Anmerkungen zu Erinnerungskultur und Geschichtspolitik

von Johannes R. Kandel

Im Zuge des legendären ›Historikerstreits‹ 1986 formulierte der Historiker Michael Stürmer treffend, »daß in einem geschichtslosen Land die Zukunft gewinnt, wer die Erinnerung füllt, die Begriffe prägt und die Vergangenheit deutet«. Das gilt bis heute in besonderer Weise, weil Geschichte seit den neunziger Jahren, nicht zuletzt durch die neu gewonnene Einheit Deutschlands, einen Boom erlebte. Staat und Zivilgesellschaft waren kräftig dabei, die Vergangenheit zu deuten, jeweils nach ihren Kriterien. Erinnerungen wurden aufpoliert, Vergangenheit heraus gekramt und Geschichtsbilder produziert. Das Ganze nennen Historiker seit geraumer Zeit, nicht ganz glücklich, ›Geschichtspolitik‹. Wenn Walter Steinmeier zum Talk über die Gründung des Deutschen Kaiserreiches 1871 vor 150 Jahren einlädt, so ist das Geschichtspolitik. Genau das betreiben auch die Aktivisten einer sogenannten ›Cancel Culture‹, die sich stark auf Geschichte fokussiert. Die sperrige Vergangenheit Deutschlands soll nicht nur scharfer historischer und literarischer Kritik unterzogen werden, wie es ja schon ständig geschieht, sondern es sollen ganz handgreiflich die erinnerungspolitischen Artefakte beseitigt werden, die uns Deutschen vermeintlich immer noch zu ›falschen‹ Geschichtsbildern verführen. Diese seien fatalerweise im ›kollektiven Gedächtnis‹ der Nation noch immer nachhaltig präsent. Mit volkspädagogischem Eifer machten sich selbsternannte Geschichtsaktivisten daran, eine ›politisch korrekte‹ Erinnerungskultur und Geschichtspolitik zu konstituieren. Es ist wieder die Stunde der Ideologen, der linken Geschichtskonstrukteure, Geschichtsfälscher und selbsternannten Volkserzieher, freundlich begleitet von TV und Printmedien. Den Bürgern soll bis in ihr alltägliches Umfeld hinein vorgeschrieben werden, an was, wen und wie sie sich ›politisch korrekt‹ erinnern dürfen. Hier findet Enteignung von persönlicher Erfahrung und subjektiver Erinnerung statt. Es greift eine didaktisch verpackte Erinnerungskontrolle Platz. Ein neues ›kollektives Gedächtnis‹ soll mittels sogenannter ›emanzipatorischer Geschichtsnarrative‹ als vermeintlich konkurrenzlose Vergangenheitsdeutung geschaffen werden. Staat und Zivilgesellschaft werden aufgefordert, linke Geschichtspolitik zu betreiben.

Erneut fassen die Ideologen Deutschland an seiner schwächsten Stelle: dem Schuldkomplex. Es ist immer wieder wirkungsvoll den Deutschen vorzuhalten, sie hätten aus ihrer, vor allem, jüngsten, Geschichte nichts ›gelernt‹ Grund genug, mit der uralten Frage zu beginnen, ob überhaupt und wenn ja, was und wie aus Geschichte ›gelernt‹ werden kann.

Lernen aus Geschichte?

In der gelehrten Welt, etwa seit der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, sprach man von ›der Geschichte‹ im ›Kollektivsingular‹ und seitdem fragten zahlreiche Geisteswissenschaftler nach dem Selbstverständnis der Historie. Ihr Interesse richtete sich stark auf den ›Nutzen‹, den die Menschen der Gegenwart von ›Geschichte‹ haben könnten. Das ist bis heute so geblieben und hat mannigfache, oft höchst kontroverse, Auffassungen gezeigt. Bis in die Antike zurück reicht die Vorstellung, vergangenes Geschehen sei als Historia Magistra Vitae zu begreifen (Cicero) und solle den gegenwärtig Lebenden nicht nur zur zeitlichen Orientierung und Erinnerung dienen, sondern sie auch zu nützlichem Handeln anleiten. Da Geschichte immer die doppelte Bedeutung von ›Geschehen‹ und ›Bericht über das Geschehen‹ besitzt (Geschichte als ›Ereignis‹ und ›Historie‹) ist insbesondere die Frage nach den Deutungen und Erzählungen des Geschehenen zentral, woran sich dann das Problem der möglichen Nutzanwendung für das Leben anschließt.

Können wir aus ›der‹ Geschichte lernen? Das ist für die Politik eine eminent wichtige Frage, denn häufig wird im politischen Diskurs ›die Geschichte‹ als Argument bemüht. Doch da wird es schwierig. Können wir aus der Geschichte politische Lehren ziehen? Hier nur einige, überspitzt und auch satirisch gemeinte, Beispiele: So könnte man fragen:

Ist das Römische Reich an der eigenen ›Dekadenz‹, an bacchantischer Sinnenlust, Orgien und Knabenliebe, zugrunde gegangen? An innerer Zersetzung? Am Christentum, wie der berühmte englische Historiker Edward Gibbon (1737-1794) meinte? Oder ist es letztlich den immer wieder ins römische Gebiet einfallenden germanischen ›Barbaren‹ erlegen? Oder an einer unglücklichen Verkettung von allem? Sollten wir daraus gegenwärtig politisch die Konsequenzen ziehen, traditionelle Lebensweisen und Werte bei Strafe des Untergangs (biologische Grundtatsachen, Mann-Frau-Bipolarität, Ehe, Familie, keine ›laissez-faire‹-Sexualität) zu verteidigen, das Christentum an die Kandare zu nehmen sowie Zu- und Einwanderung scharf zu begrenzen?

Was lernen wir von Martin Luther und dem Anschlag der 95 Thesen an die Tür der Wittenberger Schlosskirche, mutmaßlich am 31. Oktober 1517? Worüber bekanntlich bis heute gestritten wird, wenn auch nicht mehr in den Formen erbitterter Auseinandersetzungen zwischen Katholiken (Erwin Iserloh) und Protestanten (Kurt Aland). Sollte uns das lehren, dass, wer unerschütterlich meint seine Meinung zu einem Thema öffentlich verkünden zu müssen, dies auch demonstrativ tun solle? Es muss ja keine ›action‹ an der Kirchentür sein, heute reichen die diversen sozialen Medien auch.

Wie ist der grandiose Erfolg des »Islamischen Imperialismus« (Efraim Karsh) von Mohammed bis zum Expansionismus der Osmanen im 16. und 17. Jahrhundert zu verstehen und zu erklären? Und wie sein Niedergang bis hin zum ›kranken Mann am Bosporus‹ im 19. und 20. Jahrhundert? Lag es primär an der Religion, die den Kämpfern ein ungeheures Überlegenheitsgefühl und einen todesverachtenden Kampfesmut verschaffte? Und war dieselbe dann auch aufgrund ihrer schleichenden dogmatischen Versteinerung für die Rückständigkeit und Schwäche der islamischen Reiche verantwortlich? Schlussfolgerung? Ist Religion eine so ungeheure Geistesmacht, die gewaltige Macht- und Herrschaftsinteressen befördern kann, aber auch schon den Keim zum Niedergang durch Orthodoxie, religiöse Tyrannei und mannigfache innere Zwistigkeiten in sich trägt? Müssen wir sie also ›zivilisieren‹ und scharf kontrollieren?

Hätte Kaiser Karl V. an Weihnachten 1551 in Innsbruck nur auf seine Berater gehört! Sie hatten ihn lange schon vor den Gefahren eines protestantischen ›Fürstenaufstandes‹ und dem mit den ›Teutschen‹ verbündeten französischen König Heinrich II. gewarnt. Hätte er frühzeitig Gegenmaßnahmen ergriffen, statt mit Bruder Ferdinand, Tochter Maria und seinen Enkeln ausgelassen in Innsbruck Weihnachten zu feiern, dann hätte er nicht sein Weltreich verloren. Schlussfolgerung? Sollten Politiker, auch an Weihnachten, lieber Akten lesen, ihre Berater empfangen und auf Warnungen vor nahendem Ungemach achten, anstatt sich ausgelassener Festtagsstimmung hinzugeben?

›Lernen‹ wir aus der Geschichte auch, dass es nicht ratsam ist, Russland bis in den Winter hinein mit Krieg zu überziehen? (Napoleon 1812, Hitler 1941/1942).

