von Peter Brandt

Das Grundgesetz im Licht der deutschen Demokratie- und Verfassungsgeschichte

Am 23. Mai 2024 beging die Bundesrepublik Deutschland das 75-jährige Jubiläum des Grundgesetzes und damit ihrer Staatsgründung. Aus der Szene der sog. Reichsbürger kann man hören, das Grundgesetz sei gar keine richtige Verfassung. Sofern das auf den Namen bezogen wird, ist es mindestens irreführend. Die älteste gültige (wenn auch mehrfach ergänzte und geänderte) Verfassung Europas, die norwegische von 1814, heißt ›Grunnloven‹ = Grundgesetz. Allerdings wurde in Westdeutschland 1948/49 der Ausdruck ›Grundgesetz‹ bewusst gewählt, um etwas gegenüber einer Vollverfassung Niederrangigeres zu bezeichnen. Sofern man bei unserem Grundgesetz darüber hinaus ein Legitimitätsproblem sehen könnte, liegt es an dessen Entstehungsgeschichte (siehe weiter unten).

Verfassungen sind Grundordnungen des Staates, die im modernen Verständnis, also seit dem späteren 18. Jahrhundert, eine signifikante institutionelle Trennung zwischen der regierenden Exekutive, bis ins frühe 20. Jahrhundert überwiegend und teilweise bis heute in Europa mit monarchischer Spitze, und der gesetzgebenden (was dann auch das Haushaltsrecht betrifft) Legislative beinhaltet. Die Funktionsweise des staatlich organisierten Gemeinwesens ist dabei fest und beständig an das geregelte Zusammenwirken von Regierung und Volksrepräsentation gebunden. Bei Letzterer spielte in den meisten Staaten lange eine aus privilegierten Gruppen zusammengesetzte Erste Kammer neben der eigentlichen Volkskammer, ihrerseits zunächst mit stark beschränktem Wahlrecht, eine wichtige Rolle.

Verfassungsstaaten entwickelten sich erst in einem längeren historischen Prozess und nicht ohne heftige gesellschaftlich-politische Auseinandersetzungen zu Demokratien, wobei die Parlamentarisierung der Regierungsweise, also die Abhängigkeit der Regierung von den Mehrheitsverhältnissen im Parlament, der Demokratisierung des Stimmrechts für Männer (das Frauenwahlrecht setzte sich erst im 20. Jahrhundert sukzessive durch) überwiegend vorausging, anders als in Deutschland, wo es umgekehrt war. Hierzulande erfolgte die Einführung des allgemeinen gleichen Wahlrechts auf Reichsebene, nicht auf einzelstaatlicher und kommunaler Ebene, rund ein halbes Jahrhundert vor der Parlamentarisierung der Regierung, nämlich schon 1867/71. Die wichtigste treibende Kraft in beiden Prozessen war in den Jahrzehnten um 1900 europaweit übrigens die sozialistische Arbeiterbewegung, die namentlich im Deutschen Kaiserreich für Demokratisierung im staatlichen wie gesellschaftlichen Bereich eintrat. In mehreren europäischen Staaten kämpfte die Arbeiterbewegung, auch in Massenstreiks, für die Erweiterung des Wahlrechts.

Dass das bundesdeutsche Grundgesetz nun 75 Jahre gilt und vermutlich noch Jahrzehnte weitergelten wird, ist – auch im internationalen Vergleich – bemerkenswert. Von den beiden früheren gesamtdeutschen Verfassungen trat die Verfassung der Paulskirche, beschlossen am 28. März 1849, gar nicht erst in Kraft, und die Weimarer Verfassung vom 11. August 1919 fungierte, zuletzt mehr schlecht als recht, nur bis zum Winter 1932/33. Pro forma wurde sie vom NS-Regime übrigens nie aufgehoben, aber schon im März 1933 durch ein Ermächtigungsgesetz, sprich: die Einführung einer Regierungsdiktatur, unwirksam gemacht.

