von Michal Reiman
Das Jahr 1968 war nicht nur in Prag, sondern in ganz Mitteleuropa ein politisch ereignisreiches Jahr, was damals auch Prag beeinflusst hat. Seither sind aber schon 50 Jahre vergangen, die Menschen, die diese Zeit aktiv miterlebt haben, sind heute zum größten Teil nicht mehr unter uns, oder sie sind etwa in meinem Alter. Das, was damals geschah und eine wesentliche Rolle in unserem Leben spielte, steht der Mehrheit der Gesellschaft heute nicht mehr so nah wie damals. Doch wenn jemand lange Jahre in einer totalitären Gesellschaft gelebt hat, die sich dann für wenige Monate in eine freie, demokratische Gesellschaft verwandelte, so ist das ein Erlebnis, das man kaum vergessen kann. Aber ich denke, gerade hier, in Berlin, muss das nicht allzu lange erklärt werden.
Die Geschichte, die ich ansprechen will, gehört zur Periode der Destalinisierung im Osten Europas. Stalin starb im März 1953 und seine unmittelbaren Nachfolger, Malenkow und Beria, starteten kurz danach die Destalinisierung so vehement, dass sie nicht mehr unterdrückt werden konnte. Drei Jahre später sah sich Chruschtschow – aus welchen Gründen auch immer – gezwungen, wesentlich weiter zu gehen: es wurde nämlich klar, dass die Schicksale mehrerer führender Persönlichkeiten der UdSSR, die Stalin vor dem Krieg und während des Krieges ›säubern‹ ließ, nicht in ausreichendem Umfang angesprochen wurden. Ebenso unerwähnt blieben die Schicksale der Millionen einfacher Menschen, die durch die Art der stalinistischen Kollektivierung und Industrialisierung umgekommen waren, von der Auswirkung der totalitären Gesellschaftsordnung auf das gesamte menschliche Leben ganz zu schweigen. Auf die Umstürze, Verhaftungen und Hinrichtungen in den mit der UdSSR befreundeten ›sozialistischen‹ Ländern werde ich jetzt nicht eingehen.
Durch diese Aspekte Chruschtschowscher Politik verbreiterte und vertiefte sich in den Ländern des Sowjetblocks die Kluft zwischen der Macht und der Bevölkerung, sodass die sowjetische Führung sich einen Chruschtschow und seine Politik auf Dauer nicht mehr leisten konnte. Breschnew, der ihm folgte, war zwar als Politiker weicher als Chruschtschow, seine Politik war jedoch von der Chruschtschowschen nicht so weit entfernt, was sich letztlich auch 1968 im politischen Konflikt in der Tschechoslowakei auswirkte.
Die Nowotny-Macht in der ČSR brach äußerlich ganz unerwartet zusammen, nicht lange nachdem er die ČSR zum sozialistischen Staat erklärt hatte und ihren anstehenden ökonomischen Aufstieg prophezeite, obwohl das Land sich im Vorfeld einer schweren Wirtschaftskrise befand.
Zu dieser Zeit hatten wir Nowotnys Politik bereits satt. Zwar konnte er sich zwar keine offene Unterdrückung seiner Opponenten leisten, aber er blieb auch weiterhin ein Parteibürokrat, in dessen Händen die Macht eines Generalsekretärs der KPČ und eines Präsidenten verbunden war. Am Abbau der totalitären Macht und einer Revision der politischen Prozesse war er persönlich kaum interessiert. Er wurde von Chruschtschow unterstützt und sprach seine Sympathie für diesen öffentlich aus. Ebenso entfernte er zwar einige Politiker, die an den politischen Prozessen wesentlich beteilig waren, vergass dabei aber nicht, dass er selbst einer von ihnen war.
Später setzte er zwar eine Partei-Kommission ein, die das Problem vom Tisch wischen sollte, doch an der Revision des schlimmsten antisemitischen sog. Slanski-Prozesses, in dem eine große Gruppe führender kommunistischer Politiker zu mehrjährigen Gefängnisstrafen oder gar zum Tode verurteilt wurde, zeigte sich Nowotny nicht besonders interessiert. Diese Urteile wurden erst am Vorabend und im Verlauf des Prager Frühlings revidiert.
Nowotnys Parteiführung konnte aber trotzdem nicht verhindern, dass bei dem Rehabilitierungsprogramm auch die frühere leitende Riege der KP-Slowakei, die in den 50er Jahren als ›slowakische Nationalisten‹ abgeurteilt worden waren, rehabilitiert wurden. Ihre Rehabilitierung wurde gegen den Willen Nowotnys, mit Hilfe der tschechischen Parteimitglieder durchgesetzt, wobei auch mehrere innerparteiliche ›Geheimnisse‹ an Tageslicht kamen.