Immer wieder neu wird die Diskussion um das ›Lernen aus Geschichte‹ nach den politischen Konjunkturen und Bedürfnissen der jeweiligen Gegenwart aufgelegt. Schon im 19. Jahrhundert, als sich die Geschichtswissenschaft erst als eigenständiges Fach selbstbewusst etablierte, wurde über den Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben gestritten, so der Titel einer bissigen Kritik des Philosophen Friedrich Nietzsche 1874. Dass Menschen die Historie ›brauchen‹ hat Nietzsche unterstrichen, er mahnte aber an, dass sie »zum Leben und zur That, nicht zur bequemen Abkehr vom Leben und von der That« ermuntern solle. Eine ›monumentalistische‹ und ›antiquarische‹ Beschäftigung mit Geschichte entspreche zwar auch menschlichen Bedürfnissen der Verehrung historischer ›Größe‹ und der ›Bewahrung‹ von Traditionen. Das aber berge auch die Gefahr der Verselbständigung und Versteinerung in sich und deshalb sei ›für das Leben‹ ein kritischer Zugang zur Geschichte vorzuziehen.

Der große Philosoph G.F.W. Hegel, glaubte in der »objectiven Geschichte« einerseits optimistisch den »Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit« zu erkennen (G.W.F. Hegel, Vorlesungen zur Philosophie der Geschichte, 1837, S. 22), andererseits sah er in der Geschichte einen Tummelplatz von »Leidenschaften«, einen oft erschreckenden raschen Wechsel von Aufblühen und Vergehen von Staaten und Völkern, ja Geschichte erschien ihm gar als eine »Schlachtbank« (Ebd., S. 24/25). Seine kritische Schlussfolgerung: »Was die Erfahrung aber und die Geschichte lehren, ist dies, daß Völker und Regierungen niemals etwas aus der Geschichte gelernt und nach Lehren, die aus derselben zu ziehen gewesen wären, gehandelt haben« (Ebd., S. 9) Womit er höchstselbst seinem eigenen aufklärerischen Fortschrittsoptimismus allerdings einen gehörigen Dämpfer verpasste!

Emphatisch behauptete dagegen der ›Eiserne Kanzler‹, Fürst Otto von Bismarck, der Meister der Diplomatie: »Man kann Geschichte überhaupt nicht machen, aber man kann aus ihr lernen, wie man das politische Leben eines großen Volkes seiner Entwicklung und Bestimmung entsprechend zu leiten hat« (Bismarck, Rede am 30. Juli 1892 vor einer studentischen Abordnung in Jena. GW, Bd. 13, S. 467f).

Lernen aus politischen Katastrophen? Weltkriege und Nationalsozialismus

Nach dem Ersten Weltkrieg und der »demokratisch legitimierten Reform-Revolution« (Langewiesche, Der gewaltsame Lehrer, S. 245), die den Deutschen Freiheiten erkämpft hatte, wie sie für uns heute selbstverständlich sind (Grundrechte, demokratische Verfassung), waren es liberaldemokratisch und republikanisch gesinnte Bürger, darunter kleine pazifistische Gruppen, die meinten gelernt zu haben, dass es nie wieder nationalistische und imperialistische Politik geben dürfe, der Krieg geächtet werden müsse und alle politischen Anstrengungen auf Völkerverständigung und Frieden gerichtet werden müssten. Vergeblich, wie wir wissen. In der von der Niederlage in breitem Maße traumatisierten deutschen Öffentlichkeit waren ganz andere Geschichtsbilder präsent: die Legende vom ›Dolchstoß‹, der Rache und des Vernichtungswillens der Sieger (Versailles) und der heiße Wunsch nach Revanche. Zur Konstruktion und Befestigung solcher Geschichtsbilder haben seinerzeit nicht wenige Fachhistoriker beigetragen (z.B. Walter Frank, Hermann Oncken, Heinrich von Srbik, Egmont Zechlin, Arnold Oskar Meyer, Dietrich Schäfer u.a.). Andersdenkende kamen in der Geschichtswissenschaft kaum zum Zuge. Der Historiker Gerd Krumeich schreibt dazu:

»Das Verhängnisvollste war, dass die republikanische Verfassung und Gesinnung nicht imstande waren, dem Kriegstrauma in allen seinen Erscheinungsformen einen positiven Zukunftsentwurf entgegenzusetzen, der die so schmerzhafte und streitige Erinnerung zumindest hätte beruhigen können.« (Die unbewältigte Niederlage, 2018, S. 256.)

Das war nach 1945 anders. Die Monstrosität der Verbrechen des Nationalsozialismus übertraf alles bisher in der deutschen Geschichte Dagewesene. Eine Reihe von Historikern hatte mit dem Nationalsozialismus sympathisiert, obgleich es den Nazis nie gelang das Fach schlicht ›gleichzuschalten‹. Einige von ihnen waren Mitglieder der NSDAP und legitimierten die Rassen- und Volkstumspolitik der Nationalsozialisten mehr oder weniger deutlich: In erster Linie Walther Frank, der das nationalsozialistische ›Reichsinstitut für die Geschichte des neuen Deutschland‹ (1935 gegründet) aufgebaut und geleitet hatte, ferner Günther Franz (›Bauernkriegs-Franzl‹), Theodor Mayer, Karl Alexander von Müller, Schriftleiter der ›Historischen Zeitschrift‹, der Österreicher Heinrich von Srbik, Rudolf Stadelmann, Erwin Hölzle, Martin Spahn und Helmut Berve. Andere, wie z.B. die nach 1945 so renommierten Historiker Werner Conze und Theodor Schieder, waren von der ›Volkstumspolitik‹ des Nationalsozialismus (›Lebensraum im Osten‹) fasziniert. Karl-Dietrich Erdmann, Verfasser des vierten Bandes des legendären ›Gebhardt‹, Handbuch der deutschen Geschichte (1976), zeigte sich ebenso anfällig wie die Mediävisten Hermann Aubin und Hermann Heimpel, der aber als einer der wenigen Historiker seine nationalsozialistische Verstrickung öffentlich tief bereute. Die Haltung der Historiker im Nationalsozialismus wurde erst Jahrzehnte nach 1945 systematisch aufgearbeitet, nachdem viele von ihnen bereits wieder auf renommierten Lehrstühlen saßen. (Schulze/Aly, Deutsche Historiker im NS, 2000; Schulze, Deutsche Geschichtswissenschaft nach 1945, S. 121ff.). Unter dem unmittelbaren Eindruck des ›Zusammenbruchs‹ war die deutsche Fachhistorie, jedenfalls in ihrer Mehrheit, zunächst erschüttert, verunsichert und sprachlos. Man übte sich im »kommunikativen Beschweigen« (Hermann Lübbe) der fatalen zwölf Jahre und tauchte erst einmal ab. Das galt natürlich in erster Linie für jene, die befürchten mussten, dass ihre mehr oder weniger deutliche Parteinahme für den Nationalsozialismus zu beruflichen und persönlichen Konsequenzen führen würde. Es gab jedoch einige erwähnenswerte Ausnahmen:

Der renommierte Historiker Friedrich Meinecke, in der Weimarer Republik nach eigenem Bekunden ›Vernunftrepublikaner‹, verfasste 1946 ein kontrovers diskutiertes Buch: Die deutsche Katastrophe. Meinecke mühte sich in den methodologischen Bahnen des von ihm wesentlich formierten Historismus um ein ›Verstehen‹ des Aufstiegs des Nationalsozialismus. Diesen verstand er als extremen Ausdruck der »national-bürgerlichen Bewegung«, die stets in scharfer Abwehr zur »sozialistisch-proletarischen Bewegung« gestanden habe. Beide ›Bewegungen‹ seien von der »Tendenz zur Übersteigerung, zu gefährlicher Einseitigkeit« geprägt gewesen (S. 33). Das deutsche Bürgertum kam bei ihm nicht gut weg:

»Die Mitverantwortung und Schuld des deutschen Bürgertums an allem, was die Katastrophen und insbesondere das Emporkommen des Nationalsozialismus vorbereitet hat, ist nicht gering« (S. 36).

