von Herbert Ammon
Im Kontext der bundesrepublikanischen Zivilreligion spielt die Erinnerung an den Theologen und Widerstandskämpfer Dietrich Bonhoeffer, am 9. April 1945 im KZ Flossenbürg von einem SS-Standgericht verurteilt und qualvoll hingerichtet, keine herausragende Rolle. Zu erklären ist dieses Faktum mit dem Charakter der – entgegen der These von der ›Wiederkehr der Religion‹ – säkularen, postchristlichen
sowie im Selbstverständnis ihrer Deutungseliten postnationalen deutschen Gesellschaft. Immerhin verdanken wir dem 2009 verstorbenen Wiener Bildhauer Alfred Hrdlicka eine eindrucksvolle Bonhoeffer-Skulptur – ein Monument, welches den Begriff ›antifaschistisch‹ mit gänzlich neuem Inhalt füllen könnte. Die ideelle Langzeitwirkung des mit einigen historischen Unschärfen behafteten Filmes Bonhoeffer – die letzte Stufe (2000) mit Ulrich Tukur, der den Märtyrer-Theologen einem breiteren Publikum nahebrachte, ist schwer zu ermessen.
Andererseits fungiert Bonhoeffer im geistigen Binnenraum der Theologenschaft seit langem als bei Bedarf abrufbare Autorität. In einer Skulptur über dem Westportal der Westminster Abbey figuriert er als einer von zehn ökumenischen Heiligen des 20. Jahrhunderts. Bonhoeffer gilt als Kronzeuge für die Überwindung des deutschen Nationalprotestantismus, für die Öffnung zur Ökumene sowie für politisch engagiertes, ›progressives‹ Christentum. Gegenüber der als unzureichend befundenen Opposition der Bekennenden Kirche dient die Ausnahmegestalt Bonhoeffer als mahnendes Vorbild. Sein Name steht für Bekenntnisse zu Schuld und Versöhnung, für Pazifismus nach dem Vorbild Gandhis, zugleich, in unbenanntem Widerspruch, für die Bereitschaft zum ›Schuldigwerden‹ im Kampf gegen das Böse mit den Mitteln der Gewalt. Als vermeintlich moderner Künder eines ›religionslosen‹ Christentums in der ›mündig gewordenen Welt‹ dient er der Begründung von ökumenischen Botschaften und Friedensformeln, so anlässlich der oft zitierten Proklamation für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung des Ökumenischen Rates anno 1983 in Vancouver (Raiser, 42-46).
Wer sich auf Vita und Werk Bonhoeffers einlässt, dem tritt eine vom vorherrschenden Bild in vielen Zügen abweichende Gestalt vor Augen. Er stößt auf einen unzeitgemäßen, hochkonservativen Denker und einen so klarsichtigen wie unbeirrbaren deutschen Patrioten. Nur in scheinbarem Widerspruch dazu stehen Sätze wie Bonhoeffers häufig zitiertes Diktum, er bete »für die Niederlage meines Vaterlandes. Nur durch eine Niederlage können wir Sühne leisten für die furchtbaren Verbrechen, die wir gegen Europa und die Welt begangen haben.« Die Sätze sind durch den mit Bonhoeffer aus der ökumenischen Arbeit vertrauten Willem A. Visser´t Hoff von einer Begegnung in Genf im März 1941 überliefert. Visser´t Hoff fügt »dieser kompromißlosen Antwort« die Interpretation selbst hinzu: »Ich kannte ihn schon gut genug, daß diese Härte keine Verleugnung seiner Vaterlandsliebe war, sondern eine Bekräftigung.« (Zit. in: Dramm, 88). Bonhoeffer hoffte bis zuletzt auf ein Gelingen des von ihm frühzeitig für notwendig erkannten Attentats auf Hitler und die Rettung seines Vaterlandes – ein bei heutigen Zeitgenossen verpönter Begriff.
»Kreativer Mißbrauch«: Bonhoeffer-Exegesen und politische Theologie
Das patriotische Motiv des Widerstandskämpfers Bonhoeffer scheint noch im Titel einer 1961 von Hans Rothfels herausgegeben schmalen Textsammlung auf: Ich habe dieses Volk geliebt (Bonhoeffer I). Dessen ungeachtet prägte sich in den Nachkriegsjahrzehnten das Bild eines zum Martyrium entschlossenen prophetischen deutschen Bußpredigers und eines Aktivisten ökumenischer Gerechtigkeit aus. Die Bonhoeffer-Rezeption scheint so von einer theologischen Variante kognitiver Dissonanz geprägt. Sie zeichnet sich dadurch aus, dass in ihr anstelle der weithin exploratorischen Denkbewegungen in den erstmals 1951 von seinem Schüler und Freund Eberhard Bethge herausgegebenen Gefängnistexten Widerstand und Ergebung (= W. u. E.) vornehmlich die Intentionen der jeweiligen Interpreten zum Tragen kommen. Auf die Frage, ob er sich nicht zu Unrecht auf Bonhoeffer berufe, antwortete Anfang der 1960er Jahre der amerikanische ›Tod-Gottes-Theologe‹ William Hamilton: »Gewiß, wir erlauben uns, Bonhoeffer kreativ zu missbrauchen.« (Ohne Anführungszeichen zit. in: Bethge, 107f.)
