von Peter Brandt

Das Grundgesetz im Licht der deutschen Demokratie- und Verfassungsgeschichte

 

Die Weimarer Verfassung vom 11. August 1919, entworfen von dem linksliberalen Staatsrechtler Hugo Preuß, galt zu Recht als eine der fortschrittlichsten der damaligen Zeit, auch wenn große Teile der Arbeiterschaft weitergehende Ziele verfolgten. Dabei sind neben der definitiven Abschaffung der Monarchie und der jetzt eindeutig parlamentsabhängigen Regierung das nun proportionale, auf Männer auch unter 25 Jahren und Frauen ausgedehnte Wahlrecht für alle staatlichen Vertretungskörperschaften, zudem die (wegen hoher Hürden in der Praxis weniger relevante) Möglichkeit direkter Volksgesetzgebung durch Plebiszit und auch die Stärkung der unitarischen Komponente im Staatsaufbau gegenüber der föderalen zu nennen. Problematisch, wie sich dann vor allem in der Endphase der Republik zeigte, war die starke Stellung des volksgewählten Reichspräsidenten, der Teil der Exekutive war, mit seinem Notverordnungsrecht.

Wie 1849 enthielt die Verfassung von 1919 einen umfangreichen Grundrechtekatalog, der – eher programmatisch – auch eine Reihe gemeinwohlorientierter und sozial akzentuierter Ziele republikanischer Gesellschaftspolitik beinhaltete. Der sozialdemokratische Staatsrechtler Hermann Heller vertrat einige Jahre später sogar die Auffassung, nicht ein Deut an diesem Verfassungstext müsste geändert werden, um über eine Parlamentsmehrheit eine sozialistische Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung einzuführen. Die Historiker und die historisch arbeitenden Juristen sind heute ganz überwiegend der Meinung, dass die Weimarer Republik jedenfalls nicht an einer fehlerhaften Verfassung gescheitert sei und sie betonen stärker als vor Jahrzehnten, dass die Republik nicht von Anfang an zum Untergang verurteilt gewesen sei – trotz enormer Belastungen, angefangen mit einem tatsächlich diktierten, drückenden, inhaltlich über das ganze politische Spektrum abgelehnten Friedensvertrag und einer nicht erst in der weltweiten großen Krise ab Herbst 1929 schwierigen Wirtschaftslage. Belastend war vor allem die gegenüber der demokratischen Verfassungsordnung skeptische bis klar ablehnende Haltung der Eliten in der Hochfinanz und in der (vor allem Schwer-)Industrie, dem Großgrundbesitz, dem Offizierskorps, der hohen Bürokratie, auch der beamteten (namentlich Gymnasial- und Hochschullehrer) und auch freiberuflichen Intelligenz. Eine ›Republik ohne Republikaner‹, wie man schon zeitgenössisch formulierte, war Deutschland 1919 bis 1932 nicht. Ereignisse wie der erfolgreiche Generalstreik gegen den Kapp-Lüttwitz-Putsch vom März 1920 und die überparteilichen Massenproteste gegen die Ermordung von Matthias Erzberger und Walther Rathenau, bürgerlich-demokratischen Politikern, zeugen von einer aktiven Massenbasis der demokratischen Republik vor allem, aber nicht nur in den Anfangsjahren, wenngleich sich viele Republikaner auf dem linken Flügel die Republik anders wünschten als sie war.

Wir dürfen die Weimarer Republik nicht nur als Vorgeschichte des ›Dritten Reiches‹ betrachten; sie ist ein wichtiger Teil der deutschen Verfassungs- und Demokratiegeschichte und gehört insofern auch zur demokratischen Vorgeschichte der Bundesrepublik. Es ist hier nicht der Ort, darzulegen, woran die Republik von Weimar letztlich zugrunde gegangen ist. Zum bereits Gesagten nur noch der Hinweis, dass zwei Wählerkategorien bis zum Schluss dem Werben der NSDAP gegenüber ziemlich unzugänglich blieben: erstens die Anhänger der – untereinander verfeindeten – sozialistischen Arbeiterparteien SPD und KPD mit per Saldo 36 bis 37 Prozent der Stimmen bei Reichstagswahlen, allerdings bei einer seit 1930 anhaltenden Verschiebung nach links zu den Kommunisten (ohne dass diese auf Reichsebene jemals vor der SPD lagen), und zweitens der politische Katholizismus, also die Zentrumspartei und die Bayerische Volkspartei, mit zusammen etwa 15 Prozent, die sich spätestens seit 1930 aber deutlich von der Demokratie, wenngleich nicht vom Rechtsstaat, entfernten. Die liberalen Parteien sind bis 1932 zugunsten der radikalfaschistischen Rechten hingegen regelrecht pulverisiert, die Rechtskonservativen stark reduziert worden. Und zusätzlich schöpfte die NSDAP stark aus der Mobilisierung bisheriger Nichtwähler.

Der eingangs gegebene Hinweis auf ein Legitimitätsproblem des Grundgesetzes, das von den Verfassungsvätern (samt einigen wenigen -müttern) auch empfunden wurde, bezieht sich auf sein Zustandekommen im Auftrag der westlichen Besatzungsmächte. Diese sahen keine Möglichkeit einer die Sowjetzone einschließenden Lösung für Deutschland mehr und wollten sie auch nicht mehr sehen. Das bedeutete, den ersten Schritt zur formellen Teilung Deutschlands zu machen. Und deshalb waren es vor allem die deutschen Politiker – und in erster Linie die sozialdemokratischen – die den provisorischen Charakter der westdeutschen Staatsgründung betonten und auch keine Nationalversammlung und keine Volksabstimmung über das Grundgesetz wünschten. Die meisten der (in der Regel eher konservativen) deutschen Staatsrechtler vertreten heute die Meinung, dass dieser Entstehungsmangel des Grundgesetzes – weder über die Wahl einer speziellen verfassunggebenden Versammlung vorbereitet noch nachträglich durch Plebiszit bestätigt – über langjährigen Gebrauch, auch durch die 1955 noch begrenzte, aber 1990 dann komplette Erlangung der staatlichen Souveränität und durch die zunehmend breite Akzeptanz im Volk gewissermaßen geheilt worden sei.