Vor dem Hintergrund des Ersten und Zweiten Weltkriegs stellte er auch die bis heute heftig umstrittene Frage, ob im Kaiserreich von 1871 bis 1918 nicht bereits »Keime des späteren Unheils in ihm von vornherein wesenhaft« gesteckt hätten (S. 26). Gleichwohl verwarf er die These, es habe eine »machtmacchiavellistische« Kontinuität von Friedrich dem Großen über Bismarck bis zu Hitler gegeben (S. 81), wie es von einigen Historikern in den USA, England und Westdeutschland behauptet wurde und auch in der kommunistischen Propaganda seinerzeit zum Ausdruck kam (z.B. prominent bei Alexander Abusch, Der Irrweg einer Nation, 1945). Meinecke und weitere seiner Kollegen wichen der Frage nach den Kontinuitäten zwar nicht aus, neigten aber doch dazu, den Nationalsozialismus geistesgeschichtlich-moralisierend als einen ›Bruch‹ mit der bisherigen deutschen Geschichte zu sehen. Meinecke konstatierte einen fatalen Weg vom guten »deutschen Menschentum« zu einem »neudeutsch entarteten Hitlermenschentum«. (S. 55). Die Naziherrschaft wurde teilweise mit pathologischen Kategorien (›Infektion‹, ›Giftgewächs‹, ›Parasiten‹, ›Verbrechernaturen‹) beschrieben und somit letztlich als ›dämonischer‹ Einbruch in die deutsche Geschichte verstanden. Diese Dämonisierung des Nationalsozialismus bewirkte in der politischen Öffentlichkeit zunächst einen Entlastungseffekt nach der verbreiteten Melodie ›Ich war’s nicht, der Adolf Hitler ist es gewesen!‹ Wenn es um die sogenannte ›Vergangenheitsbewältigung‹ ging, hielten viele Historiker auf Distanz, einerseits, weil dieser in der Tat unklare politische Terminus zu implizieren schien, als könnten Historiker das Geschehene wahrhaftig erklären und dazu beitragen, es einer politisch-moralischen Lösung zuzuführen. Andererseits scheuten sie sich, die unmittelbare Vergangenheit anzusprechen, hätte dies gewiss auch eigenes Versagen ans Licht gebracht.

Schärfer noch als Meinecke hatte sich Gerhard Ritter gegen die These der Kontinuitäten in der deutschen Geschichte zum Nationalsozialismus ausgesprochen:

»Das deutsche Schicksal seit 1740 ist weder ein eindeutiger Aufstieg zur Macht, noch ein unvermeidliches Hinabgleiten in den Abgrund gewesen« (Ritter, Geschichte als Bildungsmacht, 1946, S. 51).

Ritters Glaubwürdigkeit war unbestritten, denn er hatte sich als religiöser Mensch sehr deutlich gegen den Nationalsozialismus gestellt, war aktives Mitglied der Badischen Bekennenden Kirche gewesen, hatte an der legendären Barmer Bekenntnissynode 1934 teilgenommen und Kontakt zu Widerstandskreisen gepflegt (v.a. zu Carl Friedrich Goerdeler). Letzteres trug ihm eine kurze Inhaftierung in Berliner Gefängnissen und dem KZ Fürstenberg in Mecklenburg-Vorpommern ein. Ritter gelangte nach 1945 zu großer Anerkennung, nicht zuletzt durch sein vierbändiges Monumentalwerk Staatskunst und Kriegshandwerk (1954-1968), in dem er mit einem ungeheuren Quellenmaterial und höchst differenziert das Verhältnis von Staat, Politik und Militär seit 1740 bis 1918 darstellte.

Für ihn gab es weder ein kriegslüsternes Deutschland von 1914, das den Ersten Weltkrieg willentlich herbeigeführt habe, noch eine aus den militaristischen Traditionen Deutschlands ableitbare konsequente Entwicklung zum Nationalsozialismus hin. Auffällig sowohl bei Meinecke als auch bei Ritter ist gleichwohl die Vernachlässigung der Judenverfolgung und Vernichtungspolitik. Die deutsche Historikerzunft hat dieses schreckliche Kapitel deutscher Geschichte erst zögerlich in den sechziger Jahren begonnen – vor dem Hintergrund des Auschwitz-Prozesses und Folgeprozessen. Es hätte schon früher Möglichkeiten zur intensiveren Beschäftigung mit der Thematik gegeben, wäre nicht z.B. der deutsch-polnische jüdische Historiker Joseph Wulf von der Fachhistorie weitgehend ignoriert worden. Wulf hatte gemeinsam mit Léon Poliakov 1955 das Buch Das Dritte Reich und die Juden vorgelegt und bis zu seinem Tode 1974 (Selbstmord) achtzehn Bücher zum Dritten Reich verfasst. Seine Bemühungen um die Einrichtung einer Gedenkstätte am Ort der Entscheidung über die ›Endlösung‹ (Wannsee Villa) blieben seit Mitte der 60er Jahre ohne Erfolg. Die Gedenkstätte wurde erst 1992 geschaffen, was darauf verweist, dass, beginnend am Ende der siebziger Jahre, die wissenschaftliche Aufarbeitung und geschichtspolitische Auseinandersetzung mit der Judenverfolgung und dem Holocaust in den neunziger Jahren eine neue Qualität erreichte. Der Pionier der Holocaust-Forschung Wulf hat das nicht mehr erlebt.

Doch immerhin hatte mit der Gründung des Münchener ›Instituts für Zeitgeschichte‹ 1949 eine wissenschaftlich solide Aufarbeitung der Entstehung und Entwicklung des Nationalsozialismus eingesetzt. Die Judenverfolgung wurde dabei nicht ausgeklammert und damit leistete das Institut einen wichtigen Beitrag zur Neuorientierung der deutschen Geschichtswissenschaft. Das IfZ wurde insbesondere geprägt durch die Historiker Martin Broszat, Helmut Krausnick, Hans-Adolf Jacobsen und Hans Rothfels, die ersten beiden noch lebendige Zeitzeugen des Nationalsozialismus, der letzte aus dem amerikanischen Exil zurückkehrend. Spätere Historikergenerationen verdanken ihren Pionierarbeiten wichtige Anregungen zu immer detaillierteren Forschungen und fortschreitenden ›Revisionen‹. Doch was konnte und sollte daraus politisch ›gelernt‹ werden und welche Wege zur Vermittlung historischen Wissens sollten beschritten werden?

Das war eine Anfrage an die Bildungspolitik der jungen Bundesrepublik Deutschland und betraf auch den Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit im politischen Raum. Wort und Begriff ›Geschichtspolitik‹ waren noch nicht erfunden, aber darum ging es, insbesondere um den Beitrag von Geschichtswissenschaft als politische Lernhilfe. Es hatte sich gezeigt, dass die ehrenwerten Bemühungen der Alliierten um ›Entnazifizierung‹ und ›Re-Education‹ für die Masse der Bevölkerung kaum Wirkung gezeitigt hatten. Scharf hatten sich die Grenzen eines historisch-politischen Belehrungsprogramm von oben markiert, welches die tatsächlichen Erinnerungen und Gefühle der betroffenen Menschen weitgehend ignorierte. Die mit der Sorge des Überlebens geplagten Menschen hatten in ihrer großen Mehrheit eine nicht ganz unverständliche Distanz zum belehrenden Erinnerungszwang von oben entwickelt. Treffend merkte seinerzeit der Philosoph Karl Jaspers an:

»Man mag nicht hören von Schuld, von Vergangenheit, man ist nicht betroffen von der Weltgeschichte. Man will einfach aufhören, zu leiden, will heraus aus dem Elend, will leben, aber nicht nachdenken« (Jaspers, Die Schuldfrage, 1946, S. 29).

Das können wir heute beklagen, aber das blieb in den fünfziger Jahren, bis in die sechziger Jahre, der legendären Aufbau- und ›Wirtschaftswunderzeit«, die dominierende Haltung der Deutschen. Die Erinnerungen an die furchtbare Hypothek des Nationalsozialismus wurden individuell bearbeitet, aber meistens verdrängt. Zwischen den Generationen herrschte weitgehend Sprachlosigkeit und eine kritische öffentliche ›Vergangenheitspolitik‹ gab es zu diesem Zeitpunkt faktisch nicht. Die Politik der Adenauer-Regierung war bestimmt von »Amnestie und Integration« und begünstigte »eine beispiellose Strategie der Verharmlosung, Leugnung und Irreführung (..) die am Ende selbst ruchlosesten NS-Verbrechern zur Freiheit verhalf«. (Frei, 1945 und wir, S. 45, S. 47). Das änderte sich deutlich in den sechziger Jahren. Die Erinnerung an den Nationalsozialismus rückte durch einige Ereignisse im In- und Ausland wieder näher: Da war der Ulmer Einsatzgruppenprozess (28. April-29. August 1958), der Eichmann-Prozess in Israel (11. April-15. Dezember 1961) und schließlich die Auschwitzprozesse 1963-1965, die besondere internationale Beachtung fanden. Bis zum Beginn der 70er Jahre gab es weitere zahlreiche Ermittlungsverfahren und Prozesse.

Die ›68er‹ als linke Erinnerungshelfer und Pädagogen?

Es ist eine Legende, dass die Aktivisten von SDS und APO eine kritische Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus erst angestoßen hätten. An dieser Legende haben sie selbst gestrickt, freundlich assistiert von linken Agitationsmedien, z.B. von dem von Klaus Rainer Röhl in den fünfziger Jahren gegründeten Magazin ›Konkret‹. Hier veröffentlichte Ulrike Meinhof (damals Ehefrau von Röhl) ihre wilden Theorien von der ›Faschisierung‹ der Bundesrepublik. Zweifellos haben einige aus diesem Kreis ernsthaft nach den Ursachen des Nationalsozialismus gefragt, doch ›den‹ 68ern zuzubilligen, dass erst sie »die kritische Thematisierung der deutschen Schuld in Gang« gebracht hätten, ist weit überzogen und nicht stichhaltig (Assmann, Der lange Schatten der Vergangenheit, 2006, S. 27).

