von Steffen Dietzsch

Als Meinungen schon justiziabel wurden
Eine diskurs-polizeiliche Episode aus der DDR-Philosophie

Die vorliegende Dokumentation führt hinein in die Frühgeschichte der Agonie sozialistisch-kommunistischer Machtkultur in Deutschland, – als 1958 an der (Ost)Berliner Philosophischen Fakultät eine studentische Diskussionsveranstaltung nicht rhetorisch mit einem quod erat demonstrandum endete, sondern in einem Alles-was-sie-ab-jetzt-sagen-kann-gegen-sie-verwendet-werden. Statt Lorbeer aufs Haupt klickten im Forum die Handschellen; für die Betroffenen momentan unerwartet, aber eben doch bloß ein weiterer Fall in der Universalgeschichte politischer Niedertracht.

In der kommunistischen Zeitrechnung galt die zweite Hälfte der Fünfziger Jahre als eine – hoffnungsfrohe – Periode des technischen, wissenschaftlichen und auch politischen Umbruchs. Man beschrieb das Belebende jener Zeit in meteorologischen oder floristischen Metaphern, – als Tauwetter oder (maoistisch) Lasst-hundert-Blumen-blühen.

In der DDR verstand man sich demgegenüber als Partei-des-gemässigten-Fortschritts-im-Rahmen-des-Gesetzes (Jaroslav Hašek). Auf institutioneller Ebene blieb man weiter unbeweglich, ja man erließ vorsorglich ab Februar 1958 ein ›Strafrechtsergänzungsgesetz‹ (StEG), das die alte 1949er Verfassung um die Delikte ›staatsgefährdende Propaganda‹ und ›Staatsverleumdung‹ bereicherte. In der Zivilgesellschaft allerdings und besonders im (jungen) Parteivolk war der Reformwille unübersehbar. Ein neuer sowjetischer Roman – Der Mensch lebt nicht vom Brot allein (Wladimir Dudinzew, 1957) – drückte ein neues Lebens- und Kommunikationsgefühl prototypisch aus. Nun war immer schon alle kommunistische Öffentlichkeit sofort ›eingehegt‹ von ideologischen Regeln, die Rede und Meinung nur als parteiliche überhaupt will gelten lassen. Eine demgegenüber unbedingte Meinungsfreiheit wurde als bereits reaktionäre Idee eo ipso stigmatisiert. Aber auch die Meinungsfreiheit innerhalb (damals) sozialistischer Parameter, gewissermaßen en famille, wurde unbarmherzig kriminalisiert. – Dagegen erhob sich der anfängliche studentische Widerspruch, wie derjenige des Berliner stud. phil Peter Ruben, als er die Unterstellung monierte, dass »jede als Fraktion diagnostizierte Gruppe in der Partei apriori nicht auf dem Boden des DiaMat stehe.« (S. 53).

Angefangen hatte die studentische Diskussionsfreude mit einem Thesenpapier des damals namhaften Chemieprofessors Robert Havemann, der im Dezember 1956 ›21 Thesen‹ für ein Gespräch mit Philosophie und Naturwissenschaft angeboten hatte. Über die mentalen Grundbedingung einer solchen Diskussion ließ Havemann öffentlich – im ›Neuen Deutschland‹, am 7./8.Juli 1956 – verlauten: »Die entscheidende Grundlage eines wirklich produktiven Meinungsstreits ist die Respektierung aller von der Gegenseite vorgebrachten Gegenargumente, die Respektierung der Gegenansicht.« (S. 62). Dass sich eine so namhafte intellektuelle wie politische Stimme der Gesellschaft jetzt derart deutlich artikulieren konnte, war dem Ende der politischen Korrektheit geschuldet, die mit dem Sturz des toten Stalin (des Stalinismus) die alltägliche, aber auch die philosophische, künstlerische und wissenschaftliche Sprachlosigkeit beendete. – Aber diese ›Entstalinisierung‹ war nicht nur ein kognitives oder moralisches Problem; das sahen auch die Berliner Kommilitonen von 1958. In ihren ›44 Thesen‹ (von Michael Franz und seiner Gruppe) thematisieren sie – resignativ – die Möglichkeit, dass vielleicht die ganze bisherige Strategie zur Lösung der sozialen Frage, um deretwillen doch (oder nicht?) die Oktoberrevolution gemacht wurde, ins zivilisatorische Abseits, gar ins Nichts führen könnte (so wie das unabsichtlich stud. phil. Biermann später diagnostizieren wird: So-oder-so-die-Erde-wird-rot). Die ›Franzianer‹ stellten sich dem Problem, wie man die ›führende Rolle der Partei‹ erhalten könne, ohne ›die Massen‹ zu bevormunden? Was, wenn wieder (wie Lenin eine Revolution definiert) die da oben nicht mehr können und die da unten nicht mehr wollen? Die Studenten sahen natürlich die Ereignisse in Budapest, Poznan und Warschau (vom Herbst 1956), die die Grenze der Domestizierung der Gesellschaft durch die Partei aufzeigten, und die sie in ihrer Gewalttätigkeit ratlos machten.

Jetzt mussten die Kommilitonen entdecken (was heute wieder modern zu sein scheint), wie eine Meinung ein Verbrechen sein kann. Dann, wenn man Probleme des Machterhalt nicht machtgeschützt oder machterhaltend diskutieren wollte und die Macht damit der menschenfeindlichen, rassistischen und imperialen Marktgesellschaft (des Westens) überlassen wollte. Das betraf besonders die sogenannte ›zweite Gruppe‹ (Langer, Schweikert, Messelken), die solche deutschlandpolitischen Perspektiven anregten, die zwei Jahre zuvor Wolfgang Harich ins Gefängnis gebracht hatten. – So auch hier: die Studenten wurden inhaftiert. Im Fall Langer »beschloss die Versammlung gegen drei Stimmen bei einer Enthaltung seine Verhaftung vornehmen zu lassen.« (S. 213) Die Verhafteten blieben bei den Verhören natürlich bei ihren Meinungen – außer sie zu äußern hatten sie ja nichts darüber hinaus gehendes getan –, mussten aber erkennen, wie ›Meinungen‹ im Modus ihrer neuen Einkleidung mit Begriffen des ›Strafrechtsergänzungsgesetzes‹ zu ›Verbrechen‹ mutierten. Dafür mussten sie mehrere Jahre einsitzen. Kurzum: »Der häusliche Stalinismus war dort wieder voll in Kraft gesetzt worden.« (S. 257)

Die Dokumentation endet aber nicht mit den Ereignissen an der Humboldt Universität und vor dem Cottbuser Gericht, sondern die Herausgeber Peter Ruben und Camilla Warnke (beide 1958 zum ersten Mal parteilich abgestraft und beide hatten mehrjährige Rehabilitationskuren in Fabriken und auf dem Bau absolviert) zeigen die Kontinuität dieser Säuberungsverfahren während der gesamten Universitäts- und Bildungsgeschichte der DDR (S. 327-387). Dabei können sie sowohl das institutionelle Fortwirken in Partei- und Staatsstellen aufrufen, als auch – über die langen Jahre besonders deprimierend – die Kontinuität, nur leicht gealtert, desselben akademischen Zensur-Personals, – im Frühling der DDR wie zu ihrem apoplektischen Finale.

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