von Felicitas Söhner

Worin liegen die wesentlichen Merkmale der Neuzeit? Die geschichtsphilosophische Deutung der Neuzeit war im »kurzen 20. Jahrhundert« (Eric Hobsbawm) ein inhaltlicher Gegenstand der deutschen Geisteswissenschaften. Dieser Frage widmet sich der Autor des besprochenen Bandes, Hauke Ritz. Der Philosoph und Außenpolitik-Experte analysiert tiefgründig die philosophische Debatte um jene Epochenfrage. Darin bezieht er sich zwar auf bekannte Denker wie Hegel, Nietzsche, Weber, Löwith und Arendt, richtet seinen Fokus jedoch auf eher weniger prominente Vertreter der Nachkriegsphilosophie mit Georg Picht (1913–1982), Jacob Taubes (1923–1987) und Klaus Heinrich (*1927).

Hauke Ritz: Der Kampf um die Deutung der Neuzeit. Die geschichtsphilosophische Diskussion in Deutschland vom Ersten Weltkrieg bis zum Mauerfall, München (Wilhelm Fink Verlag) 2013, 373 S.

Schon der Titel Der Kampf um die Deutung der Neuzeit verweist auf die teils hitzige Debatte der Geisteswissenschaften und damit nicht zuletzt auf die Frage des Wesens Europas. Der Band widmet sich der Untersuchung, der Rolle der antiken Traditionslinien – Athen, Jerusalem und Rom, genauer die griechische Philosophie, jüdische Prophetie und römische Staatslehre – als Fundamente der Neuzeit. Ritz analysiert, welche der antiken Traditionslinien die Verantwortung trägt für die Katastrophen des destruktiven 20. Jahrhunderts – ein Zeitraum geprägt von einer »dichten Abfolge von Schocks« (46).

Der Verfasser diskutiert in kluger und umsichtiger Weise Streitfragen des Verhältnisses der neuzeitlichen zur antiken Ideengeschichte zu einem Jahrhundert, das »versucht hat, sich über den Prozess der Geschichte grundsätzlich Rechenschaft abzulegen« (13). Darin sei ein Bemühen zu verstehen, das zwischen dem Ersten Weltkrieg und dem Fall der Berliner Mauer im Zentrum beinahe aller geschichtsphilosophischen Überlegungen gestanden sei (vgl. 10).

Im ersten Kapitel geht der Autor »Auf den Spuren einer vergessenen Debatte« nach akademischen Maßgaben vor. Ritz beschreibt die Fragestellung des Werks, geht auf Konfliktlinien ein und beschreibt sowohl die Epochendiskussion um die Neuzeit wie auch Besonderheiten und Merkmale einer »tendenziell unbewusst bzw. halbbewusst geführte(n)« (14) Debatte. »Tief in der Philosophiegeschichte des 20. Jahrhunderts verwurzelt« (16) sei diese Debatte im Kern »über die Möglichkeit und Wirklichkeit von Säkularisationsprozessen« (26) quasi als Versuch zu verstehen, »aus der historischen Position des 20. Jahrhunderts die Verhandlung unabgeschlossener Fragen in der Auseinandersetzung zwischen Orthodoxie und Aufklärung wieder aufzunehmen.« (39)

Das folgende Kapitel zu Romano Guardini soll die katholische Perspektive darstellen. Der Theologe und Priester Guardini war durch seinen Beruf von »Erkenntnisinteressen bestimmt, die für gewöhnlich keinen Ort in der Wissenschaft haben« (55). Dadurch ist dessen Werk von einer Einfachheit und klaren Strukturiertheit geprägt, die anderen philosophischen Neuzeittheorien »in der Regel fehlen« (55). Hauke Ritz entwickelt die Grundstruktur von Guardinis theologischer Geschichtsdeutung, deren Struktur den Gegensatz von »Transzendenz und Immanenz in mehreren Variationen entfaltet« (57); diese Geschichtsdeutung wiederholt sich in beinahe allen folgenden Neuzeittheorien. Weiter widmet sich dieses Kapitel der Charakteristik von Guardinis Neuzeittheorie, gerade jenen Aspekt des wissenschaftlichen Modells unausgeführt zu lassen, der »in der übrigen Debatte das Eingangstor für unterschiedliche ideenpolitische Konzeptionen darstellt« (78). Guardini umgeht es, den Widerspruch zwischen christlichem Glauben und griechischer Logostheologie zu entfalten.