Die politische APO Elite gab sich nicht mit den Niederungen historischer Forschung ab, obwohl es ja auch in ihrer Mitte angehende Historiker gab. Die ernsthafte empirische Forschung war nicht ihr Ding, sie fanden es attraktiver ›Faschismustheorien‹ aufzunehmen, die vermeintlich universalistische Erklärungen des Phänomens anboten, vor allem jene, die einen untrennbaren Zusammenhang von ›Faschismus‹ und ›Kapitalismus‹ behaupteten, wie es ihr großer Lehrer Max Horkheimer einst formulierte: »Wer aber vom Kapitalismus nicht reden will, sollte auch vom Faschismus schweigen« (Die Juden und Europa. In: Studies in Philosophy and Social Science, Band 8, 1939, S. 115). Es ist wichtig zu wissen, dass es bis dato schon diverse hellsichtige Erklärungsansätze zum Nationalsozialismus/Faschismus gab, z.B. aus sozialdemokratischer Sicht von Julius Braunthal, Julius Deutsch, Paul Kampffmeyer, Ernst Hamburger, Erik Nölting und Hermann Heller. Doch mit diesen beschäftigte sich die ›Neue Linke‹ nicht, sondern setzte auf die krude ökonomistisch reduzierte Theorie der Kommunistischen Internationale, die den Faschismus als »die offene terroristische Diktatur der am meisten reaktionären, chauvinistischen und imperialistischen Elemente des Finanzkapitals« bezeichnet hatte (XIII. Plenum des EKKI, 1933). ›Bürgerliche‹ Faschismustheorien, wie z.B. die vom Historiker Ernst Nolte (1923-2016), die ja seit 1963 vorlag (»Der Faschismus in seiner Epoche«), wurden entweder ignoriert oder in toto verworfen. Die Anlehnung an kommunistische Faschismustheorien hatte auch den Vorteil, dass damit zugleich eine radikal linke Kritik gegen den ›US-Imperialismus‹ begründet werden konnte. US-Soldaten im Vietnamkrieg wurden umstandslos zu ›SS-Killern‹ und bei Protestdemonstrationen durch die Berliner City wurde »USA-SA-SS« skandiert. (Aly, Unser Kampf, S. 147). Das war eine monströse, widerwärtige Gleichsetzung der US-Army mit den Schlägertruppen der SA und den Mordkommandos der SS (Einsatzgruppen), die zwischen Juni 1941 und 1943 (geschätzt) zwischen 600.000 und 1,5 Millionen Menschen auf viehische Weise ermordeten, die meisten davon Juden.

Der Hauptstoß von APO & Co. unter dem auch in anderen linken Kreisen akzeptierten Motto ›Nie wieder Faschismus, nie wieder Krieg!‹ zielte keineswegs auf nüchterne empirische Aufarbeitung des Nationalsozialismus, in Wissenschaft, Staatspolitik, Politischer Bildung und Zivilgesellschaft, sondern auf die ›Überwindung‹, bzw. ›Zerschlagung‹ des ›imperialistisch-faschistoiden Systems‹ der Bundesrepublik. Der Faschismusvorwurf wurde u.a. auch damit begründet, dass die Adenauer Regierung zahlreiche Funktionsträger und Mitläufer des Nationalsozialismus inzwischen in Politik, Justiz und Verwaltung integriert hatte. In der Sache war die Kritik der 68er nicht ganz unberechtigt, denn die Adenauersche ›Amnesie und Amnestie‹- Politik rehabilitierte Tausende ehemaliger Nazis und brachte sie in ihre alten Jobs zurück (Peter Reichel, Vergangenheitsbewältigung in Deutschland, S. 109). Die skandalösen Fälle von Kanzleramtschef Hans Globke, dem Mitverfasser und Kommentar der Nürnberger Rassegesetze 1935 und dem von 1953–1960 als Bundesminister für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte in der Adenauer-Regierung amtierenden Theodor Oberländer, waren nur die prominenten Spitzen des Eisberges. Ferner wurde die ›Tatenlosigkeit‹ von Justiz und Regierung im Blick auf die Verfolgung nationalsozialistischer Verbrechen angeprangert. Das war, namentlich in den fünfziger Jahren, gewiss kein Ruhmesblatt für die deutsche Politik und Justiz, allerdings war es weit überzogen, von bloßer Inaktivität zu reden, denn in den sechziger Jahren hatte sich die Verfolgung nationalsozialistischer Verbrechen deutlich erhöht. Allein im Jahre 1968, dem Höhepunkt der ›68er-Bewegung‹, wurden 548 Ermittlungsverfahren eingeleitet, die zu 77 Anklagen führten. Es gab 67 Verurteilungen, 29 Freisprüche und 4 Verfahren wurden eingestellt (Eichmüller, Strafverfolgung von NS-Verbrechen, VfZ 4/2008; S. 626). Weitgehend ignoriert wurde auch die durchaus effektive Arbeit der ›Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen‹, die am 1. Dezember 1958 in Ludwigsburg ihre Arbeit aufgenommen hatte (Bis heute hat die ›Ludwigsburger Stelle‹ mehr als 18.000 Verfahren bearbeitet).

Eine kleine persönliche Reminiszenz

Ich bin ein Kind der sechziger Jahre (Abitur 1969) und erinnere mich noch lebhaft an den damaligen Geschichtsunterricht im Gymnasium. Ich liebte dieses Fach, respektierte das bemühte Lehrpersonal und hatte gegen die Behandlung des Nationalsozialismus im Unterricht nichts einzuwenden, allein schon deshalb, weil dieser mir half, meine häufig sprachlose bzw. die NS-Zeit beschönigende Familie zu verblüffen. Gleichwohl ging mir dieser Unterricht, je öfter wir uns in die entsprechenden Schulbücher vertieften, entsetzlich auf den Geist, weil in fast jeder Geschichtsstunde irgendwie auf den Nationalsozialismus Bezug genommen wurde. Hier folgte unser Gymnasium beflissen der Empfehlung der Kultusministerkonferenz vom Februar 1960 zur Behandlung der jüngsten Vergangenheit im Geschichts- und gemeinschaftskundlichen Unterricht an den Schulen, die, unter dem Eindruck öffentlicher antisemitischer Vorfälle 1959/60 eine ausführlichere Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus verfügte. Hinzu kamen die Studentenproteste, die mir den Eindruck vermittelten, es ginge nur immer um Nationalsozialismus, Faschismus und US-Imperialismus, aber nie um den totalitären Kommunismus, der unsere Insel Westberlin umgab. Die DDR kam eigentlich immer gut weg, aber das ist ein anderes Kapitel…

Unser Geschichtslehrer hatte das Ende des Dritten Reiches noch erlebt, war also Zeitzeuge. Ein Höhepunkt des Unterrichts in der 13. Klasse war, dass er uns dringend aufforderte, wohl um ›Betroffenheit‹ zu erzeugen, den Film Nacht und Nebel anzusehen, der damals im beliebten Non-Stop-Kino ›Aki‹ (Aktualitätskino) am Bahnhof Zoo lief. Diese französische Produktion unter der Regie von Alain Resnais wurde 1956 in Deutschland erstmalig aufgeführt (Filmmusik von Hanns Eisler). So sahen wir diesen Film, das muss ungefähr 1965/1966 gewesen sein. Eine Vorbereitung auf den Filmbesuch gab es nicht. Der Film zeigte grauenhafte Bilder vom KZ Auschwitz und weiteres Archivmaterial aus anderen Vernichtungslagern. Ewig wird mir die Szene im Gedächtnis bleiben, wie ein Bagger Leichenberge in ein Massengrab schaufelt. Nicht nur mir, sondern auch anderen Klassenkameraden wurde schlecht, dennoch blieben wir bis zum Ende. Doch es war einfach zu viel: Unsere ›Betroffenheit‹ war so groß, dass wir uns, um Abstand von den schrecklichen Bildern zu gewinnen, in die nächste Bierkneipe verzogen. Unsere Hilf- und Sprachlosigkeit angesichts der Monstrosität dieser Verbrechen überspielten wir damit, dass wir über das neueste Beatles-Album (›Yellow Submarine‹) und ›Satisfaction‹ von den Rolling Stones diskutierten (Zur Analyse des Films: Fischer/Lorenz, Lexikon der ›Vergangenheitsbewältigung‹ in Deutschland, S. 123ff.). Dieses Ereignis trug zur Verdrossenheit in Sachen NS-›Vergangenheitsbewältigung‹ durch den Unterricht erheblich bei.