Kurz danach brach zwischen Nowotny und dem neuen Generalsekretär der slowakischen KP Alexander Dubček ein offener Konflikt aus. Das geschah, da Nowotny versuchte, in der ›Slowakei‹ direkt gegen den slowakischen ›Nationalismus‹ aufzutreten. Der Konflikt wurde dann auf die Sitzung des Zks der KPČ übertragen, wo man mehrheitlich den Beschluss fasste, dass die Macht- Konzentration in einer Hand sich schlecht auswirke und daher abgeschafft werden solle. Zum neuen Generalsekretär des ZK der KPČ wurde so Dubček gewählt, der diesen Kampf gewann.
Ich möchte hier kurz einige Fakten erwähnen, die Dubčeks Vergangenheit ansprechen. Er wurde anfänglich von den Leuten, die nicht informiert waren, für einen ›sowjetischer Kader‹ gehalten und diese Täuschung war anfänglich auch auf sowjetischer Seite vorhanden. Man ging aber davon aus, dass er keine große Karriere machen würde. Dubček, vor dem Krieg als Kind und danach als Jugendlicher, wohnte in der UdSSR, wo seine Eltern Anfang der 1920er Jahre in Mittelasien eine Genossenschaft mitbegründeten, die beim Aufbau des ›Sozialismus‹ helfen sollte. Eine solche Entscheidung konnte aber kein leichtes Leben bedeuten, da es sich um die armen Regionen handelte. Am Ende scheiterte dieses Unternehmen nicht nur am fehlenden Geld, sonder auch an den Aktivitäten des NKVD, da die Region nicht weit von dem Gebiet lag, in das man oppositionelle Parteifunktionäre verschickte.
Dubčeks Familie blieb hier bis zum Jahr 1938, bis zu Alexanders Mittelschulabschluss. Dubčeks Familie blieb am Ende nichts anderes übrig, als in die Slowakei zurückzukehren. Das war zu dem Zeitpunkt, an dem 1939 das Münchener Abkommen unterschrieben wurde, das die ČSR als Staat zerstörte. Tschechien und Mähren wurden in ein deutsches Protektorat »Böhmen und Mähren« verwandelt und die Slowakei wurde in einen ›selbständigen‹ Staat umgewandelt, der sich als Verbündeter Nazi-Deutschlands darstellte.
So sah es aus, als die Dubčeks in ihre Heimat zurückkehrten. Trotz aller Schwierigkeiten des Lebens in der SU, blieben sie links und prokommunistisch orientiert. Dubčeks Vater wurde in der Slowakei im Jahr 1942 verhaftet und im KZ Mauthausen interniert, wo er mit Glück den Krieg überlebte. Seine Söhne, Julius und Alexander, gingen in die Berge zu den Partisanen. Der ältere, Julius, überlebte nicht; Alexander blieb in den Bergen und schloss sich im Jahr 1944 dem slowakischen nationalen Aufstand an.
Nach dem Krieg wurde er – schon als Bezirkssekretär der KPČ für etwa drei Jahre zum Studium an die Moskauer Parteihochschule geschickt. Es war gerade die Zeit, in der in der UdSSR und in ganz Osteuropa sehr heftig über Stalin diskutiert wurde; so konnte Dubček die ganze Diskussion um Stalin miterleben und die Nachkriegspolitik in der ČSR kritisch überlegen.
Vor kurzem habe ich gehört, dass die Anhänger des Prager Frühlings gläubige Kommunisten gewesen seien. Manche von uns glaubten sicher zu Beginn des Prager Frühlings 1968, dass der Kommunismus noch zu retten sei, aber wir waren eine sehr große und bunte Schicht von Leuten unterschiedlicher politischer Gesinnungen. In unseren Reihen fanden sich auch Mitglieder der anderen Parteien und Gruppierungen, vor allem Sozialdemokraten, die seinerzeit gezwungen worden waren, in die KP einzutreten und auch die Mitglieder anderer linker Gruppierungen, die aufgelöst worden waren. Das gleiche gilt auch für die parteilosen Bürger, sowie die Mitglieder der Parteien, die der ›Nationalen Front‹ angehörten und sich überzeugen ließen, dass der Kommunismus sich durch die Demokratie noch verbessern ließe. Sie wurden dazu durch die Atmosphäre einer Wende, die den Prager Frühling umgab, verführt.
