von Gunter Weißgerber
Wie ich den Prozess hin zur Maueröffnung erlebte
Am 21. Januar 1989 verzichteten die ungarischen Kommunisten auf die Führungsrolle ihrer Partei. Am 28. Januar bezeichnete Imre Pozsgay den Aufstand von 1956 als Volksaufstand und am 11. Februar beschlossen die ungarischen Kommunisten die Einführung eines Mehrparteiensystems. Am 3. März unterrichtete Miklós Németh Michail Gorbatschow in Moskau über diese Reformen und teilte ihm endgültig mit, dass Ungarn den Eisernen Vorhang zu Österreich und Jugoslawien abbauen werde. Gorbatschow akzeptierte und ließ damit etwas zu, was Breschnew 21 Jahre vorher mit Panzern niederwalzte.
Faktisch zogen die Ungarn am 2. Mai 1989 das Lagertor auf, und für Millionen Mittel- und Osteuropäer bestand auf einmal die Chance, in naher Zukunft die eigene Freiheit zu gewinnen, ohne dabei das Risiko tragen zu müssen, das eigene Leben zu verlieren. Hätte Chris Gueffroy (das vorletzte Todesopfer an der Berliner Mauer, ermordet am 6. Februar 1989) diesen 2. Mai 1989 geahnt, er wäre heute noch am Leben.
Die Öffnung des ungarischen Lagertors hatte nicht nur die kommende Massenausreise möglich gemacht, die die DDR genauso schwer wie die im Lande verbleibende Opposition ins Wanken brachte (manch ein Oppositioneller wollte die DDR dem Westen nicht preisgeben, um diese selbst zu reformieren, was nicht wirklich gelungen wäre). Auch der Mut vieler Ostdeutscher, die Kommunalwahlen des 7. Mai 1989 zu kontrollieren, ist ohne den Hintergrund des mit der Grenzöffnung am Horizont flackernden Wegspülens der SED/MfS-DDR nicht zu denken.
Schnell fort - das war zum ersten Mal seit dem 13. August 1961 wieder realistisch denkbar geworden. Plötzlich gab es für widerständiges Verhalten nicht nur die Risiken von Verfolgung, Haft, Gefährdung des eigenen Lebens, sondern auch die Chance, einfach so zu entfleuchen. Das war ein starker Impuls und Mutgeber für sehr viele Menschen. Seit dem 2. Mai 1989 lagen nicht nur Freiheit und Demokratie in der DDR stärker in der Luft, auch die Deutsche Frage schob sich wieder auf die Tagesordnung. Auch für mich.
Ich erinnerte mich einer Fragebogenaktion im Tagebau Zwenkau im Mai oder Juni 1977, an der alle Jungfacharbeiter teilnahmen. Wir saßen zu hundert oder mehr Leuten in der Werkskantine und füllten einen Fragebogen des Jugendforschungsinstituts Leipzig aus. Neben allen möglichen sinnigen oder unsinnigen Fragen gab es zwei oder drei versteckt brisante Fragen: Ob die Architektur des Karl-Marx-Platzes in Leipzig mit dem Uni-Riesen schön und langlebig sei, ob der Sozialismus siegen werde und eine weitere Frage, an die ich heute keine Erinnerung mehr habe. Sowohl bei der Architektur als auch beim Sozialismus kreuzte ich das Nein an. Andere junge Kollegen hatten ihre Kreuze ähnlich gemacht. Was aus dieser Umfrage wurde, weiß ich nicht. Mit Sicherheit ist sie im Tresor gelandet. Vielleicht weiß ja einer der Leser mehr über diesen Versuch, etwas Reales zu erfragen?
Den ganzen Sommer überschlugen sich die Ereignisse. Der Zug zu Freiheit, Demokratie und dramatischen Veränderungen nahm phantastisch Fahrt auf. Die Informationen aus unterschiedlichen Gruppen häuften sich. Die Gegenwehr des SED-Staats war brutal, die Genossen waren zum Äußersten entschlossen. Dies alles muss an dieser Stelle nicht ausführlich beschrieben werden. Gebeten wurde ich um eine Schilderung meines Erlebens des Mauerfalls. Die Zeit unmittelbar vorher, sie gehört untrennbar dazu.