Wir hatten dann in unserer Klasse auch noch eine heftige, lautstarke Debatte über die Schuldfrage, wobei uns der Lehrer mit Karls Jaspers gleichnamigem Buch von 1946 konfrontierte. Jaspers wurde seinerzeit so wahrgenommen, dass er sich gegen den Vorwurf einer pauschalen ›Kollektivschuld‹ ausgesprochen hatte. Das stimmte nur bedingt. Jaspers hatte Schuld in vier Dimensionen kategorisiert hatte: kriminelle, politische, moralische und metaphysische Schuld (Jaspers, Die Schuldfrage, 1946, S. 31ff.). Obwohl er deutlich machte, dass ein »Volk als Ganzes« weder im kriminellen, politischen und moralischen Sinne schuldig oder unschuldig sein könne (S. 39), verlangte er von den Deutschen eine »Kollektivhaftung« und »Kollektivverantwortung«. Das empörte uns, wir, die wir nach 1945 geboren wurden. Davon wollten wir nichts wissen. Ein Klassenkamerad (der einzige aus der ›Arbeiterklasse‹) brachte die Mehrheitsmeinung in der Klasse drastisch zum Ausdruck: Ja, sach, ma, ick bin doch nich‘ für die Scheiße verantwortlich, die meine Ollen anjerichtet ham…

Hinzu kam die permanente kommunistische Propaganda von jenseits der Mauer, die uns glauben machen wollte, die ›bürgerliche Demokratie‹ in der Bundesrepublik sei unaufhaltsam auf dem Wege in den Faschismus und die führenden Politiker im Westen seien alle verkappte Nazis…

Erinnerung, Geschichtswissenschaft und Geschichtspolitik

Es ist natürlich eine Binsenweisheit: Geschichte ist die Tat des Menschen. Er bringt unter den vorgefundenen natürlichen Umständen und den von seinen Vorfahren geschaffenen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen seine eigenen Lebenswelten hervor. Treffend formulierte der Historiker Johann Gustav Droysen (1808-1884) zum ›Material‹ der geschichtswissenschaftlichen Arbeit:

»Der Stoff der geschichtlichen Arbeit ist das natürlich Gegebene und das geschichtlich Gewordene; beides zugleich Bedingung und Mittel, Aufgabe und Schranke für sie«. (Droysen, Historik, 1860ff., S. 347). Das ›geschichtlich Gewordene‹ wird im Gedächtnis aufbewahrt und durch Erinnerung zugänglich gemacht. Insofern ist Erinnerung ein Konstruktionsvorgang vergangener Wirklichkeiten. Das ist sowohl ein individueller Vorgang, etwa wenn jemand persönliche Tagebuchaufzeichnungen vornimmt, Fotoalben oder Dinge sammelt, die für ihn individuell bedeutsam sind und die ihn an Menschen, Ereignisse und Abschnitte seiner vergangenen Lebenswelt erinnern. Wir haben es aber auch mit einem kollektiven Vorgang zu tun, wenn die Gesellschaft und die Politik mit ins Spiel kommen. Darauf hat der französische Soziologe Maurice Halbwachs (1877-1945) in seinem berühmten Werk Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen (1925) verwiesen. Halbwachs postulierte, dass »das gesellschaftliche Denken wesentlich ein Gedächtnis« sei und »daß dessen ganzer Inhalt nur aus kollektiven Erinnerungen« bestünde. Es blieben aber nur jene Erinnerungen lebendig, welche »die Gesellschaft in jeder Epoche mit ihren gegenwärtigen Bezugsrahmen rekonstruieren« könne (Halbwachs, Gedächtnis, S. 390).

Es sind die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und die politischen Entscheidungen in einem Gemeinwesen, die kollektive Erinnerungen prägen und organisieren. ›Geschichtspolitik‹ wäre dann das stets kontroverse und konfliktreiche Ringen in einem Gemeinwesen um politische Deutungsmacht mit Hilfe der Geschichte. Die Verwendung des Begriffs ›Geschichtspolitik‹ ist verhältnismäßig jüngeren Datums. Erstmalig tauchte er als polemischer Kampfbegriff im Zusammenhang des legendären ›Historikerstreits‹ 1986 auf, fand dann aber rasch seit Anfang der neunziger Jahre Eingang in den geschichtswissenschaftlichen und öffentlichen Diskurs (Arendsen, Geschichte als politisches Argument. In: Hinz/Körber, Geschichtskultur, 2020, S. 425). Doch schon lange bevor es ihn gab wurde Geschichte im Kampf um diskursive Deutungsmacht im politischen Raum eingesetzt. Geschichte war Argument, ja Waffe in politischen Meinungskämpfen und in realen Auseinandersetzungen mit schwerwiegenden Folgen Wer sich auf ›die Geschichte‹ berief, glaubte eine besonders wirkungsvolle »Mobilisierungsressource« (Wolfrum, Geschichte als Waffe, 20022, S.5) und Legitimationsinstanz für seine politischen Zwecke zu bemühen. Insofern hat der eingangs erwähnte Topos »Historia Magistra Vitae zu keiner Zeit seine Geltung verloren« (Karl-Georg Faber, Theorie der Geschichtswissenschaft, 1975), wobei festzustellen ist, dass die ›Historia‹ häufig zur ›Ancilla rei politicae‹ (Magd der Politik) herabgestuft wurde.

Dass Historiker ihren politischen Standort, bei allem Bemühen um saubere geschichtswissenschaftliche Arbeit durch ›Quellensammlung‹ (z.B. von Schriften und Artefakten etc.), ›Quellenkritik‹, der plausiblen Präsentation und der Selbstreflexivität ihres Standortes, nie verleugnen können, ist so banal wie richtig. Dazu gibt es zahlreiche Varianten, vom endlos wissenschaftstheoretisch diskutierten Konzept des ›Erkenntnisinteresses‹ bis hin zu platter Parteilichkeit. Aber das ist nicht so wahnsinnig neu und weder von der ›Kritischen Theorie‹, unserem ›Staatsphilosophen‹ Jürgen Habermas oder den ›postmodernen‹ Diskursanalytikern (allen voran Foucault) erfunden worden. Schon zu Beginn der entstehenden Geschichtswissenschaft wurde die ›Standortbindung‹ des Historikers und in diesem Zusammenhang das Verhältnis von Objektivität und Parteilichkeit, durchaus substantiell erörtert. Es lohnt sich an den lutherischen Theologen Johann Martin Chladenius (1710-1756) zu erinnern. Chladenius hielt die perspektivische Betrachtungsweise des Historikers für die Grundbedingung seiner Erzählung und drückte das trefflich mit dem Begriff des ›Sehepunktes‹ aus. Eine »unparteiische« Geschichtserzählung könne es nicht geben, gleichwohl sei diese von einer »Verdrehung« der Geschichte deutlich zu unterscheiden (Chladenius, Allgemeine Geschichtswissenschaft, 1752. In: Hardtwig, Über das Studium der Geschichte, 1990, S. 15f.).

Geschichtswissenschaft war und ist stets um die Ordnung der geschichtlichen Stoffe mit erprobten Methoden des Gefundenen auf verschiedene Weise bemüht. Die Darstellung des Vergangenen reicht von der antiken Faktensammlung (z.B. Herrscherlisten, hagiographische Biographien) der mittelalterlichen Annalistik bis zu modernen Formen theoriegeleiteter Analysen: ›Sozialhistorie‹, ›Strukturgeschichte‹ und weitgefächerte Ansätze von ›Alltagshistorie‹ sowie den zahlreichen sogenannten ›postmodernen‹ Richtungen (z.B. Frauen und Genderhistorie, Diskursgeschichte, Bild- und Mediengeschichte, ›Mentalitätsgeschichte‹ etc.). Analysen und Erklärungen, teilweise mit zukunftsprognostischem Anspruch, Interpretationen und ›Erzählungen‹ (›Narrative‹) sind bis heute das darstellerische Korsett der modernen Formen. Geschichtswissenschaft hat eine selbstreflexive und auch ideologiekritische Komponente, indem die Verwendungszusammenhänge von Geschichte thematisiert und aufbereitet werden. Sie ist also ein sehr nützliches Instrument, um politischer Instrumentalisierung von Geschichte auf die Spur zu kommen und kann z.B. als Korrektiv für historisch nicht gerechtfertigte politische Legitimationsansprüche dienen.