Die deutsche Verfassungsgeschichte im modernen Sinn, also als Geschichte des Konstitutionalismus, beginnt, nach Vorläufern in der napoleonischen Zeit, mit den Konstitutionen verschiedener der nach 1815 beinahe selbstständigen deutschen Fürstentümer. Die Verfassung des Großherzogtums Baden von 1818 galt als ein liberaler Pol, und der bedeutende Freiburger Professor und Parlamentarier Carl v. Rotteck formulierte gleichzeitig: »Ein Volk, das keine Verfassung hat, ist – im edlen Sinn des Wortes – gar kein Volk.« Erst im Zuge der Ereignisse von 1848/49 kam dann auch der, neben Österreich, mit Abstand größte deutsche Einzelstaat, das Königreich Preußen, zur Gruppe der Verfassungsstaaten, hinzu. Nach mehreren gegenreformerischen Änderungen bildete die preußische Verfassung innerhalb Deutschlands den konservativen Pol.

Da in diesen Jahrzehnten die Bewegung für politische Emanzipation, vor allem getragen vom Bildungsbürgertum, mehr und mehr auch von den breiten Bevölkerungsschichten, eng verknüpft war mit der Nationalbewegung, dem Bestreben, einen einheitlichen und im Innern freien deutschen Nationalstaat zu errichten, man sogar von einer annähernden Identität beider Bestrebungen sprechen kann, trat in der Revolution 1848, auch entstanden aus struktureller und konjunktureller Wirtschaftskrise im Übergang zum Kapitalismus und verschärfter Massenarmut, neben das Ziel der Liberalisierung der Verhältnisse sogleich das der Einigung Deutschlands.

Am 18. Mai 1848 kam in Frankfurt am Main erstmal eine nach einem annähernd allgemeinen und gleichen Männerwahlrecht gewählte Deutsche Nationalversammlung zusammen. In den unterschiedlichen parlamentarischen Gruppen formierten sich Vorformen politischer Parteifraktionen; ebenso entstand an der gesellschaftlichen Basis ein ausgedehntes Publikationswesen und ein breites und differenziertes politisches Vereinswesen, mit der Allgemeinen Deutschen Arbeiterverbrüderung auch schon eine frühe sozialdemokratisch-gewerkschaftliche Vereinigung. ›Demokraten‹ nannten sich damals übrigens nur die relativ radikaleren, für uneingeschränkte Volkssouveränität eintretenden Gruppierungen.

Nach früherem US-amerikanischem und französischem Vorbild konzentrierte man sich 1848 in der Frankfurter Paulskirche zunächst auf die Erstellung eines umfassenden Grundrechte-Katalogs, über dessen Inhalt man sich vergleichsweise einig war. In diesen Monaten verschob sich in den großen Einzelstaaten Deutschlands aber schon das politisch-gesellschaftliche Kräfteverhältnis zugunsten gegenrevolutionärer Kräfte, die nicht nachhaltig entmachtet, sondern nur zwischenzeitlich geschwächt und gelähmt waren. Die Frankfurter Nationalversammlung und ihre provisorische Reichsregierung hatten keine eigenen Machtmittel, und ihre gemäßigt-liberalen Fraktionen strebten eine ›Vereinbarung‹, mit den monarchischen Einzelstaaten an, einseitige Maßnahmen kraft revolutionären Rechts lehnten sie ab.

Die schließlich im interfraktionellen Kompromiss verabschiedete ›Verfassung des Deutschen Reiches‹ vom 28. März 1849 sollte einen Bundesstaat mit dem preußischen König als kaiserlichem Staatsoberhaupt verwirklichen. Entstanden wäre eine im europäischen Vergleich ausgesprochen fortschrittliche konstitutionelle Monarchie mit dem wahrscheinlichen Machtschwergewicht im Parlament. Als Friedrich Wilhelm IV. von Preußen es ablehnte, die Kaiserkrone aus der Hand der Volksvertreter entgegenzunehmen, war die Nationalversammlungsmehrheit am Ende ihres Lateins und gab auf. Preußische Truppen schlugen die zur Verteidigung der Reichsverfassung vor allem in Sachsen, in der Rheinpfalz und in Baden mit Waffengewalt sich erhebenden Republikaner und ›Social-Demokraten‹ mit eigentlich weitergehenden Zielen blutig nieder.