Zur verengten Sicht der politischen und politisch-theologischen Positionen Bonhoeffers trug fraglos der im Nachkriegsprotestantismus maßgebliche Einfluss des neo-orthodoxen Theologen Karl Barth bei, der die Schuldthematik in theologischer Dialektik mit Stellungnahmen zur deutschen Teilung sowie zur Weltlage im Zeichen des Kalten Krieges verknüpfte. Die ›Barthianer‹ konnten sich auf die unter dem Eindruck von Barths »Krisentheologie« (Der Römerbrief 1919; 1922) einsetzende Entfernung Bonhoeffers vom theologischen Liberalismus seines Lehrers Adolf von Harnack sowie auf die gemeinsame Frontstellung im ›Kirchenkampf‹ der Bekennenden Kirche gegen die Kirchenpolitik des NS-Regimes und die Ideologie der Deutschen Christen beziehen.
Eine Episode aus dem Mai 1942, als er auf einer der Reisen, bei der die verlassenen Verschwörer (Klemens von Klemperer) positive Signale von Seiten der Kriegsgegner zu erlangen hofften, in Basel mit Karl Barth zusammentraf, belegt, dass die Beziehung Barth-Bonhoeffer nicht immer von herzlichem Einvernehmen geprägt war. Vor dem Besuch in Basel am 25.5.1942, einem Pfingstmontag, hatte Barth über seine Sekretärin und Freundin Charlotte von Kirschbaum gewisse Vorbehalte gegenüber Bonhoeffers Unternehmungen angemeldet: »Es ist Karl Barth in der Tat etwas ›unheimlich‹ und das sind alle Versuche, Deutschland aus seiner absehbaren Not, in die es nun hineingerissen wurde, mit weiteren ›nationalen‹ Unternehmungen zu retten. Dazu gehören auch die Versuche, die eventuell von der Generalität unternommen werden möchten.« (Zit. in: Dramm, 160.) Laut Biographin Dramm herrschte danach »trotz mancher Differenzen in der Einschätzung der politischen Konstellationen« zwischen Barth und Bonhoeffer wieder Eintracht (Ibid., 164).
Barth selbst meinte 1951, in der »geistvollen ›Ethik‹ von Dietrich Bonhoeffer« die Intentionen seiner eigenen Dogmatik zu erkennen (Vgl. Nachwort der Herausgeber, in: Ethik, 440). Bonhoeffers kritische Bemerkungen bezüglich Barths »Offenbarungspositivismus« (W.u.E., 133, 137, 161f.) entschärfte sein Freund Bethge, indem er sie nicht auf den Basler Theologen, sondern auf die ›Barthianer‹ bezog (Bethge, 107). Vor allem geriet der Patriot Bonhoeffer, der sich in Zeiten des ›Kirchenkampfes‹ mit dem deutsch-nationalen Generalsuperintendenten Otto Dibelius (1880-1967) – in den 1950er Jahren als Berlin-Brandenburgischer Bischof und Ratsvorsitzender der EKD sowie als CDU-Mitglied ein Kontrahent Karl Barths –, gut verstanden hatte, aus dem Blick. Während eine Auseinandersetzung mit dem in Bethges Edition seit 1949 vorliegenden Hauptwerk Bonhoeffers, der voluminöses Fragment gebliebenen Ethik, kaum stattfand, dienten dessen frühes ökumenisches Engagement sowie Stichworte aus Widerstand und Vergebung für unterschiedlich akzentuierte, ja gegensätzliche Ausdeutungen. (Nachwort, in: Ethik, 439-447; Graf)
Wegweisend für Bonhoeffer-Interpretationen in der Bundesrepublik waren neben Barth der existenzialtheologisch orientierte Bonhoeffer-Schüler Gerhard Ebeling, der Barthianer Ernst Wolf sowie Jürgen Moltmann als Protagonist einer ›Kreuzestheologie‹. Alsbald avancierte Bonhoeffer im Umfeld der 68er-Bewegung zum Kronzeugen eines ›engagierten‹ Protestantismus. Dorothee Sölle (1929-2003) reklamierte Bonhoeffer für politische Nachtgebete, für Friedensaktivismus sowie für den befreiungstheologischen Kreuzzug gegen »Rassisten, Sexisten und Kapitalisten«. »Christus hat den unsichtbaren Gott sichtbar gemacht, indem er die unsichtbaren Menschen, die Armen, die Rechtlosen, die Frauen sichtbar machte. Er war ›der Mensch für andere‹ (Bonhoeffer)« (Sölle, 163).
