von Milutin Michael Nickl
Zur Erinnerung an die russische Chemiearbeiterin Schura Lomakina, die 1942 als sogenannte ›Angeworbene‹ ins nordöstliche Oberfranken nach Hof/Saale geholt worden war und deren Spur sich im Spätherbst 1944 abrupt verlor.
Frau/Fräulein Шуpа [Александра ?] Ломакина/Schura Lomakina, ca. 1918 in Gluschkowo/Глушково südwestlich von Kursk/Курск geboren, war eine ›angeworbene‹ russische Chemiearbeiterin, die 1942 bis 1944 in Hof/Saale in einer Fabrikarbeiter-Unterkunft unweit der Vogtländischen Baumwollspinnerei wohnte: im Vogtland [hoferisch: »im Fochtlant«] arbeitete sie mit Chemikalien, wozu sie Handschuhe trug (seinerzeitige, gesprächsweise überlieferte Eigenangabe). Deutsch konnte sie recht gut. Zur ukrainischen Zwangsarbeiter-Gruppe in der weiter stadtauswärts gelegenen Spinnerei Neuhof gehörte sie nicht.
Eine Notiz zur Fabrikarbeiter-Behausung und damit zu Schuras Unterkunft unweit der Vogtländischen Baumwollspinnerei, mitten in der Stadt Hof, 1942/44: Es waren eingeschossige, gemauerte Sammelunterkünfte für Fabrikarbeiter, unterkellert und mit Dachboden, im Umgebungsgelände der Vogtländischen Baumwollfabrik an der Hofer Schützenstraße. Stadtauswärts gesehen lagen sie auf der linken Seite.
Zur heute hinreichend geklärten Bezeichnungsweise »angeworben«, eine »angeworbene Fremdarbeiterin«: der seinerzeit übliche Sprachgebrauch ließ den graduell unterschiedlichen Zwangsarbeitscharakter offen; dies wurde nicht näher charakterisiert; »angeworben«, eine »angeworbene Fremdarbeiterin«, dies stellte einen differenzierenden Aspekt auch in der gesprächsweisen Selbstdarstellung von Frau/Frl. Schura Lomakina/Шура Ломакина dar, wie mündlich überliefert; sobesehen (scheinbar) keine ›Zwangsarbeiterin‹.
Von der Hofer Wirtsfamilie Nickl wurde Frau Lomakina, damals übliche Anrede: »Fräulein Lomakina«, als fleißige, intelligente, korrekte, freundliche und sympathische russische ›Fremdarbeiterin‹ mit »Spezialarbeit« in der Vogtländischen Baumwollspinnerei wahrgenommen. Innerhalb der Stadt Hof hatte sie eine gewisse Bewegungsfreiheit, was die Bezeichnungsevidenz als »Angeworbene« stützte und sich günstig auf die Vertrauensbasis auswirkte. Hofer sind nicht selten eher recht skeptische Leute. Die Impression der Wirtsfamilie Nickl über Fräulein Lomakina war jedoch offenherzig positiv. »Angeworbene russische Fremdarbeiterin« erschien im Umfeld zutreffend. »Ostarbeiterin« als taxierende Bezeichnung war zumindest im familiären Usus nicht gebräuchlich.