Trotz der vordergründigen Niederlage der Revolution samt der in Frankfurt beschlossenen Verfassung wurde in der Behördenorganisation, der Rechtspflege und der einzelstaatlichen Verfassungsentwicklung, der Judenemanzipation, der Vollendung der Agrarreformen und der Wirtschaftspolitik das Rad nicht einfach zurückgedreht. Der von der Nationalversammlung 1848/49, also von den gewählten Vertretern der deutschen Gesamtnation, erhobene Anspruch auf Einheit in Freiheit ließ sich angesichts des gewaltigen Politisierungsschubs der Revolutionsmonate nicht mehr aus den Köpfen verbannen. Und dass der als ›Reichsgründer‹ von 1871 bezeichnete preußische Ministerpräsident seit 1862, Otto von Bismarck, mit der Einführung des demokratischen Wahlrechts von 1849 auf Reichsebene meinte, an die liberalen und demokratischen Bestrebungen in der Gesellschaft appellieren zu sollen, und dass das Kaiserreich von 1871 – bei allen obrigkeitsstaatlichen Einschränkungen – erstmals in der deutschen Geschichte einen nationalen Verfassungsstaat schuf, ist ohne die Ereignisse von 1848/49 schwer vorstellbar.

Die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts war die Zeit, da Deutschland zu einem wirtschaftlich und wissenschaftlich hochmodernen Industriegiganten und avancierten ›Kulturstaat‹ heranwuchs. Es ist unter Historikern viel diskutiert worden, ob die staatliche Verfassung des Kaiserreichs ohne Kriegsniederlage und Novemberumsturz 1918 hätte demokratisch weiterentwickelt werden können. Hier reicht es festzuhalten, dass zwar insbesondere ein Bedeutungszuwachs des Reichstags und der inzwischen fest etablierten Parteien nicht zu übersehen ist, ohne dass aber der Schritt zur parlamentarischen Regierungsweise erfolgte; das bewirkte – nach letzten Reformversuchen der Monarchie im Herbst 1918 angesichts der hoffnungslosen militärischen Lage – erst die Revolution 1918/19, die zu allererst ein Aufstand der Arbeiter und Soldaten gegen die Fortsetzung des offenkundig verlorenen Krieges war.

Es ist allgemein bekannt, dass die relative Einheit der mit der antimilitaristischen und auf Demokratisierung gerichteten Rebellion des November 1918 schon um die Jahreswende 1918/19 an internen Gegensätzen der Trägergruppen zerbrach. Diese führten dann sogar zu bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen, in denen direkt gegenrevolutionäre Kräfte wieder Einfluss gewinnen konnten. Doch entsprechend dem schließlich gescheiterten Versuch von 1848/49 wählten die Deutschen im Januar 1919 eine verfassunggebende Nationalversammlung. Auch in Addition blieben die Mehrheitssozialdemokraten mit 37,9 Prozent der Stimmen und die wegen unterschiedlicher Haltungen zum Krieg seit 1917 verselbstständigten Unabhängigen Sozialdemokraten mit 7,6 Prozent der Stimmen trotz gegenüber der letzten vorausgegangenen Reichstagswahl beachtlicher Stimmengewinne unterhalb einer eigenen Mehrheit, und so bildete die SPD mit der katholischen Zentrumspartei und der liberalen Deutschen Demokratischen Partei die sog. Weimarer Koalition; deren überragende Mehrheit ging allerdings schon bei der ersten regulären Reichstagswahl im Sommer 1920 verloren.

Teil zwei

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