In der DDR setzte die ideologische Umdeutung mit einer Dissertation von Hanfried Müller (Von der Kirche zur Welt, 1956) ein, der die Aussagen Bonhoeffers zum neuzeitlichen Emanzipationsprozess in Widerstand und Ergebung für den DDR-Sozialismus vereinnahmte. Immerhin blieben die Thesen Müllers, in zwei Auflagen 1961 und 1966 in Buchform vorgelegt und an der Theologischen Fakultät der Humboldt-Universität zur herrschenden Dogmatik ausgeformt, nicht unumstritten. Zugleich eröffnete die Berufung auf den vom atheistischen SED-Staat als antifaschistischer Widerstandskämpfer geehrten Bonhoeffer den weniger regimefrommen Kirchenleuten einen gewissen Freiraum. Für Persönlichkeiten wie den Bonhoeffer-Schüler Albrecht Schönherr, langjähriger Vorsitzender des 1969 gegründeten Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR – eine realpolitische Konzession an die Realität der deutschen Teilung – diente der Bezug auf Bonhoeffer einerseits zur Legitimation des Faktischen (›Kirche im Sozialismus‹), andererseits zur Wahrung des eng umgrenzten kirchlichen Spielraums (Krötke, 300-305).
Die Zwecknutzung Bonhoeffer für beliebige zeitgenössische Zwecke hat die durch den Mauerfall grundstürzend veränderte historisch-politische Realität überdauert. 1994 deutete Heinrich Süselbeck, ehedem Mitglied im Vorstand des Internationalen Bonhoeffer Komitees, in dem in Kirchenkreisen maßgeblichen Deutschen Pfarrerblatt Bonhoeffers Überlegungen zur ethischen Legitimität des Verteidigungskrieges, zur Tötung eines Feindes, der »bewußt teil[nimmt] an dem Angriff seines Volkes auf das Leben meines Volkes«, in ein Bekenntnis zur »Internationale der Entrechteten und [für] das leidende ›Israel‹« um. Dass er dem Text Zwang antut, räumt der Autor selbst ein: Es bedeute »Schwierigkeiten, eine derart völkisch klingende Äußerung für die Zeit der ›Ethik‹ einzuordnen und positiv zu interpretieren...« Süselbeck diagnostiziert bei Bonhoeffer als Grundhaltung »eine Art von ›kontextuellem Pazifismus‹«.
Als Beleg dient ein Tagebucheintrag (15.10.1942) der damals 18jährigen Verlobten Maria von Wedemeyer, wo sie – ihr Vater kämpfte vor Stalingrad, wo er im Januar 1943 fiel – über verstörende Äußerungen Bonhoeffers zu Gewissensfragen der Kriegsteilnahme, des Widerstands und der Kriegsdienstverweigerung festhält. Der zentrale Passus bezieht sich auf Bonhoeffers Widerstandstätigkeit: »Bejahten sie [die jungen Menschen] den Kriegsgrund, dann gut. Sei dies aber nicht der Fall, so könnten sie dem Vaterland am besten mit einem Wirken an der inneren Front, vielleicht auch einem Wirken gegen das Regime nützen. Es wäre daher ihre Aufgabe so lange, wie möglich vom Dienst in der Wehrmacht fern zu bleiben und sogar unter Umständen, falls sie es nicht ihrem Gewissen vereinbaren können, Kriegsdienstverweigerer zu sein.« Der ›kontextuelle Pazifismus‹ entpuppt sich als Reflexion über das Dilemma junger Menschen in Hitlers Krieg, als Bekenntnis zum Widerstand zum Wohl des Vaterlands, nicht zur ›Internationale der Entrechteten‹ (Süselbeck, 10-12; Bonhoeffer-Zitate in: Ethik, 183, 411, Fn. 61).
2005 berichtete der einstige DDR-Philosoph und heutige ›Linke‹-Theoretiker Michael Brie von einer Veranstaltung auf dem 30. Evangelischen Kirchentag 2005 in Hannover: »Marx traf Jesus, Rosa Luxemburg traf Dietrich Bonhoeffer, Sarah Wagenknecht und Bodo Ramelow trafen [den lateinamerikanischen Befreiungstheologen] Franz Hinkelammert in Diskussionen der Rosa-Luxemburg-Stiftung auf dem Kirchentag. Gemeinsam war: Den Tendenzen hin zu neuer Barbarei, hin zu neuer Herrschaft und Kriegen, hin zum Abbau der zivilisatorischen Errungenschaften der Jahrzehnte nach 1945 gemeinsam zu begegnen – heute und hier, gemeinsam.« (Brie)
Den Materialien der o.g. Kirchentagsveranstaltung beigelegt war ein von dem Theologen Heinrich Fink für das Neue Deutschland geschriebener Artikel. Fink behauptet darin u.a., Bonhoeffer sei aufgrund seines auf dem ökumenischen Treffen in Fanö 1934 vorgetragenen Friedensappells von der Theologischen Fakultät an der Berliner Universität entlassen worden (Fink). In Wirklichkeit schloss ihn der NS-Kirchenminister Hans Kerrl wegen einer nicht genehmigten Reise nach Schweden, die Bonhoeffer mit seinem Finkenwalder Predigerseminar 1936 unternommen hatte, aus der Fakultät aus (Bethge, 68; Schlingensiepen, 215). Im Gedenkjahr 2006 hielt Fink, der anno 1992 als Rektor der Humboldt Universität wegen seiner Rolle als Informeller Mitarbeiter (IM) des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) zurücktreten musste, Vorträge zum Thema Dem Rad in die Speichen greifen – Zum 100. Geburtstag des antifaschistischen Widerstandskämpfers Dietrich Bonhoeffer (www.helle-panke.de/serveDocument.php?id=12&file=2/4/028.pdf.).