Den Wirtsleuten der Gaststätte Frisch, Joseph Nickl (1893-1943; Sanitätswagenfahrer beim Roten Kreuz) und Frau Anna Nickl (1898-1945), Schützenstraße 5 in Hof/Saale, wurde Frau/Frl. Schura Lomakina für eine Stunde täglich als Haushaltshilfe ›zugewiesen‹. Die Initiative dazu war von Frau/Frl. Lomakina selber ausgegangen. Den Kontakt angebahnt hatte einer der ständigen Mittagsgäste dieser Hofer Gaststätte aus der Vogtländischen Baumwollspinnerei. Frau/Frl. Schura Lomakina hat dann Frau Anna Nickl aufgesucht, sich persönlich vorgestellt und das Anliegen mit ihr besprochen. Daraufhin erwirkte die parteifreie Wirtsfrau die damals erforderliche Genehmigung [verwaltungsförmlich: »Zuweisung«] beim dafür Zuständigen in der Hofer Stadtverwaltung. Im Umgang mit städtischen Behörden kannte sich die Wirtsfrau Anna Nickl aus. Da ihr Mann Joseph oft mit dem Rot-Kreuz-Sanitätsauto bei Einsätzen unterwegs war und rund um die Uhr auf Abruf erreichbar sein mußte, telefonisch, war ihr als Gastwirtin schon vor Kriegsbeginn geschäftlich-organisatorische Erfahrung, Routine und Verantwortung zugewachsen. Seit den 1930er Jahren lag die Geschäftsführung der Gaststätte Frisch in ihren Händen, wie auch nach dem Tod ihres Mannes. 1942 konnte die Hofer Gastwirtin diese Zuweisung organisieren, obwohl sie ›die Schura‹ zunächst nicht für den Gaststättenbetrieb brauchte. Es war ja ein deutsches Hausmädchen bis in die erste Jahreshälfte 1944 bei der Wirtsfamilie Nickl beschäftigt, ›die Agnes‹ aus Fuchsmühl bei Tirschenreuth in der Oberpfalz. Und die wohnte und übernachtete dort (im Anwesen Schützenstraße 5 in Hof/Saale) in einer ausgemauerten Bodenkammer. Außerdem half ab und an Verwandtschaft mit. Erst im Frühjahr 1944 änderte sich diese Situation.
Trotz kriegsbedingter Umstände florierte die Hofer Gaststätte Frisch. Täglich war mittags bis abends geöffnet. Es gab keinen Ruhetag. Beim Hallplatz und in der Nähe vom Stadttheater Hof [Bezeichnung etwa ab Mai 1939; Schützenstr. 8] und der Vogtländischen Baumwollspinnerei gab es keine weitere Gaststätte. Zum Mittagessen - angeboten wurde jeweils nur ein Tagesgericht - kamen einige Bedienstete aus der Vogtländischen Baumwollspinnerei, einzelne vom Stadttheater Hof, bisweilen Gäste aus der Stadtteil-Umgebung, gelegentlich Auswärtige und Durchreisende. Abends gab es nur Kaltes zu essen, außer ›Knacker‹ mit Sauerkraut. Viel Schalterkundschaft erschien abends, tagsüber bloß sporadisch. Zum Schalterdienst wurde ›die Schura‹ jedoch nicht eingesetzt. Die Gastwirtin Anna Nickl wollte keinesfalls irgendwie provozieren.
Seit Kriegsbeginn lief der Gaststättenbetrieb über Bezugsscheine, Essens- und Lebensmittel-Marken. Gugelhupf [hoferisch: ́kʊglɔpf,m] und Kastenkuchen hat die Wirtsfamilie selber gebacken. Einmal im Monat holte die Gastwirtin zusätzlich Lebensmittel (im Rucksack) von einem Joditzer Bauern, zu Fuß. Und die mit Anna Nickl befreundete Joditzer Bäuerin brachte gebackenes Brot und andere Lebensmittel mit nach Hof, auch zu Fuß. Die Gaststätte Frisch führte Bohnenkaffee, Malzkaffee, Kräutertee, Schwarzen Tee, Brausen/Limonaden bzw. Sprudel-»mit« (Geschmack) und Sprudel-»ohne«, Marke Kondrauer. Wurde mit ein paar Spirituosen von der Firma Kretschmann geliefert. Das Faßbier und Flaschenbier stammte von der Hofer Deininger-Brauerei.
›Die Schura‹ kam in den Jahren 1942 bis 1944 fast jeden Tag mal zur Familie bzw. Restfamilie Nickl, meist nachmittags oder spätnachmittags, manchmal abends und hat in der Wirtsküche geholfen oder im Haus was geputzt, wofür sie ordentlich und regelmäßig verköstigt wurde. Wie vereinbart, wurde die tägliche Befristung auf rund eine Stunde eingehalten, denn dies hätte einer etwaigen behördlichen Überprüfung standhalten müssen. Mündlich überliefert ist die ab und an affirmativ-emphatisch gebrauchte, dreigliedrige Wortgruppe »gu:te Frau Nickl«. Anna Nickl und Schura Lomakina haben sich gut verstanden und respektiert.