Der dritte Part beschäftigt sich mit der Entstehung der Neuzeittheorien. Der Autor umreißt die Entwicklungsgeschichte des Typus einer Geschichtsphilosophie und Neuzeitdeutung, der sich im Kalten Krieg durchgesetzt hat. In diesem Zusammenhang wird herausgearbeitet »wie das wissenschaftliche Modell der Neuzeittheorie entstehen konnte und durch welche Theoreme und Entdeckungen es vorbereitet worden ist« (79).

Im folgenden Kapitel, »Klaus Heinrich – ein religionswissenschaftlicher Erklärungsversuch«, beschreibt der Verfasser einen alternativen Typus der Neuzeitdeutung. Heinrichs anthropologische Neuzeittheorie basiert auf einer kritischen Gegenüberstellung der europäischen Wissenschaften der Neuzeit und den antiken Religionen. Während aus Sicht des Verfassers erstere die Aufklärung für sich in Anspruch nehmen, versteht er letztere vielmehr als ein Ringen um Aufklärung (vgl. 123). Aus dieser Perspektive fiele »ein neues Licht auf die Krise der neuzeitlichen Rationalität um 20. Jahrhundert« (123). Der Autor konstatiert Heinrichs Fokus auf Entschlüsselung und Verständnis des Wissens der Religionen, »das sich auf verschiedenen historischen Entwicklungsstufen unterschiedliche manifestiert hat« (125) und kritisch dem Wissen der modernen Wissenschaften gegenübergestellt werden könne. Heinrichs Neuzeitdeutung lebe sehr von den Vergleichen weit auseinanderliegender Zeiträume und beschreibe die Neuzeit als »einen intensiven Kampf zweier Bewusstseinslagen« im Spannungsfeld der beiden antiken Traditionslinien Athen oder Jerusalem (vgl. 155).

Das folgende Kapitel, »Georg Picht – eine ideengeschichtliche Deutung der Neuzeit«, behandelt Pichts protestantisch geprägte Theorie, die zu der sehr ähnlich strukturierten Theorie Heinrichs in einer eigenartigen Spannung steht (vgl. 171). »Heinrich (hat sich) … bemüht …, das Wissen vergangener Kulturen mit Erkenntnissen der Moderne in Übereinstimmung zu bringen und somit in ein modernes Verständnis zu übersetzen, während Picht einer solchen Versöhnung zwischen Vergangenheit und Gegenwart ablehnend gegenübersteht« (173). Damit versteht der Autor Pichts Neuzeittheorie als auf der Annahme gründend, dass »das Auftreten der griechischen und der neuzeitlichen Metaphysik als Einheit verstanden werden« könne (205). Nach diesem Verständnis wäre die Wiederentdeckung der Metaphysik in der Neuzeit ohne die griechische Antike nicht möglich gewesen (vgl. 205). Ritz erkennt in Pichts langem Reflexionsgang, dass Picht auf jeder Stufe seines Werkes das Christentum als Gegenentwurf zur neuzeitlichen Metaphysik verstanden habe (Vgl. 245).

Im sechsten Kapitel »Die Neuzeit aus heilsgeschichtlicher Perspektive« führt der Autor alle gedanklichen Fäden zusammen, die in den vorangegangenen Seiten entwickelt worden sind. Hier widmet sich Ritz dem fragmentarischen Werk von Jacob Taubes und stellt die philosophischen Fragen, die in den voran gegangenen Kapiteln behandelt wurden – nun aus Taubes‘ jüdisch geprägter, theologischer Perspektive. Aus der Sicht des Verfassers lassen sich Taubes‘ Schriften wie eine kritische Fortsetzung der Picht’schen Theorie verstehen (300). An dessen Rezeption zeigt der Autor, dass Taubes jede Philosophie auf ihre theologischen Motive hin befragt. Als weiteres zentrales Moment diskutiert der Verfasser Taubes‘ Theorem von der Wiederkehr der Antike in der Moderne (311).