Konrad Raiser, von 1993 bis 2004 Generalsekretär des Ökumenischen Rates der Kirchen, extemporierte in einem Gedenkbuch 2005, Bonhoeffer habe »damit begonnen, die Erfahrung der Opfer der modernen Industriegesellschaft ernst zu nehmen, und er hat sich befreit von einem Verständnis der Weltgeschichte, das von der Perspektive der Mächtigen und der Gewinner bestimmt ist.« (Raiser, 54)
Jürgen Moltmann präsentierte im Erinnerungsjahr 2006 eine kurzgefasste Interpretation der Bonhoefferschen biographischen Wegstationen und dessen Reflexionen im Gefängnis. Nach dem Abbruch einer möglichen akademischen Karriere 1933 »[wurde] seine persönliche Existenz zu einer theologischen Existenz. Und seine Theologie wurde zunehmend eine politische Theologie, weil sein persönliches Lebens politisch herausgefordert wurde.«
Immerhin konzediert Moltmann das Unfertige der ›Diesseitigkeits‹-Theologie, über Bonhoeffers Kritik an der Weltflucht der ›Religiösen‹ und der Thesen über die ›volle Diesseitigkeit‹ christlichen Glaubens, gegründet auf die ›Treue zur Erde‹, ein von Bonhoeffer aufgenommenes Nietzsche-Diktum. Bonhoeffer ist Stichwortgeber für eine »authentisch gelebte Theologie«, die weltweit politisch-theologische Wirkung – »in Korea ebenso wie in Nicaragua« – entfalte. Weiter: »Bonhoeffer hat von der ökologischen Krise nichts gewusst. Aber seine Theologie der Treue zur Erde ist eine großartige ökologische Theologie.« Nach derlei zeittypischen Aussagen zu den Aufgaben christlicher Weltrettung, abgeleitet von »Bonhoeffers Erd-Frömmigkeit«, nimmt Moltmann einen zentralen – der Säkularisierungsthese radikal entgegengesetzten – Gedanken Bonhoeffers (»Gott läßt sich aus der Welt herausdrängen ans Kreuz«) über den Charakter der Moderne auf. Bonhoeffer deute die Verdrängung Gottes aus der modernen Welt »christologisch als neues Golgatha.« Aus der von Bonhoeffer vorformulierten Dialektik der ›Gottverlassenheit‹ resultiere der Anspruch auf ›Mündigkeit‹, sprich kritischer, politischer Anteilnahme am Weltgeschehen.
Diesen Thesen über die politisch-theologische Aktualität Bonhoeffers fügt Moltmann eine überraschend unkonventionelle Aussage hinzu: »Menschen sind auch in der modernen Welt nur selten mündig. In der Nazidiktatur und unter der kommunistischen Herrschaft gab es keine Chance, sich seines eigenen Verstandes ohne Anleitung der Partei zu bedienen. Menschen wurden vielmehr extrem unmündig gehalten und durften nur die politisch-ideologischen Sprachregelungen benutzen. Political correctness heißt das heute.« (Moltmann, 1, 3)
In seiner 2005 erschienenen Biographie attestierte Ferdinand Schlingensiepen Bonhoeffer Hellsichtigkeit bezüglich der künftigen Weltsituation, indem er aus einem Brief Bonhoeffers vom September 1941 – drei Monate vor Pearl Harbor – an seinen New Yorker Freund Paul Lehmann zitiert: »Die Entwicklung, von der wir glauben, dass sie in naher Zukunft unausweichlich eintreten wird, bedeutet – wenn Sie mir den Ausdruck verzeihen – Weltherrschaft durch Amerika. ...Auf jeden Fall wird die Macht der USA so überwältigend sein, dass es kaum ein anderes Land geben wird, das ein Gegengewicht darstellen könnte.« (Zit in: Brakelmann, 281, verkürzt 14)
Der Autor bemerkt richtig, dass Bonhoeffer diese Welttendenz »mit Sorge kommen« sah. Sodann schlägt der Biograph als Theologe den Bogen zur Gegenwart wie folgt: »Was er dazu [zur Weltherrschaft durch Amerika] zu sagen hat, fordert zum Weiterdenken auf. Das gilt nicht zuletzt für seine Gedanken über die Schuld und den Umgang mit ihr.« (Ibid. 14) War Bonhoeffer ein Protagonist der reeducation? Warum fragte er dann besorgt nach der Zukunft Europas und Deutschlands im Schatten der künftigen Weltmacht USA? Von welcher ›Schuld‹ ist hier die Rede?