Den Kern der Reformer bildeten die Prager Intellektuellen und die Intellektuellen der anderen großen Städte, vor allem Brünn, Bratislava, Pilsen, Ostrava ua. Die meisten von uns waren damals etwa 30 bis 45 Jahren alt. Wir tauchten auf in den Kanzleien führender Politiker, schrieben die Programme und andere Dokumente des Prager Frühlings, waren zur Hand, wo immer eine Krisensituation entstand, meldeten uns als Mitarbeiter in Zeitungs-, Fernseh- und Rundfunkredaktionen, wurden zu Mitgliedern verschiedenster Verbände und Vereinigungen.
Ich kann heute kaum einschätzen, wieviele Leute so aktiv waren: Anfänglich es waren mehr als hundert, die den ersten Entwurf des Aktionsprogramms aufs Papier brachten, das später wesentlich überarbeitet und gekürzt wurde. Es waren überwiegend Leute mit guter Ausbildung, aktiv und geistig beweglich. Ich spreche hier über die Prager, dazu kamen auch die Reformanhänger anderer Großstädte. Sie wurden auch von der älteren Generation der Kommunisten – zwischen etwa 45 und 70 Jahren – in unterschiedlichen auch höheren Positionen unterstützt.
Es wäre auch falsch zu glauben, dass wir ohne Verbindungen ins westliche Ausland gewesen wären. Wir hatten gute Beziehungen zu Kommunisten und Sozialisten, bzw. Sozialdemokraten und weiteren linken Gruppierungen in Italien, Frankreich, Österreich und auch in der SU, wo manche von uns studierten und ihre ›Kommilitonen‹ und ›Kollegen‹ hatten. Ich wagte es noch im Mai 1968 auf eine Konferenz nach Moskau zu fahren, wo ich so dreist war, dass Aktionsprogramm des Prager Frühlings zum Thema meines Beitrages zu machen. Der Konferenzsaal, in dem ich sprach, füllte sich mit ungewöhnlicher Schnelligkeit. Mir geschah nichts, in Prag ließ mich F. Krieger eine ›Verbale Note‹ verlesen, die aus Moskau gekommen war.
Das Problem war nicht so sehr der Kommunismus an sich. Wir waren so weit, dass wir den totalitären Kommunismus sowjetischer Art längst ablehnten. Wir hatten aber die polnischen und ungarischen Erfahrungen von 1956 vor Augen und wollten keinen Zusammenstoß mit der SU provozieren. Das hätte zu einem schnellem Zusammenbruch geführt. Der Raum, in dem wir uns bewegten, war wirklich sehr eng. In Moskau wurde im Jahr 2010 ein Band der Dokumente des ZK KPSS aus den Jahren 1967-1969 herausgegeben, das etwa 1.150 Seiten umfasste. Es zeigte überzeugend, dass die KpdSU, die ČSR nicht als einen selbständigen Staat behandelte. Was konnte das Land mit einer Bevölkerung von etwa 15 Millionen bei einem Zusammenstoß mit einer atomaren Weltmacht mit einer Bevölkerung von damals etwa 200 Millionen oder mehr machen?
Das war gerade zu der Zeit, als Dubček zum Generalsekretär der Slowakischen KP geworden war: Der Streit wurde am Vorabend des neuen Jahres 1967 in der Sitzung des ZK der KPČ ausgetragen. Nowotny mobilisierte zwar seine Anhänger, was aber nicht reichte. Auch Breschnew setzte sich nicht für Nowotny ein. Im neuen Jahr 1968 zeigte Breschnew sich nach kurzer Konsultation in Prag nicht bereit, sich für Nowotny sich einzusetzen.
Im Jahr 1968 machte er in der Slowakei sowie in Prag von Anfang an einen guten Eindruck auf die einfachen Leute, sowie auch auf die Leute, in deren Kreisen er sich bewegte. Viel machte die Art seines Sieges über Novotny aus, der seit 1953 nie vergaß, dass er die Position ›des Ersten zwischen Nichtgleichen‹ inne hatte. Von Dubček hörten wir als erstes seinen programmatischen Satz: ›Warum sollen wir ständig herumlaufen, um ausbrechende Brände rechtzeitig zu löschen, wir sind doch kein Feuerwehrkommando, sondern eine politische Partei und sollten ein Aktionsprogramm haben, um zu wissen, welche Probleme, wann und in welcher Reihenfolge zu lösen sind.‹ Wichtig war dabei, dass er nie als Boss auftrat und sich wie ein ›normaler Bürger‹ durch das Land bewegte. Ein weiterer Dubček-Spruch wurde weit und breit bekannt – ›Sozialismus mit menchlichem Anlitz‹, was vom sowjetischen Standpunkt als dreist und gefährlich aufgenommen wurde, da jeder – nicht nur in der ČSR – wusste, wo und wem das menschliche Anlitz fehlte.