Es ging bei den Grundgesetz-Diskussionen 1948/49 also nicht zuletzt auch um die gesamtdeutsche Dimension des Vorgangs durch Ausschluss der Ostzone, aber mit der Perspektive einer künftigen gemeinsamen Verfassungsgebung (Art. 146) bzw. der Möglichkeit des Beitritts weiterer deutscher Länder zum Geltungsbereich des Grundgesetzes nach Art. 23. Die Gründungsverfassung der im Oktober 1949 proklamierten DDR war, enger als das Grundgesetz, an die Weimarer Verfassung angelehnt und im Wortlaut durchaus demokratisch – die diktatorische Praxis sah schon ganz anders aus. Im Unterschied zum Grundgesetz galt die DDR-Verfassung von 1949 nicht geografisch begrenzt; laut ihrer Präambel hatte ›das deutsche Volk‹ schlechthin sie sich gegeben. Hervorgegangen war sie aus der gesamtdeutsch gemeinten Volkskongress-Bewegung. In den 1950er und abgeschwächt in den 60er Jahren gab es also eine innerdeutsche Kontroverse, die sich auch in dem jeweiligen Verfassungstext niederschlug, darüber, welcher der beiden Staaten als deutscher Kernstaat in seiner Existenz die Interessen der ganzen deutschen Nation vertrat. Erst um 1970 entdeckte die SED, dass es inzwischen zwei deutsche Nationen gäbe. Diese Doktrin antwortete auf die neue Ost- und Deutschlandpolitik der sozial-liberalen Bonner Koalition, die mit ihrer Formel von zwei deutschen Staaten einer Nation an die frühere, in der zweiten DDR-Verfassung von 1968 noch einmal festgeschriebene Position der SED anzuknüpfen versuchte.

Die Verfassungsfrage als eine gemeindeutsche erhielt noch einmal praktische Relevanz, als 1989/90 der stürmische Wandel im ganzen Ostblock und namentlich die revolutionär-demokratische Volksbewegung im Osten Deutschlands zum Zusammenbruch der bestehenden Ordnung in der DDR führten und die Forderung nach einer schnellen und (vermeintlich) unkomplizierten Wiedervereinigung seit der Maueröffnung am 9. November 1989 immer lauter wurde. Als die CDU-geführte Wahlallianz am 18. März 1990 die Wahlen in der DDR gewann, war die Grundentscheidung für die Beitrittslösung faktisch schon gefallen, wie sie dann im Einigungsvertrag geregelt wurde. Auch die in der Bundesrepublik-West bestimmenden Kräfte wollten keineswegs, dass die Grundfragen des staatlichen Zusammenlebens oder gar der wirtschaftlich-gesellschaftlichen Ordnung Gegenstand einer breiten Debatte würden. Ein seit Dezember 1989 vom Zentralen Runden Tisch, wo Vertreter der oppositionellen Bürgerrechtsgruppen und der etablierten Organisationen, namentlich der SED, zusammensaßen, erarbeiteter, gegenüber dem Grundgesetz gewissermaßen ›linkerer‹ Verfassungsentwurf für die DDR, wurde von der neugewählten Volkskammer sogleich verworfen. Er hätte bei weiterer Behandlung in einer gesamtdeutschen Verfassungsdebatte wohl irgendwie mitberücksichtigt werden müssen. Formal war die Beitrittslösung verfassungskonform; gemessen an den Beratungen und Beschlüssen von 1948/49 entsprach sie wohl nicht dem ursprünglichen ›Geist‹ des Grundgesetzes.

Zurück zur Ausgangssituation nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs: Der politische Neubau unter Kontrolle der Besatzungsmächte begann in den Gemeinden und Ländern, wo zunächst Verfassungen erarbeitet wurden, so z.B. schon 1946 im Land Hessen. Die Sozialdemokraten, diesbezüglich unterstützt von den noch nicht irrelevanten Kommunisten und anfangs im westdeutschen Durchschnitt etwa gleich stark wie die Christdemokraten, zunächst auch Teile der CDU, traten damals dafür ein, profunde antifaschistische und antikapitalistische Strukturreformen in die Länderverfassungen einzubringen: Einerseits wurde bis weit ins Bürgertum eine starke Verantwortung des Großkapitals für den Hitler-Faschismus gesehen; andererseits zweifelte man an der sozialen und ökonomischen Möglichkeit eines Wiederaufbaus unter den bestehenden Eigentumsverhältnissen. Der spätere prosperierende und sozialstaatlich regulierte Kapitalismus mit seinem bislang ungeahnten Wohlstandszuwachs auch für die untere Hälfte der Bevölkerung lag noch außerhalb der Vorstellungskraft. Die in den ersten Jahren nach 1945 in westdeutschen Länderverfassungen verankerten Mitbestimmungs- und Sozialisierungsartikel, teilweise in Volksabstimmungen untermauert, wurden von der amerikanischen Militärregierung oder auf deren Veranlassung suspendiert und dann durch die überregionale Staatsbildung Westdeutschlands überholt.

(Teil drei folgt)