Porträt eines Konservativen
Wird Bonhoeffer vorwiegend als Künder ›moderner‹ politischer Theologie wahrgenommen, so befand schon 1976 Eberhard Bethge, der für die Bonhoeffer-Rezeption maßgebliche Schüler, Freund, Herausgeber und Biograph: »Gewisse Teile [der Ethik], etwa die Ausführungen über Staat und Gesellschaft, erscheinen angesichts der heutigen Probleme einer Umverteilung von Macht wie Dokumente eines vergangenen Konservativismus.« (Bethge I, 117) Knapp dreißig Jahre später resümierte die Biographin Dramm in etwas gewundener Diktion: »Intellektuell unredlich wäre es z.B., die politischen Kategorien zu ignorieren, in denen Bonhoeffer damals dachte bzw. in denen diejenigen dachten, was späterhin als bürgerliche Opposition und, deutlich pointierter, als der ›nationalkonservative Widerstand‹ bezeichnet und in der Folge sehr kontrovers diskutiert wurde.« (Dramm, 237f.)
Entgegen dieser Feststellung entwickelt die Autorin in einer Fußnote die These, bei Bonhoeffer könne »in der Tat von nationalkonservativem Denken...nicht die Rede sein, aber er hat sich faktisch den Widerstandskreisen angeschlossen – die im weitesten Sinn – als die bürgerlich-konservativen zu bezeichnen sind.« Das gedankliche Dilemma löst die Autorin auf spezifische Weise: Es stehe nicht in Frage, »ob Bonhoeffer konservativ, sondern wie konservativ er war; zweifellos lässt sich sein politisches Denken nicht in eine Schablone pressen; es trug jedoch ausgeprägte (wert-)konservative Züge.« (Ibid., 289, Fn. 13) Was das von der Biographin relativierte, heute weithin ignorierte patriotische Motiv betrifft, so fragte Peter Steinbach, Leiter der Gedenkstätte Deutscher Widerstand, etwas unsicher in einer Rezension: »Klingt Bonhoeffer nicht manchmal wie ein Nationalist?« (Steinbach)
Das historisch konkrete Bild des Theologen und Widerstandskämpfers tritt in Bonhoeffers Biographie wie von selbst hervor. In Breslau 1906 als sechstes von acht Geschwistern geboren, wuchs Bonhoeffer ab 1912 in Berlin in einer weitverzweigten bürgerlich-adligen Familie auf. Väterlicherseits von Handwerkern und Ratsherren im württembergischen Schwäbisch-Hall abstammend, zählten über die Mutter Paula von Hase zu den Vorfahren und Verwandten berühmte Namensträger in Militär, Kunst und Theologie wie die Grafen von Kalckreuth, die Grafen von der Goltz sowie die Bildhauerfamilie Cauer. Dank Herkunft, Bildung und Karrrieren zählte die Familie zu den Eliten des Deutschen Reiches.
Zu den Kindheitserfahrungen gehörte der I. Weltkrieg, in dem sein älterer Bruder im April 1918 schwer verwundet zu Tode kam. Gegen extremen Nationalismus, der viele seiner Generationsgenossen im Gefolge von Niederlage, Revolution und Versailles erfasste, war Dietrich Bonhoeffer durch sein intellektuelles Umfeld gefeit. Im Hause des an der Charité wirkenden Psychiatrieprofessors Karl Bonhoeffer herrschte ein christlich-liberaler, patriotisch-nüchterner Geist. Der von Bonhoeffer verehrte älteste Bruder Karl-Friedrich (1899-1957), mit 31 Jahren Professor für Physikalische Chemie, sympathisierte, bei Kriegsende noch verwundet, vorübergehend mit der USPD (Schlingensiepen, 30). Etwa die Hälfte von Bonhoeffers Klassenkameraden entstammte dem jüdischen Bürgertum. Zu seinen Schulfreundinnen zählten Marion Winter, die spätere Gattin des nach dem 20. Juli hingerichteten Peter Yorck von Wartenburg, und die Rathenau-Nichte Ursula Andreae, die mit ihm Hebräisch lernte und später evangelische Theologie studierte. Mit Abscheu reagierte der Sechzehnjährige in einem Brief an seine Zwillingsschwester nach dem Mord an Rathenau (23. Juni 1922), den »ein Schweinevolk von Rechtsbolschewisten« umgebracht habe (Zit. in: Schlingensiepen, 32). Über seine Zwillingsschwester Sabine Leibholz war Bonhoeffer mit dem ›nicht-arischen‹ Gerhard Leibholz, dem späteren Verfassungsrechtler der Bundesrepublik, verschwägert.