Im abschließenden Resümee erläutert der Autor den gedanklichen Hintergrund einer intensiven Beschäftigung mit verhältnismäßig unbekannten Autoren der Philosophie, im Vergleich zu einer eher marginalen Behandlung der bekannteren Philosophie des 20. Jahrhunderts. Gerade die Suche nach einer Gegentradition zur postmodernen Theoriebildung habe den Verfasser zu den Werken Heinrichs, Pichts und Taubes‘ geführt (vgl. 359). Ritz bewertet insbesondere das Studium dieser Arbeiten als grundlegend für die eine neuperspektivische Betrachtung etablierter moderner Geschichtsphilosophien und deren immanente Grundmuster und begründet dies mit der Notwendigkeit, den im Kalten Krieg entstandenen Kanon in Frage zu stellen. Der Autor versteht die Neuzeittheorie von Taubes als »letzte Entwicklungsstufe der zweiten Phase des Theoriemodells« (362), deren »Abhängigkeit von den Neuzeitinterpretationen Pichts und Heinrichs sowie der Theoretiker der Frankfurter Schule (…) jedenfalls deutlich erkennbar« sei (363).

Wie ist nun die Qualität der vorliegenden Publikation zusammenfassend zu bewerten? Der philosophisch interessierte Leser findet differenzierte und stringente Interpretationen nicht nur der Arbeiten Heinrichs, Pichts und Taubes‘. Ritz erfüllt zudem seinen Anspruch, in der Rezeption der alternativen Geschichtsphilosophien Heinrichs, Pichts und Taubes‘ ein neues Verständnis der Gegenwart zu entwickeln, das unabhängig von Fortschrittsstreben und Ideologien Verantwortung für das Heute wahrnimmt. Gleichzeitig gelingt es ihm das Wesen der divergenten Deutungen der Neuzeit zu erklären und der Leserschaft nahezubringen – auch in dem Unterschied, Geschichte mehr als Schicksal oder mehr als Forderung zu verstehen.

Welche Anregungen lassen sich aus der Lektüre des vorliegenden Buches ziehen? Das überaus dichte Werk zur geschichtsphilosophischen Diskussion in Deutschland um die Deutung der Neuzeit ist voller Denkanstöße. Dem Autor gelingt es in seiner Arbeit eine alternative geschichtsphilosophische Debatte abzubilden, die das Nachdenken der menschlichen Gattung über ihre eigene geschichtliche Situation in besonderer Dichte und Konzentration verkörpert. Damit bietet Ritz dem Leser die Chance in der Auseinandersetzung mit Ideengeschichte und Geschichtsphilosophie große Entwicklungslinien zu erkennen und zu durchdenken. Er hält fest: »Die bloße Existenz der Neuzeitdebatte in der deutschen Philosophie des vergangenen Jahrhunderts weist das 20. Jahrhundert somit als eines aus, das sich im Spiegel einer größeren Epoche, die ihm voranging und es zugleich mit umschließt, zu erkennen versucht hat. Wir bewerten heute die Rückwendung der Renaissance zur Antike als ein bemerkenswertes Vorkommnis der Geistesgeschichte. Die Fähigkeit zur historischen Selbstbestimmung, die das 20. Jahrhundert in Gestalt der Neuzeittheorien gezeigt hat, ist möglicherweise nicht weniger bemerkenswert. Der Unterschied ist nur, dass diese geistige Handlung vom jetzt angebrochenen Jahrhundert erst noch eingeholt werden muss« (17).

Bildnachweis: "Buchdrucker" (1568) von Jost Amman (1539-1591); gemeinfrei (wikimedia)