Weil die Gastwirtin Anna Nickl langfristig verläßliche Hilfe für die trotz Lebensmittel-Zwangsbewirtschaftung existenzsichernd betriebene Gaststätte Frisch benötigte, unternahm sie Mitte 1944 (nach dem Tod ihres Ehemannes Joseph und ihres Sohnes Karl) den Versuch, Frau/Frl. Lomakina, zu der sie Vertrauen gewonnen hatte, als Vollzeitkraft für ihre Gaststätte zu verpflichten und sie zudem in vertragsrechtlicher Form an die Familie Nickl zu binden.
Aus heutiger Sicht überschätzte sie freilich ihren Handlungsspielraum. Von den Hofer Nazi-Bonzen kannte sie keinen dominierenden, selbstverständlich aber ihren Nachbarn, den NS-Stadtteil-Funktionär Heinz Roth: Oberrealschul-Lehrer, Entomologe, engagierter Schmetterlingsforscher und -sammler, stadtbekannter Schachspieler im Schachclub Hof 1892, »däs Roths-Heinzla« [mit seiner Familie im Nachbarhaus, Schützenstr. 4 wohnhaft, parterre], eine schmächtige aber schwungvoll intonierende Person mit charakteristischem, addental-interdentalem Sigmatismus, ein aktiver, teils idealistisch wirkender bis frustrierter NS-Mitläufer, vom Erscheinungsbild und seinem Rollenverhalten her sicherlich kein Prototyp eines NS-Herrenmenschen. Jedenfalls konnte der sowas nicht entscheiden, obwohl nachbarschaftlich gutwillig. Mit kreativ-kriegsbedingter ›Nachbarschaftshilfe‹ war dieses Nickl-Lomakina-Problem nicht zu lösen, weil dabei NS-Rechtsauffassungen angeschnitten wurden.
Auf Anraten von Nachbarn trug Frau Anna Nickl ihr Ansinnen schließlich doch der Hofer NSDAP-Ortsgruppenleitung vor, um zu erkunden, wie sie dies auf zulässige Weise bewerkstelligen solle. Die Sache scheiterte. Man bedeutete ihr, sie möge »bitte kein zweites Mal mit diesem Anliegen hier aufkreuzen«. Die sich gedemütigt fühlende Frau Anna Nickl äußerte sich im Nachhinein ihren damals noch lebenden Eltern und ihrer Tochter gegenüber bloß spärlich. Zunächst blieb die Situation unverändert.
›Die Schura‹ kam weiterhin täglich einmal, am Nachmittag oder spätnachmittags, manchmal auch erst abends zur Restfamilie Nickl bzw. zur verwitweten Wirtin Anna Nickl in die Gaststätte Frisch (Hofer Innenstadt, Schützenstr. 5, nahe Hallplatz und Stadtpost), hat in der Wirtsküche geholfen oder dort geputzt, was unter den obwaltenden Umständen mit einer vollen Mahlzeit abgegolten wurde, vom Ablauf her meistens im Voraus: sowie ›die Schura‹ da war, hat sie erst mal was ›Anständiges‹ (oder ›was G`scheits‹) zu essen bekommen. Mehr war im gegenseitigen Einvernehmen und mit Plazet der zuweisenden, städtischen Verwaltungsstelle nicht auszuhandeln gewesen.
Doch im November/Dezember 1944, mehrere Monate vor dem Einmarsch der US-Truppen Mitte April 1945, lange vor der mehrmonatigen Ausquartierung und Plünderung von Wohnhäusern in der Hofer Schützenstraße durch US-Militär, verliert sich die Spur von Frau/Frl. Schura Lomakina abrupt. Sie war vom einen auf den anderen Tag nicht mehr in der Gaststätte Frisch erschienen. Was von der Gastwirtin Anna Nickl anfänglich als was ziemlich Brüskierendes aufgefaßt worden war, zumal ›die Schura‹ ja fast schon zur Familie gehört hatte. Ende 1944 sickerten dann aber Gerüchte durch, dass Fremdarbeiter »verlegt« oder »weggeführt« worden seien, nachts.
Mementote!
Es handelt sich hier um eine leicht gekürzte Version des Textes, die ungekürzte Fassung ist enthalten in: Milutin Michael Nickl, rudimenta rhetorica. Kommentare zur Kommunikationskultur, Hersbruck 2011, S. 7-10.