Nicht zufällig resultierte aus dem Umfeld der Familie, zu dem in unmittelbarer Nachbarschaft Gelehrte wie der Historiker Hans Delbrück und der Theologe Adolf von Harnack gehörten, in der NS-Ära ein Beziehungsnetz des Widerstands. Mit Hans-Bernd von Haeften – als Angeklagter vor dem Volksgerichtshof kennzeichnete er Hitler als den »großen Vollstrecker des Bösen« – wurden Bonhoeffer und seine Schwester Sabine am 15. März 1921 in der Berliner Grunewaldkirche konfirmiert (Dramm, 168). Nach dem 20. Juli verloren aus der Familie Bonhoeffer und sein Bruder Klaus, Hans von Dohnanyi, Rüdiger Schleicher, Justus Delbrück und Paul von Hase ihr Leben. Arvid Harnack, im Dezember 1942 als Mitglied der Roten Kapelle hingerichtet, war ein angeheirateter Cousin.
Die Aufnahme des Theologiestudiums war für einen Spross des preußischen Bildungsbürgertums nicht ungewöhnlich. Seine geistigen Prägungen erfuhr Bonhoeffer in der Auseinandersetzung mit dem theologischen Liberalismus Harnacks – am 15. Juni 1930 hielt er für den verehrten Lehrer die Trauerrede – mit der Dialektischen Theologie Barths sowie, nicht minder grundlegend, mit der Kulturphilosophie Oswald Spenglers. Hinzu kamen die bei Reisen und Auslandsaufenthalten in Spanien – als Pfarrer in Barcelona 1928/29 fand er Gefallen am Stierkampf –, USA (1930/31) und England (1934/35) gesammelten Eindrücke. Die in den USA dominierende vom amerikanischen Pragmatismus inspirierte liberale Theologie des Social Gospel erschien Bonhoeffer als zu flach. Obgleich von der im deutschen Protestantismus seinerzeit verbreiteten Volkstumstheologie – zu deren Vertretern ist sein Doktorvater Reinhold Seeberg zu zählen – nicht völlig unberührt, war Bonhoeffer dank Hintergrund und Bildungshorizont für die geistigen Zumutungen der Deutschen Christen naturgemäß unzugänglich.
Wie steht es mit der heute geläufigen Vorstellung von Bonhoeffer als dem in der Ökumene gereiften Pazifisten? Als Student in Tübingen meldete sich Bonhoeffer 1923 zu einer zweiwöchigen Ausbildung der Schwarzen Reichswehr. In den Zwischenkriegsjahren, da Bonhoeffer für Frieden und Versöhnung focht, war sein Pazifismus von spezifischer Art. Die Festschreibung der deutschen Alleinschuld am Weltkrieg Versailles empfand er – nicht anders als die große Mehrheit der Deutschen sowie unvoreingenommene Zeitgenossen im Ausland – als psychologische Zumutung und Friedensbelastung. Den Artikel 231 des Versailler Vertrags, den er als 13jähriger memoriert hatte, rezitierte er noch nach Jahren. Gegenüber dem französischen Pastor Jean Lasserre, mit dem er als Fellow am Union Theological Seminary 1930/31 in New York Freundschaft schloss und dessen pazifistische Überzeugungen ihn selbst über Jahre hin prägten, wies er das Konzept deutscher Alleinschuld am Weltkrieg zurück.
Umgekehrt erregte ihn die nationalistische Engstirnigkeit, mit der protestantische Theologen in Deutschland wie Emanuel Hirsch (Göttingen) oder Paul Althaus (Erlangen) versöhnliche Erklärungen aus dem Ausland nicht zur Kenntnis nehmen wollten. Auf einer deutsch-französischen Jugendkonferenz Mitte Juli 1932 erinnerte er im Hinblick auf die Wahlerfolge Hitlers an die Intransigenz der Alliierten in Versailles – »ein Standpunkt den er noch während des Zweiten Weltkriegs, als er für den deutschen Widerstand in Genf war, vertreten hat.« (Schlingensiepen, 105) Bei den Wahlen am 31. Juli 1932 brach er eine Jugendfriedenskonferenz in der Tschechoslowakei vorzeitig ab, um – als Protestant – für das katholische Zentrum zu stimmen, das er als Bollwerk gegen die NSDAP und die mit ihr in der Harzburger Front verbündete DNVP betrachtete. Auch bei den noch halbwegs freien Wahlen am 5. März 1933 votierte er für die Partei, deren Reichstagsfraktion dann am 23. März 1933 in der Krolloper für das »Ermächtigungsgesetz« stimmte (Ibid., S. 31, 37, 85, 90f., 108; Bethge, 45).