Am Ende möchte ich ein paar Worte über Alexander Dubček selbst sagen. Ich traf ihn zum ersten Mal am Anfang 1968. Er kam, als frisch gewählter erster Sekretär des ZK der KPČ, aus Bratislava nach Prag. Vorher kamen zwei seiner Gehilfen, die sich um seine Kontakte in Prag kümmern sollten und uns – Jan Křen, Vaclav Kural und mich – fragten, ob wir bereit seien, für Dubček das Referat zum Jahrestag der Februarereignisse von 1948 vorzubereiten – Gäste aus den sozialistischen Ländern würden zu den Feierlichkeiten kommen. Wir sagten zu, da wir unheimlich froh waren, dass Dubček den Streit mit Novotny gewonnen und somit das Land von ihm befreit hatte. Doch wir stellten eigene Forderungen: wir sind keine ›Apparatmäuse‹. Dubček sollte uns erklären, was er im Referat haben wollte. Dubček kam zwar am nächsten Tag zu uns in die Räumlichkeiten im ZK , aber ein Gespräch kam nicht zustande, da gerade der sowjetische Botschafter zu Dubček kam. Das Referat schrieben wir so auf der Grundlage des Aktionsprogramms, an dessen inhaltlichen Diskussionen wir beteiligt gewesen waren. Am Abend dieses Tages wurde der Text jedoch von Breschnew angefordert. Dubček ließ uns mitteilen, dass er leider vieles weglassen musste, was er bei nächster Gelegenheit verwenden würde.
Ich traf ihn im Gebäude des Zk kurz nach seiner Rückkehr aus der russischen Gefangenschaft, er fragte mich: ›Was sollen wir jetzt machen?‹ Es war freundlich gemeint, als ob wir das wissen könnten. Wir trafen uns auch danach noch mehrmals: in Wien, als er von Bologna, wo er an der ältesten Universität Europas den Ehrendoktor bekam, nach Bratislava fuhr, danach in Berlin, als er als Ehrengast hier zu Besuch war und noch mehrmals in Prag, als er schon der Vorsitzende des Parlaments war. Wir waren persönlich nicht befreundet und ich besaß keine Funktionen, die das notwendig gemacht hätte, aber es gab immer etwas, wozu man seine Meinung wissen wollte. Er war ein Mensch mit großer persönlicher Ausstrahlung, wurde von den Mitbürgern geliebt, aber konnte sich im täglichen Leben ganz normal benehmen.
Auf dem Weg von Bratislava nach Prag, zu einer Parlamentsitzung, wurde er tödlich verwundet. Das Auto mit dem amtlichen Fahrer kam von Weg ab; wie es dazu kommen konnte, weiß ich bis heute nicht.
Um nicht nur von den Fehlern, die in der Zeit des Prager Frülings begangen wurden zu sprechen: Ich fuhr in der Zeit der ›Perestroika‹ in die UdSSR, um mich dort umzuschauen, ›was für ein Frühling hier ausbrach‹. Ich stellte fest, dass der Prager Frühling sich auf eine relativ breite Schicht russischer Intelligenz auswirkte und vieles für die Zukunft deutlich gemacht hat. Ich kann auch behaupten, dass die Wirkung des Prager Frühlings sich auch im Westen auswirkte. Als tschechische Emigranten bekamen wir Hilfe von vielen Seiten, es erschienen viele Publikationen, die sich mit den Ereignissen auseinandersetzten – in Deutschland, Österreich, Italien, Frankreich oder in einem anderen Land, wo es kein Problem war, einen Artikel oder eine Abhandlung über die Probleme der ČSR zu unterbringen.
Die UdSSR existiert nicht mehr, wir leben heute in Verhältnissen, die mit denes des vorangegangenen Jahrhunderts kaum mehr zu vergleichen sind. Das bloße Verschwinden der UdSSR und seines Lagers bringt in der heutigen Welt wichtige Veränderungen, die nicht zu unterschätzen sind, vorausgesetzt, dass wir das heutige Russland nicht mit der UdSSR verwechseln.
Als die ›russische Revolution‹ am Ende des vorigen Jahrhunderts ausbrach, versprachen wir Russland, das wir ihm eine Wohnung im europäischen Haus überlassen würden. Wir sollten mit Russland verhandeln, und ihm helfen, seinen Platz in Europa zu finden. Ein Konflikt mit Russland ist nicht nur für Russland gefährlich, er kann sich auch für Europa, vor allem Mitteleuropa, als tödlich erweisen.