von Herbert Ammon

Am 8. Januar 2011 starb in Prag Jiri Dienstbier. Die Medien erinnerten an seine historischen Verdienste als Dissident in der Tschechoslowakei vor und nach dem Fall des Eisernen Vorhangs 1989. Nach Niederwerfung des ›Prager Frühlings‹ am 21. August 1968 als Journalist bei Radio Prag entlassen und mit Berufsverbot belegt, schlug Dienstbier sich als Heizer, Archivar und Nachtwächter durch. Im Freundeskreis um Vaclav Havel gehörte er zu den Unterzeichnern der auf demokratische Freiheit pochenden »Charta '77«. Für das oppositionelle Manifest saß er drei Jahre im Gefängnis.

Nach Dienstbiers Tode brachten die Medien jene Szene vom 23. Dezember 1989 in Erinnerung, als er zusammen mit dem deutschen Außenminister Genscher und dem österreichischen Amtskollegen Alois Mock an der tschechisch-bayerischen Grenze bei Rozvadov/Waidhaus den Stacheldraht zerschnitt.

 In den Nachrufen unerwähnt blieben Dienstbiers frühe Verdienste um die Wiedergewinnung der deutschen Einheit. Lange vor dem Mauerfall, in der Debatte um die sog. ›Nachrüstung‹ von Mittelstreckenraketen in Westdeutschland, welche − in West und Ost unerwartet und alsbald vehement bekämpft – die ›Deutsche Frage‹ ins Spiel gebracht hatte, gehörten Oppositionelle wie Jiri Dienstbier und Frau Jirina Dienstbierova, Jaroslav Sabata, Petr Uhl und andere zu denjenigen, die entgegen allen Denkgeboten die deutsche Teilung als Kern des eingefrorenen Ost-West-Konflikts zur Sprache brachten.

Anfang der 1980er Jahre schien sich in der westdeutschen, vom Anti-Raketen-Protest getragenen Friedensbewegung auch in Deutschland die Wiederkehr der ›Deutschen Frage‹ anzukündigen. Doch nach kurzen, als ›linker Patriotismus‹ bezeichneten Aufwallungen im Gefolge des »Havemann- Briefes« 1981 stießen Friedensideen, die das erhöhte Bedrohungsszenario auf seine Ursprünge zurückführten und davon ausgehend auf Status-quo-Überwindung zielten, westlich der deutschen Teilungsgrenze auf geringes Verständnis, von den SED-inspirierten Friedenskohorten ganz abgesehen. Hingegen waren jenseits der deutsch-deutschen Grenze einige Dissidentenzirkel über die Friedensfrage zur ›Deutschen Frage‹ durchgestoßen, maßgeblich die am kirchlichen Predigerseminar in Naumburg angesiedelte Gruppe um Edelbert Richter. Ermutigt wurden Friedensaktivisten in der DDR durch polnische Intellektuelle und insbesondere durch die Dissidenten in Prag.

Zu Richters Schülern zählte der − am angestrebten Physikstudium gehinderte − Theologiestudent Christian Dietrich, heute Pfarrer in dem unterhalb der Gedenkstätte Buchenwald gelegenen Ort Nohra bei Weimar. (Seit 1986, als Christian, wiederum angeregt durch den kanadischen Friedensaktivisten Hans Sinn [Peace Brigades Internationa], mit mir in West-Berlin per Post – Einschreiben mit Rückschein − Kontakt aufnahm und mir, unbeeindruckt von Stasi und Zensur, ein Manuskript mit systemüberwindenden Friedensgedanken zusandte, darf ich ihn zu meinen Freunden zählen.) Nach seiner Anfang 1989 bewusst vorgenommenen Übersiedlung gehörte Christian zu den Aktivisten in der Leipziger Opposition.

Am Tage nach Dienstbiers Tod schrieb Christian Dietrich in einem Rundbrief an Freunde Folgendes: »Gestern rief mich Leo von Thadden an und sagte mir, Jiří Dienstbier lebt nicht mehr! Wir beide hatten 1987 vergeblich vor seiner Wohnungstür gestanden. Doch eines Tages hatte ich Glück. So bin ich ihm begegnet... Er war ein großen Antipolitiker, der mit vielen Opfern, ganz eigenem Charme und feiner Ironie europäische Geschichte geschrieben hat, im wörtlichen Sinne aber auch als unbestechlicher Demokrat, Mitbegründer der Charta 77 und dann tschechischer Außenminister.«

Im Gedenken an die Jahre gemeinsamen Widerstands erinnerte Dietrich an den politischen Scharfblick des Prager Dissidenten. Der Aufsatz »Was bleibt übrig?«, den Dienstbier als Aufmacher für die Ostberliner Untergrundzeitschrift OSTKREUZ (Januar 1989) beisteuerte, enthielt »eine radikale Abrechnung mit dem Sowjetimperium in einer Sprache, die einfühlsam auch die Machthaber im Blick hatte – sehr ähnlich der Sprache von Liu Xiaobo.
Prophetisch beschrieb er, wie die Erosion des Sowjetblocks unumkehrbar ist. Und benannte dabei insbesondere die Gefahr der Agonie, die beim zu schnellen Austreten einzelner Nationen aus dem ›letzten Kolonialreich der heutigen Zeit‹ lauerte. Und mit großer Weitsicht meinte er, ›Gorbatschow ist wahrscheinlich der letzte sowjetische Herrscher, der eine solche Entwicklung verhindern kann, wenn ihm eine erfolgreiche Verwandlung des sowjetischen Systems in ein demokratisches gelingt‹.«

Nach dem als ›Samtene Revolution‹ bezeichneten Sturz des kommunistischen Regimes im November 1989 fungierte Dienstbier als erster Außenminister (und Vizepremier) der Tschechoslowakei. 1992, ein Jahr vor deren Teilung, verfehlte seine liberale »Bürgerbewegung« die Fünfprozenthürde für den Einzug ins Parlament. Danach arbeitete er neben Lehrtätigkeiten als Gastprofessor an in- und ausländischen Universitäten in der Prager Kommunalpolitik. Erst 2008 kehrte Dienstbier in höhere Ränge der tschechischen Politik zurück und wurde als parteiloser Kandidat auf der Liste der Sozialdemokraten in den Senat gewählt.

In seinen politischen Urteilen blieb Jiri Dienstbier stets ein unabhängiger Kopf. Von den Vereinten Nationen 1998 als Sonderberichterstatter ins zerfallende Jugoslawien, entsandt, sorgte er anno 1999 mit seiner Kritik an den NATO-Luftangriffen für Irritation. Bernard Kouchner, der damalige Chef der UNO-Zivilverwaltung, nahm Anstoß an der Aussage, die ethnischen Säuberungen im Kosovo hätten erst nach den Bombardements auf Serbien eingesetzt. Kritik erntete Dienstbier auch seitens seines alten Mitstreiters Vaclav Havel. Ende 2006, kurz vor seinem 70. Geburtstag, sagte Dienstbier, auf die Dissidentenjahre zurückblickend, in einem Interview mit Radio Prag: »Das, was damals passiert ist, das war natürlich eine außergewöhnliche historische Situation. Ich meine manchmal: Selbst wenn ich im Leben nichts anderes erlebt hätte, als dass der Eiserne Vorhang fällt und ich mich daran in irgendeiner Weise beteiligen konnte, so könnte ich vielleicht trotzdem sagen: Ich habe genug getan. Aber natürlich kann man das nur dann sagen, wenn einem das knapp vor dem Tod geschieht. Denn das Leben geht weiter. Und heute haben wir ganz andere, neue Probleme.«