Der christliche Abendländer als deutscher Patriot
Über die vom Nationalsozialismus ausgehenden Gefahren hatte sich Bonhoeffer nie Illusionen gemacht. Über Umsturzpläne, die erstmals während der ›Fritsch-Krise‹ im Frühjahr 1938 ventiliert wurden, war Bonhoeffer über seinen Schwager Hans von Dohnanyi, damals noch Referent des deutsch-nationalen Justizministers Franz Gürtner (1881-1941), im Bilde. Vermittelt durch den ins Wehrmachtsamt Ausland/Abwehr versetzten Dohnanyi agierte Bonhoeffer seit Herbst 1940, womöglich bereits seit Oktober 1939, als V-Mann für Kontakte ins feindliche Ausland in der Münchner Dienststelle des Amtes Canaris (Dramm, 28-35; Schlingensiepen, 252-257, 260-263).
Im Sommer 1939 hatte Bonhoeffer den von Reinhold Niebuhr vermittelten Aufenthalt in den USA nach wenigen Wochen abgebrochen. »Bei allem fehlt mir Deutschland, die Brüder... Das kurze Gebet, in dem wir an die deutschen Brüder dachten, hat mich fast überwältigt... Ich will für den Kriegsfall nicht hier sein... Seit ich auf dem Schiff bin, hat die innere Entzweiung über die Zukunft aufgehört«, notierte er in seinem Tagebuch während der Rückkehr von New York (Zit. im Geleitwort von Hans Rothfels in: Bonhoeffer I, S. 7). Im Juli 1939 schrieb er bei seinem Zwischenaufenthalt in England, den er auch zum Besuch seiner mit Leibholz emigrierten Schwester nutzte, aus an Niebuhr: »Hier in Dr. Coffins Garten sitzend habe ich die Zeit gehabt, über meine Lage und die Lage meiner Nation nachzudenken im Gebet und Gottes Willen für mich zu klären. Es war ein Fehler von mir, nach Amerika zu kommen. Ich muß diese schwierige Periode in unserer nationalen Geschichte in Deutschland durchleben. Ich werde kein Recht haben, am Wiederaufbau christlichen Lebens nach dem Kriege in Deutschland mitzuwirken, wenn ich die Prüfungen dieser Zeit nicht mit meinem Volk teile. ... Die Christen in Deutschland stehen vor der fürchterlichen Alternative, entweder in die Niederlage ihrer Nation einzuwilligen, damit die christliche Zivilisation weiterleben kann, oder in den Sieg einzuwilligen und damit unsere Zivilisation zu zerstören. Ich weiß, welcher dieser Alternativen ich wählen muß, aber ich kann diese Wahl nicht treffen, während ich mich in Sicherheit befinde.« (Zit. in: Dramm. S. 16)
Der Patriotismus Bonhoeffers entsprang, frei von nationalistischer Bornierung, seinem durch Herkunft, Bildung und christlichen Glauben begründeten Selbstverständnis eines abendländischen Deutschen. Der Motivstrang lässt sich über den gesamten Zeitraum der Widerstandsarbeit und der Gefängnisjahre verfolgen. In einem der Briefe an einen jungen Menschen (Christoph Bethge, geboren 1920) vom 17. November 1941 erinnert Bonhoeffer an seine Perzeptionen und Hoffnungen als junger Student anno 1926: »Damals erholte sich Europa gerade so allmählich wieder von der Armut, der Zerrissenheit, dem Haß, den der Weltkrieg gebracht hatte. Deutschland begann sich in der Welt wieder eine Stellung zu schaffen durch Arbeit, Wissenschaft, Geist. Alte Vorurteile der Völker gegeneinander wichen einer in den abendländischen Völkern auflebenden Hoffnung auf ein besseres, fruchtbareres Zusammenleben in friedlichem Geist. Die besten Kräfte der Völker rangen darum, den Frieden zu gewinnen – der freilich von vornherein schwer belastet war. Man spürte so etwas wie einen abendländische Aufgabe, ja Sendung in der Welt.« (Bonhoeffer I., 11; Ethik, 464)
Der Geburtstagsbrief vom 18. Juni 1942 »an den jungen Freund C.«, den Bonhoeffer während einer Zugfahrt verfasste, liest sich wie ein hymnisches Bekenntnis zu Deutschland als Kernland des Abendlandes: »...Ich lebe ein Leben, das dem Deinigen kaum in etwas ähnelt und das dir fremd sei muß. Und doch, gerade diese lange Fahrt durch unser schönes Land, die Blicke auf die Dome von Naumburg, Bamberg, Nürnberg, auf die bestellten und teils so kärglichen Felder, der Gedanke, daß dies alles Arbeitsfeld und Freude für viele, viele Generationen gewesen ist, geben mir die Zuversicht, daß hier doch eine gemeinsame Aufgabe, eine gemeinsame Hoffnung da ist, also etwas, was die Kluft der Generationen überwindet. [...] Was soll ich da heute andere Wünsche für Dich haben, als daß Du lernst, diese kleinen persönlichen Dinge, Wünsche und Beschwerden nicht allzu wichtig zu nehmen, sondern Dich an Deiner Stelle und in den Dir gegebenen Möglichkeiten als ein Glied in der langen Folge dieser Geschlechter zu sehen, die für ein schönes, echtes und – frommes Deutschland gelebt haben und es noch tun?« (Ethik, 465f.; Bonhoeffer I, 14; )