Der Historiker hat es noch verhältnismäßig leicht, wenn es um explizite oder kaum versteckte politische Parteilichkeit von Fachkollegen und den ihnen folgenden Politikern geht. Dafür gibt es zahllose Beispiele von der Antike bis zur Gegenwart: von den mit selbstgerechter Panegyrik gespickten Reden griechisch-römischer Rhetoren bis zu den politischen Reden selbsternannter Historiker im Gewande von Bundestagsabgeordneten, was insbesondere an Gedenktagen anschaulich beobachtet werden kann (Sack, Geschichte im politischen Raum, S. 131ff.) Geradezu erschütternde Beispiele für die Instrumentalisierung von Geschichte als blanke menschenfeindliche Propaganda bietet die Zeit des Nationalsozialismus, etwa in der berüchtigten ›Volkstums- und Ostforschung‹, die z.B. von Historikern wie Brackmann, Schieder, Conze und Aubin vertreten wurde (Schulze/Aly, Deutsche Historiker im NS, S. 163ff.).

Auch die marxistisch-leninistische Geschichtswissenschaft der DDR war eine Fundgrube für demonstrative politische Parteilichkeit. Wir haben hier reichliches Anschauungsmaterial, denn die kommunistischen Führungskader und ihre Satrapen im Wissenschaftsbereich konzeptualisierten eine ganz spezifische Geschichtsauffassung (›Klassenstandpunkt‹) und setzten diese mittels autoritativer politischer Direktiven durch. Eckpfeiler dieser DDR-Historie waren bis zu ihrem Untergang der »sozialistische Patriotismus« und der »verordnete Antifaschismus‹ (Wolfrum, Geschichte als Waffe, S. 96ff. und S. 116ff.).

Geschichtspolitik und Geschichtskultur

Geschichte begegnet uns in unseren aktuellen Lebenswelten auf Schritt und Tritt. »Alle Vergangenheiten, die ganze ›Geschichte‹«, so sagt Droysen, »ist ideell in der Gegenwart und dem, was sie hat, enthalten« (Droysen, Historik, S. 395). Mit ›ideell‹ meinte Droysen nicht nur geistige Gehalte oder ›sittliche Mächte‹ wie er sagte, sondern alle Hervorbringungen der Vergangenheit, die in unsere Gegenwart hineinragen. Diese nun zum ›Sprechen‹ zu bringen, das leistet nicht nur die jeweilige Geschichtswissenschaft mit ihren vielfältigen Methoden und Theorien, sondern an diesen ›Konstruktionsakten‹ sind auch zahlreiche ›vor- und außerwissenschaftliche‹ Instanzen beteiligt. So bilden sich in unserer Gegenwart weit verzweigte Ensembles und Netzwerke von Institutionen, Organisationen, wissenschaftlichen, politischen und ›ästhetischen‹ Produkten aus, die sich auf Geschichte beziehen und sie für unterschiedliche Zwecke präsentieren. Seit den späten achtziger Jahren wird dieses Phänomen ›Geschichtskultur‹ genannt. Der Historiker Wolfgang Hardtwig definierte Geschichtskultur als

»eine Sammelbezeichnung für höchst unterschiedliche, sich ergänzende oder überlagernde, jedenfalls direkt oder indirekt aufeinander bezogene Formen der Präsentation von Vergangenheit in einer Gegenwart. Sie ist nichts Statisches, sondern permanent im Wandel und entsteht als Ergebnis einer Vielzahl von Bedingungsfaktoren« (Wolfgang Hardtwig, Geschichtskultur und Wissenschaft, S. 8). Geschichtskultur in Deutschland spiegelt in mannigfachen Ausdrucksformen und Präsentationen unsere Geschichte und zeigt Kontroversen, Zäsuren und Traditionsbrüche in der deutschen Geschichte auf. Von Geschichte künden wissenschaftliche Einrichtungen, die dickleibige Geschichtswerke und zahllose Fachstudien produzieren. Wir finden historische Romane in allen Bibliotheken und Buchhandlungen, ferner Hochglanz-Ausstellungskataloge, Denkmäler, Bildnisse, Gedenktage, historisierende Musik, Namen von Gebäuden, Plätzen und Straßen, die an historische Ereignisse und Personen erinnern. In den letzten Jahrzehnten hat vor allem die Bedeutung der audiovisuellen Medien als Vermittlungsinstanzen von Geschichte und Formung von Geschichtsbildern stark zugenommen. In TV und Internet zeigte sich eine kaum noch überschaubare Bandbreite von Formaten: Dokus, Doku-Dramen, Spielfilme und digitale Spiele. Gerade das Spielformat erfreut sich seit Jahren wachsender Beliebtheit und hatte 2016 schon einen 20 Prozent Anteil an allen digitalen Spielformaten erreicht (Friedrich/Heinze/Milch, Digitale Spiele. In: Hinz/Körber, Geschichtskultur, S. 261ff.).

Seit den siebziger Jahren war eine deutliche Steigerung von Geschichtsinteresse und Geschichtsbewusstsein zu verzeichnen. ›Reizthemen‹ deutscher Geschichte wurden nicht nur zwischen Historikern kontrovers verhandelt, sondern lösten in der Öffentlichkeit heftige Diskussionen und auch erbitterte politischen Meinungsstreitigkeiten aus. Regierungsinstitutionen waren daran genauso beteiligt wie die Medien, Geschichtsvereine und zahlreiche zivilgesellschaftliche Initiativen und Projekte. Über viele Jahrzehnte fokussierten sich die Kontroversen auf den Nationalsozialismus, wobei seine vermeintliche Vorgeschichte, immer wieder neu beleuchtet wurde. Jüngstes Beispiel war der 18. Januar 2021, der 150. Jahrestag zur Gründung des Deutschen Kaiserreiches 1871, der ein großes wissenschaftliches Interesse ausgelöst hatte. Die Aufmerksamkeit der Medien war dabei in erster Linie auf die offenkundige Verlegenheit der Politik gerichtet, dieses Datum nicht einfach ignorieren zu können und ihm geschichtspolitisch eine Bedeutung zuzuweisen (siehe meinen Beitrag Ungelegene Gedenktage). Erneut wurde sichtbar, dass ›Nation‹, ›nationale Identität‹ und ›Nationalismus‹ besonders in Deutschland schwierige und höchst kontroverse Themen bleiben. Immer wieder ging es um Bismarck und die Reichsgründung 1871, ›von oben‹.

Die nicht zuletzt auch geschichtspolitisch motivierten Deutungen des Kaiserreiches liegen bis heute weit auseinander (Müller/Torp, Das Deutsche Kaiserreich in der Kontroverse, 2009). War das deutsche Kaiserreich ein vermeintlich politisch stagnierender autoritärer Obrigkeitsstaat, ein »pseudokonstutioneller Semiabsolutismus« (Wehler, Das Deutsche Kaiserreich, 19886, S.60ff.), der die Bürger mit seinem in alle Facetten der Gesellschaft eindringenden »Sozialmilitarismus« disziplinierte, mit »Sozialimperialismus« manipulierte (Wehler, Bismarck und der Imperialismus, 1969, S. 454ff.), Sozialdemokraten nachhaltig als politische Feinde verfolgte und Minderheiten, wie Katholiken, Polen und Dänen mit Ausgrenzung und Repression kujonierte? (Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 3, 1995, S. 880ff.) War der Staat von 1871 nur eine »Kriegsgeburt« aus Eisen und Blut (Eckart Conze, Schatten des Kaiserreiches, 2020, S. 162ff.) oder ein reformerischer Staat im »Aufbruch in die Moderne« (Hedwig Richter, 2021), ein »moderner, für die damalige Zeit erstaunlich freiheitlich verfasster Nationalstaat mit großer wissenschaftlicher und wirtschaftlicher Leistungskraft« (Hasselhorn, Königstod, 2018, S. 167)? Weder in diesen Grundsatzfragen noch dem Problem der ›Kontinuität‹ deutscher Geschichte vom Kaiserreich zum Nationalsozialismus sind sich die Historiker einig.

Bei den historischen Kontroversen ging es, neben grundsätzlichen Erörterungen zur Geschehensdeutung, häufig sehr konkret um die Interpretation von Quellen. Ein klassischer Fall der Zeitgeschichte war die sogenannte ›Fischer-Kontroverse‹, 1964 ff. in der es um die Frage der Kriegsschuld Deutschlands am Ersten Weltkrieg ging. Während der Historiker Fritz Fischer (1908-1999) dem Deutschen Reich weitreichende imperialistische Kriegsziele unterstellte (»Griff nach der Weltmacht«, 1961) und dafür das berühmt-berüchtigte ›Septemberprogramm‹ des Reichskanzlers Theobald von Bethmann-Hollweg von 1914 als Beleg anführte, ging die Mehrheit der deutschen Historiker seinerzeit davon aus, dass eine ›Alleinschuld‹ Deutschlands nicht bewiesen werden könne (was Fischer auch so nicht behauptet hatte). Die am Krieg beteiligten Mächte seien in den Krieg ›hineingeschliddert‹, wie es damals Lloyd George ausgedrückt hatte. Die Kontroverse zwischen Fachkollegen, wobei der Historiker Gerhard Ritter die Fronde der Fischer-Kritiker anführte, entwickelte sich zu einer öffentlichen, skandalisierenden und polemischen Auseinandersetzung. Fischers Andeutungen von einer Kontinuität der deutschen Geschichte vom Kaiserreich bis zum Nationalsozialismus lösten bei den etablierten Historikern (z.B. Theodor Schieder, Karl-Dietrich Erdmann, Egmont Zechlin) helle Empörung aus. Der Streit eskalierte schließlich zu einer öffentlichen Debatte, wobei die Politik auch mitmischte. Der damalige Bundestagspräsident Eugen Gerstenmaier (CDU) griff ohne Namensnennung Fischer an und warf ihm vor, die »im Versailler Vertrag zur Auflage gemachte Behauptung von der Alleinschuld Deutschlands am Ersten Weltkrieg« neu angefacht zu haben. Diese Schuldzuweisung habe doch »schon Unheil genug angerichtet« (Gerstenmaier, Deutsche Kriegsschuld? In: Derselbe, Neuer Nationalismus?, 1965, S. 84).