Mit dem 4. September 1989 und den Folgemontagen begann in Leipzig der letzte Akt auf dem Weg zum erfolgreichen Volksaufstand 9./16. Oktober 1989, der der Friedlichen Revolution in der gesamten DDR gewaltig Bahn brach.
Am 8. Oktober 1989 gelang mir in der Michaeliskirche endlich meine Unterschrift in die Liste des Neuen Forums bei Michael Arnold. Gleich in diesem Gespräch sagte ich ihm, dass ich mit meiner Unterschrift das Neue Forum als erste neue politische Gruppierung zwar stärken, ich jedoch unbedingt Sozialdemokrat werden wolle und deshalb von ihm die Adressen von Meckel oder Böhme erfahren möchte. Er gab mir die Adresse Manfred »Ibrahim« Böhmes. Drei Tage später fuhr ich hin, Böhme war nicht da, und ich musste mich diesbezüglich noch einige Zeit gedulden. Also vorläufig weiter für das Neue Forum Unterschriften sammeln und mich erstmal dort einbringen. Viele Kräfte wurden benötigt, der jeweils eigene politische Geschmack war zu diesem Zeitpunkt nachrangig. Aus diesem Grund bot ich den Aufbau einer AG Geschichte des Neuen Forums an. Ohne das allgemeine Wissen um die Geschichte schien mir ein Umpflügen der Diktatur des Proletariats nicht erfolgversprechend zu werden.
Es folgte eine lange Zeit angefüllt mit überragenden Ereignissen, unermüdlichen Diskussionen, vielem Schreiben, Leute aufsuchen, Montag für Montag in die Innenstadt zum Demonstrieren gehen, dienstags bis sonntags Unterschriften sammeln, die AG-Geschichte aufbauen und dabei den Beruf nicht vernachlässigen. Letzteres durfte gar nicht passieren. Die Kommunisten durften keinen fachlichen Vorwand zur Repression bekommen. Ich wollte nicht in dieser Zeit aus dieser Entwicklung gerissen werden. Dabei sein und mitgestalten! Es war ja so toll!
Ging es nach dem 9. Oktober um die Sicherung der sich entwickelnden Freiheit gegen die Vorherrschaft der (damals noch vielfach naiv) stalinistisch genannten Strukturen in der DDR, so spürten die Hundertausende von Montag zu Montag stärker, dass noch viel mehr möglich, dass sogar das bis dato Unaussprechbare – die Deutsche Einheit – möglich werden könnte. Auch als Garant dafür, dass uns die gerade gewonnenen Freiheiten nicht wieder weggenommen werden könnte.
Ende Oktober 1989 lag, zumindest in Leipzig, die Deutsche Einheit regelrecht in der Luft. Katalysator dieser Entwicklung war die noch immer unerfüllte Forderung nach Reisefreiheit. Nicht nur Nah- und Fernweh galt es zu befriedigen. Die Leute wollten auch ganz raus können, falls sich strukturell nichts ändern würde. In dem Fall erst recht!
Am 6. November, einem Leipziger Montag (!), legte die Regierung Stoph den Entwurf eines neuen Reisegesetzes vor, der so weit weg von gut und böse war, dass er bei den Demonstranten nur noch als hilfloser Versuch der SED, Zeit zu gewinnen, verstanden werden konnte. Nach den Stophschen Vorstellungen sollte die Bevölkerung zwar ungehindert reisen dürfen, dies aber erst nach einer 30tägigen Visabearbeitungszeit und dann für maximal einen Monat. Dem Druck in der DDR hohnsprechend sollte dieser Entwurf vier Wochen von der Bevölkerung diskutiert werden. Und wo? Natürlich in den läppischen ›Dialogveranstaltungen‹.
Alles in allem hätte diese Finte der SED mindestens zwei Monate Luft gegeben, da alle Vorschläge und Einwände in der neuerdings arbeitenden Volkskammer und in deren Ausschüssen hätten geprüft und diskutiert werden müssen. Ins Gesetzblatt wäre dieser Witz von einem Reisegesetz somit nicht vor dem 1. Februar 1990 gekommen. Für wie blöd hielten die Betonköpfe ihre Untertanen eigentlich noch immer?! Diese Zumutung fiel in Leipzig und überall in der inzwischen demonstrierenden DDR krachend durch. Der kommende Montag wäre für die SED noch verheerender geworden. Das ängstlich erkennend, kam es zu einer Übergangsregelung, die Schabowski am 9. November abends, hilflos scheinend, verkündete und den Ostdeutschen damit die Chance gab, ihn mit gehöriger Chuzpe beim Wort zu nehmen, das versprochene Loch in der Mauer jetzt und sofort zu beanspruchen.
