszeit
J. Foschepoth/R. Steininger (Hg.), Britische Deutschland- und Besatzungspolitik 1945-1949, Paderborn 1985.
C. Kleßmann, Die doppelte Staatsgründung. Deutsche Geschichte 1945-1955, Göttingen 1982.
Ders./P. Friedemann, Streiks und Hungermärsche im Ruhrgebiet 1946-1948, Frankfurt am Main/New York 1977.
S. Mielke/P. Rütters u. Mitarb. v. M. Becker (Hg.), Gewerkschaften in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft 1945-1949, Köln 1991 (Quellen zur Geschichte der deutschen Gewerkschaftsbewegung im 20. Jahrhundert).
H. Pietsch, Militärregierung, Bürokratie und Sozialisierung. Zur Entwicklung des politischen Systems in den Städten des Ruhrgebiets 1945 bis 1948, Duisburg 1978.