Franz Josef Strauß, seinerzeit stellvertretender Vorsitzender der CDU/CSU Bundestagsfraktion, argwöhnte nicht nur »kommunistische Propaganda«, sondern hob hervor, dass mit der entfachten Geschichtsdebatte »das Bild eines militaristischen, aggressiven, kriegslüsternen und revanchesüchtigen Deutschlands von heute glaubhaft gemacht« werden solle. 1964 zog das Auswärtige Amt mit fadenscheinigen Gründen die Geldmittel für eine Amerikareise Fischers zurück (Geiss, Die Fischer-Kontroverse, 1972, S. 109, S. 145). Die gereizten politischen Reaktionen zeigten, dass eine historische Fachdebatte die ›große Meistererzählung‹ von der fortgesetzten politischen Bedeutung des Nationalstaates für die deutsche Geschichte in Frage stellen konnte. Der von Fischer und seinen Anhängern (allen voran Immanuel Geiss!) ausgelöste nationale Tabubruch fiel in eine Zeit, da das geteilte Deutschland mit dem Bau der Mauer und der Verschärfung des Kalten Krieges zurechtkommen musste (Jarausch, Der nationale Tabubruch. In: Zeitgeschichte als Streitgeschichte, S. 33ff.). Populär war Fischers Kritik nicht, aber in dem Maße, wie sich eine jüngere Historikergeneration im geteilten Deutschland einrichtete, verblassten nationale Narrative. Die fachhistorische und politische Infragestellung von Nation und Nationalismus nahm deutlich zu, was sich erst nach der wiedergewonnenen Einheit Deutschlands änderte. Das Gedenken an den Ausbruch des Ersten Weltkrieges 1914, die Niederlage Deutschlands und die Revolution beschäftigte später eine Reihe renommierter Historiker zum 100. Jahrestag der Revolution 2018 und führte erneut zu überaus unterschiedlichen Bewertungen der ›Kriegsschuld‹ Deutschlands und den Erfolgen der Revolution (z.B. bei Christopher Clark, Gerd Krumeich, Herwig Münkler, Ian Kershaw, Robert Gerwarth, Benjamin Hasselhorn, Eckart Conze).

Geschichtspolitik als ›Aufklärung‹ und ›Volkspädagogik‹

Mit dem Beginn der sozialliberalen Koalition und der Wahl des Sozialdemokraten Gustav Heinemann zum Bundespräsidenten 1969 setzte auch eine geschichtspolitische Neuorientierung insofern ein, als dass das Staatsoberhaupt in die Rolle des Geschichts-Oberlehrers schlüpfte. Der selbsternannte ›Bürgerpräsident‹ mühte sich, die Deutschen in seinem Vaterland über die ›demokratischen Traditionen‹ in ihrer Geschichte ›aufzuklären‹. Die deutsche Geschichte ließe sich nicht (was Wunder!) auf 12 Jahre Nationalsozialismus reduzieren. Gleichwohl gab es nicht, wie bei Alexander Gaulands ›Vogelschiss‹-Bemerkung im Jahre 2018, einen Sturm der Entrüstung, sondern eher Gleichgültigkeit und mildes Einverständnis. Heinemann zeigte sodann Traditionen deutscher Geschichte auf, die er als beispielhaft für ein demokratisches Geschichtsbewusstsein herausstellte. Dabei ging er zurück bis zum Aufstand der Stedinger Bauern (Friesland) im 13. Jahrhundert, nannte die Bauernaufstände im 16. Jahrhundert, befand jakobinische Traditionen (Mainzer Republik 1794) für lobenswert, betonte die 1848er Revolution und die Frankfurter Paulskirchenversammlung, welche die erste freiheitliche Verfassung in Deutschland schuf, pries die Revolution von 1918 und zollte dem Widerstand der Arbeiterklasse gegen den Nationalsozialismus höchsten Respekt. In dieser historischen Auswahl fehlten allerdings die Anfänge der Nationalbewegung im anti-napoleonischen Widerstand (›Befreiungskriege‹) und die Selbstbehauptung der nationalen Bewegung gegen aggressive Töne aus Frankreich (›Rheinkrise‹, 1840). Aber das war und ist bis heute inopportun zu erwähnen, weil zu ›radikalnationalistisch‹ gegen ›die‹ Franzosen gerichtet. Bis heute halten sich die Deutschen mit Kritik an dem Imperialisten Napoleon Bonaparte zurück. So reagierten unsere Medien auf den Staatsakt von Präsident Macron anlässlich des 200. Jahrestages des Todes von Napoleon Bonaparte auf der Insel St. Helena (5. Mai 1821) weitgehend mit betretenem Schweigen. Man stelle sich offizielle Gedenkveranstaltungen in Deutschland zum Todestag von Kaiser Wilhelm II. (4. Juni 1941) vor!

Heinemann mahnte auch immer wieder ausdrücklich eine offensive Friedenspolitik an, förderte die Friedens- und Konfliktforschung und verband dies mit einer deutlichen Kritik an der Geschichtsschreibung, mithin auch der Geschichtswissenschaft:

»Unendlicher Fleiß ist seit erdenklichen Zeiten von Geschichtsschreibern darauf verwandt worden, den Verlauf von Schlachten und Kriegen darzustellen. Auch den vordergründigsten Ursachen von Kriegen wurde nachgespürt. Aber nur wenig Kraft, Energie und Mühe wurde in aller Regel darauf verwandt, sich darüber Gedanken zu machen, wie man sie hätte vermeiden können.« (Heinemann, Reden und Schriften, Bd. 1, 1975, S. 211).

Nach den friedensbewegten achtziger Jahren (›Nato-Doppelbeschluss‹ und Friedensbewegung) und weiteren Studien zum Nationalsozialismus / Faschismus setzten sich die kontroversen Debatten über die 12 Jahre deutscher Geschichte fort. Sie gipfelten 1986 im sogenannten ›Historikerstreit‹ über die ›revisionistischen‹ Thesen des Faschismusforschers Ernst Nolte, der den Nationalsozialismus ›historisieren‹, d.h. in den Kontext der von wirtschaftlicher Misere, Bürgerkriegen, Russischer Revolution, Stalinismus und Entstehung zahlreicher Diktaturen stellen wollte. Empörung löste er mit seiner Frage aus, ob Hitler und der Nationalsozialismus nicht als eine Antwort auf die »asiatischen Taten« des Bolschewismus/Stalinismus zu betrachten seien (Nolte, Vergangenheit, die nicht vergehen will. In: Historikerstreit, 1986, S. 45).

Die Kritiker Noltes kamen, was nicht erstaunlich war, aus den Kreisen linksliberaler und sozialdemokratisch orientierter Historiker, vor allem die Protagonisten der ›Struktur-, Sozial- und Gesellschaftsgeschichte‹, u.a. Hans-Ulrich Wehler, Heinrich August Winkler, Hans Mommsen und Jürgen Kocka, überwölbt vom massiven Einspruch unseres ›Staatsphilosophen‹ Jürgen Habermas (»Eine Art Schadensabwicklung«. In: Historikerstreit, S. 62ff.). Ein Jahr zuvor hatte Bundespräsident Richard von Weizsäcker in seiner berühmten Rede vom 8. Mai 1985 den Westdeutschen ins Gewissen geredet und ihnen bescheinigt, dass vierzig Jahre nach dem Kriegsende der 8. Mai als Tag der Befreiung zu betrachten sei. Weizsäckers Rede löste eine Welle von Zustimmung und Sympathie aus, nennenswerter Protest erhob sich gegen diese staatsmännische Ermahnung kaum. Einige wenige Politiker aus der CDU grummelten und der CSU-Abgeordnete Lorenz Niegel erklärte den 8. Mai zu einem der »traurigsten Tage, ein Tag der tiefsten Demütigung«, weil er die »Ächtung« der deutschen Nation und die »Verweigerung« der staatlichen Einheit zur Folge hatte (Lexikon der Vergangenheitsbewältigung, S. 255).