Sollte mit der plötzlichen Reisefreiheitszusage der SED deren Hoffnung auf innere Entspannung verbunden gewesen sein, so wurde diese postwendend mit den nächsten Demonstrationen im ganzen Land zunichte gemacht. Die Leute fuhren zum Gucken und Kaufen in den Westen. Und sie kamen zum Demonstrieren nach Hause zurück. Wunderbar!
Für mich war es folgerichtig, dass es zum Loch in der Mauer und zum Fall derselben inklusive des Falles aller innerdeutschen Grenzanlagen kam. Ich kann nicht sagen, dass mich der 9. November abends wirklich überrascht hatte. Damit zu rechnen war doch, nur der genaue Zeitpunkt war offen. ›Jetzt ist es passiert‹ oder ähnlich dachte ich damals. Um ›Reisefreiheit‹ und ›Die Mauer muss weg‹ drehte sich doch eigentlich alles in den vielen vorangegangenen Diskussionen der letzten Wochen.
Besonders deutlich brach sich diese Stimmung in der Gründungsveranstaltung der Leipziger SDP am 7. November Bahn. Über den Namen SDP statt SPD wurde allgemeines Unverständnis geäußert. Sozialdemokratie war für die meisten Teilnehmer nur gesamtdeutsch und zwar als SPD denkbar gewesen. Auch ich bin nur deshalb in diese Partei gegangen. Wir trösteten uns mit dem Wissen, dass SDP nicht lange bleiben wird und wir uns aktuell um die Sicherung von Freiheit und Demokratie kümmern sollten. Die Sozis in Plauen sahen das ganz anders. Sie nannten sich sofort SPD.
Soweit zu meinem politischen Alltag in jenen Tagen. Am 10. November ging es nachmittags zur damaligen Schwägerin nach Hellersdorf, um die nächsten beiden Tage endlich Westberlin kennenzulernen. Am 11. November betrat ich erstmals in meinem Leben einen Boden der Freiheit. Entlang der Oberbaumbrücke wälzte sich ein riesiger Menschenpulk auf die Westseite, wir mittendrin. Am Cottbusser Tor erfuhren wir, dass dies Kreuzberg sei. Mein Sohn erhielt von Rentnerinnen Begrüßungsbonbons, und wir machten uns auf den Weg zu einer Bank. Das Begrüßungsgeld sollte für das Mittagessen reichen und dem Jungen ordentlich Lego zukommen lassen. Den Erwachsenen sozusagen den Genuss der Freiheit, dem Vierjährigen wunderbares Spielzeug. So die Tagesziele.
Vom Cottbusser Tor ging es zum Moritzplatz und dann in einen der ständig fahrenden kostenlosen Doppelstockbusse. Am Hermannplatz Einreihen in die riesige Begrüßungsgeldwartegemeinschaft vor einer Bank und dort vier Stunden warten. So war es – und jeder nahm es gern hin. Ich erlebte niemanden, der das Begrüßungsgeld für etwas Selbstverständliches gehalten hätte. Das Mittagessen und vor allem der große Legoeimer waren das Warten wert. Wer 15 Jahre auf einen Trabant oder 65 Jahre auf eine Westreise warten musste, der konnte vier Stunden inmitten westlichen Großstadttrubels allemal aushalten.
Das Essen in einer Pizzeria hatte geschmeckt, der Sohn hatte seinen Legoeimer. Die Stadterkundung mittels Doppelstockbus konnte beginnen. Kurfürstendamm, Straße des 17. Juni und vieles andere mehr stürmte auf alle ein. Das Gefühl von Freiheit war so wunderbar! Es lohnte sich, wieder nach Leipzig zurückzufahren und dort mit dafür zu sorgen, dass der Traum von Freiheit, Demokratie, sozialer Marktwirtschaft und Sicherheit in der Deutschen und Europäischen Einheit Realität werden konnte.