Interessant ist, dass dreizehn Jahre zuvor der nämliche Weizsäcker in einer Bundestagsdebatte zu den Ostverträgen die deutsche Nation vor der Kritik aus Regierungskreisen in Schutz genommen hatte. Er bezog sich seinerzeit auf das verdruckste staatspolitische Gedenken 1971 anlässlich des 100. Jahrestages der Gründung des Deutschen Kaiserreiches 1871 und wollte an diesem Beispiel deutlich machen, nicht immer nur die dunklen Seiten deutscher Geschichte hervorzukehren.

»Ich meine, Nation ist ein Inbegriff von gemeinsamer Vergangenheit und Zukunft, von Sprache und Kultur, von Bewußtsein und Wille, von Staat und Gebiet. Mit allen Fehlern, mit allen Irrtümern des Zeitgeistes und doch mit dem gemeinsamen Willen und Bewußtsein hat diesen unseren Nationbegriff das Jahr 1871 geprägt. Von daher — und nur von daher — wissen wir heute, daß wir uns als Deutsche fühlen. Das ist bisher durch nichts anderes ersetzt. Leider aber haben wir im Jubiläumsjahr der Reichsgründung, also im letzten Jahr, statt dessen von hoher und besonders hoher Stelle andere, zumeist kritische Äußerungen zu dieser Nation gehört. Es war vorwiegend die Rede vom Widerstand weiter Teile der Gesellschaft gegen diese Nation, (Beifall bei der CDU/CSU) vom Riß zwischen Demokratie und Nation, von der Nation als dem Feld zur Erreichung gesellschaftspolitischer Ziele.“ (Deutscher Bundestag, 6. Wahlperiode, 173. Sitzung. 25. Februar 1972).

Ihm wurde heftig von sozialdemokratischer Seite widersprochen (Erhard Eppler, Horst Ehmke), was deutlich machte, wie gespalten die Auffassungen der politischen Verantwortungsträger in der Frage der Nation waren. Obwohl alle mehr oder weniger deutlich für die Einheit der Nation eintraten, war es doch offensichtlich, dass sich die Linke ganz gut im geteilten Deutschland eingerichtet hatte und Diskussionen zu Nation und nationaler Identität für überflüssig, bzw. für schädlich hielten.

Parteipolitische Differenzen zeigten sich in puncto deutsche Nation und Vergangenheitsbewältigung immer wieder und führten zu heftigen Debatten bis in Landtage und den Bundestag hinein (Conrad, Auf der Suche nach der verlorenen Nation, 1999). So z.B. bei der höchst umstrittenen Wehrmachtsausstellung des Hamburger Instituts für Sozialforschung unter Federführung von Jan Phillip Reemtsma, Philosoph und Literaturwissenschaftler und dem Historiker und Publizist Hannes Heer im März 1995: ›Vernichtungskrieg der Wehrmacht 1941 bis 1944‹, welche die Kriegsverbrechen der Wehrmacht und ihre Komplizenschaft für den Holocaust aufdeckte. Die jahrelange erregte Debatte um die Ausstellung dokumentierte, wie zerklüftet die geschichtspolitischen Diskurse zu diesem Thema waren. Die Ausstellung wurde aufgrund der massiven Kritik neu konzipiert und 2001 erneut angeboten mit überwiegend positiver Medienresonanz, gleichwohl von Hannes Heer als »Konsensausstellung« scharf kritisiert (Lexikon der Vergangenheitsbewältigung, S. 312ff.). Bis heute schwanken die Einschätzungen der Wehrmacht zwischen der Verurteilung als willigem Instrument der Nationalsozialisten und einer auf neueren Forschungen beruhenden These, die Wehrmacht sei insgesamt »keine feldgraue Waffen-SS« gewesen und habe sich gegenüber den NS-Ideologen gewisse Spielräume erhalten können (Neitzel, Krieger, S. 190).

Spätestens nach der ›Goldhagen-Kontroverse‹ um den von dem amerikanischen Historiker Daniel Jonah Goldhagen behaupteten vermeintlich wesenhaften »eliminatorischen Antisemitismus« der Deutschen, 1996 ff. (Frei, Goldhagen, die Deutschen und die Historiker. In: Zeitgeschichte als Streitgeschichte, S. 138ff.) sind wir an einem geschichtspolitisch bedeutsamen Punkt angelangt. Von den neunziger Jahren angefangen, haben sich die geschichtspolitischen Aktivitäten des Staates explosiv ausgeweitet. Geschichtspolitik, verstanden als die »Produktion von Geschichtsbildern und die Konstruktion von Geschichtsnarrativen« ist zur selbstverständlichen Aufgabe staatspolitischen Handelns geworden und umfasst eine Fülle erinnerungspolitischer Vorgaben (Cord Arendes, Geschichte als politisches Argument. In: Hinz/Körber, Geschichtskultur, S. 427).

Es ist zwar unter Historikern umstritten, ob der Staat unmittelbar befugt ist, historische ›Aufklärung‹ anzuregen und Erinnerung zu befördern, aber dies geschieht inzwischen ganz regelmäßig mit einer Fülle von Maßnahmen, angefangen von der Bildungspolitik (Geschichts- und Sozialkundeunterricht, Schulbücher) bis zum Bau von Museen, der Organisation von historischen Ausstellungen, Errichtung bzw. Pflege historischer Gedenkstätten, Erinnerungsorten und Denkmäler bis hin zu Projekten wie den umstrittenen ›Stolpersteinen‹ auf Straßen und Plätzen, die an Verfolgte des Naziregimes erinnern sollen (Lexikon der Vergangenheitsbewältigung, S. 358ff.).

Die geschichtspolitischen Aktivitäten des Staates werden häufig mit der Förderung nationaler Identitätsbildung begründet. Das wird z.B. deutlich sichtbar in der Serie von Nationalfeiertagen und Gedenktagen, die den Jahreslauf durchziehen. Es beginnt am 27. Januar, dem Tag der Befreiung des KZ- und Vernichtungslagers Auschwitz, der seit 1996 bundesweiter, gesetzlicher Gedenktag zur Erinnerung an die Opfer des Nationalsozialismus ist und geht bis zum Volkstrauertag im trüben November als Gedenken an die Toten der Weltkriege. Ein stiefmütterliches Dasein fristen der 23. Mai (Gedenktag zur Verabschiedung des Grundgesetzes) und der 17. Juni als Erinnerung an den Volksaufstand 1953 in der SBZ/DDR. Der ›Tag der Deutschen Einheit‹ der ›Berliner Republik‹ am 3. Oktober hat, trotz mancher Bemühungen um attraktivere Ausgestaltung, längst nicht die emotional erwünschte Symbolkraft erlangt, weil der Anlass seiner Einrichtung ein bloß ein rechtstechnischer Akt war (Beitritt der DDR zur Bundesrepublik) und seine föderale Erinnerungspraxis, wie ein Kritiker spitz anmerkte, »die Gestalt einer anniversaristischen Wanderdüne angenommen« habe (Schmid, Die politischen Gedenktage. In: Der Nationalsozialismus – Die zweite Geschichte, S. 206).

Ferner sind die Bürger zahlreichen Entscheidungen staatlicher Gremien ausgesetzt, die sich auf die Gestaltung des öffentlichen Raumes beziehen und erinnerungspolitisches Gewicht haben, z.B. die Namen von öffentlichen Gebäuden, Straßen, Plätzen. Hier verbirgt sich ein nicht unerhebliches Konfliktpotential. Abgesehen von der unzureichenden Bürgerbeteiligung, ist es problematisch wenn diese Praxis zu einem mehr oder weniger ›politisch korrekten‹ Erinnern führen soll. Der Staat darf sich nicht selbst ermächtigen über die politische Relevanz von Vergangenheit autoritativ zu befinden und historische Inhalte mit politisch-moralischer Zwecksetzung aufzuladen. Der demokratische, pluralistische Staat ist keine »historische Erziehungsanstalt« und es darf kein ›von oben‹ gesetztes normatives Geschichtsverständnis dekretiert werden, das in staatsinterventionistische Aktionen und erinnerungspolitische Vorgaben umgesetzt wird (Frei, 1945 und wir, S. 18). Genau darin unterscheidet sich der demokratische Staat von Diktaturen, in denen, wie zahlreiche Bespiele aus unserer deutschen Vergangenheit zeigen, eine staatlich erwünschte Vergangenheitspolitik per ordre di Mufti gang und gäbe war. In gegenwärtigen Diktaturen setzt sich das fort und diese unterscheiden sich höchstens im Ausmaß und der Intensität ihrer jeweiligen geschichtspolitischen Interventionsmaßnahmen.

(Teil 2)

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