Elitäre Haltung und patriotischer Schmerz sprechen aus einem 1943 verfassten Dramenfragment. Bonhoeffer lässt einen Freund des Protagonisten Christoph aus dessen Tagebuch rezitieren: »Ich spreche zu Euch um die großen Worte, die den Menschen gegeben sind, vor dem Mißbrauch zu schützen. Sie gehören nicht in den Mund der Masse und in die Überschriften der Zeitungen, sondern in die Herzen der wenigen, die sie mit ihrem Leben hüten und schützen. [...] die mit ihrem Leben, ihrer Arbeit und ihren Häusern Güter echter Werte sind, wenden sich mit Widerwillen von den tönenden Worten, mit denen man die Masse zu Propheten machen will. Welcher Gutgesinnte bringt heute noch die besudelten Worte Freiheit, Brüderlichkeit, ja das Wort Deutschland über seine Lippen? Er sucht sie in der Stille der Heiligkeit, dem nur der Demütige und Gläubige nahen darf. [...] Um das stille Heiligtum der großen Güter wird sich dann ein neuer Adel bilden. Nicht Geburt und nicht Erfolg werden ihn begründen, sondern Demut, Glaube und Opfer.« (ibid., 51f.) Ein unbefangener Leser könnte aus derlei Texten den Geist Stefan Georges heraushören.
Bonhoeffers Patriotismus, seine Liebe zu einem »anderen Deutschland« tritt nicht zuletzt in den gemeinhin für das ›religionslose‹, politische Christentum beanspruchten Texten aus dem Gefängnis hervor. Im Gefängnisbrief vom 9. 3. 44 reflektiert Dietrich Bonhoeffer über die vom ›klassischen‹ Ideal (»Raffael, Mozart«) sich abhebende spezifisch abendländische Heiterkeit, die »Walther von der Vogelweide, der Bamberger Reiter, Luther, Lessing, Rubens, Hugo Wolf, Karl Barth« zur Anschauung brächten. Aus der Kaiseridee des Mittelalters sieht er die »›christliche‹, aber antiklerikale ›Weltlichkeit‹« des 13. Jahrhunderts hervorgehen, die sich in »Walther, [in den] Nibelungen, [im] Parzifal...[im] Naumburger und Magdeburger Dom« manifestiere. Am 16. 7. 44 bezieht sich Bonhoeffer in einer Geschichtsreflexion auf Heinrich IV. und Canossa als Geburtsstätte der abendländischen Freiheit – ein Gedanke, der erstmals von dem im Brief unerwähnten) Eugen Rosenstock-Huessy (»Die europäischen Revolutionen und der Charakter der Nationen«, 1931) formuliert wurde (W. u. E., 117f., 175.).
In dem vor Weihnachten 1943 – Bonhoeffers Hoffnung auf Freilassung oder wenigstens Hafturlaub hatte sich nicht erfüllt – geschriebenen Brief ist zu lesen: »Du mußt wissen, daß ich noch keinen Augenblick meine Rückkehr 1939 [aus den USA] bereut habe, noch auch irgend etwas, von dem, was dann folgte. [...] Und dass ich jetzt sitze..., rechne ich auch zu dem Teilnehmen am Schicksal Deutschlands, zu dem ich entschlossen war.« (W. u. E., 98)
Im Mai 1944 verfasste Bonhoeffer Gedanken zum Tauftag von D.W.R.. Er spricht zu dem Täufling (dem Sohn Eberhard Bethges) von dessen Namensgeber, »der zur Zeit das Geschick vieler anderer guter Deutscher und evangelischen Christen teilt« und »der aber mit großer Zuversicht und frohen Hoffnungen in Deine Zukunft sieht«. Nach kulturkritisch eingefärbten Reflexionen über einstige und künftige Existenzbedingungen (»Die Zeit der Großstädte auf unserem Kontinent scheint nun abgelaufen zu sein.«), über christliche Glaubensinhalte und Lebensaufgaben heißt es: »Ihr, die Ihr in einem Weltkrieg aufwachst, den 90 Prozent aller Menschen nicht wollten und für den sie doch Gut und Leben lassen, erfahrt von Kind auf, daß Mächte die Welt bestimmen, gegen die die Vernunft nichts ausrichtet.« Antihegelianische Geschichtsskepsis ist verknüpft mit Aussagen, die bundesrepublikanische Zeithistoriker nur befremdlich finden müssen (W.u.E., 146f., 148f., 151).
Schuldbekenntnis und patriotisches Zeugnis
In der Wahrnehmung Bonhoeffers als des frühesten Protagonisten eines Schuldbekenntnisses des deutschen Protestantismus spielen dessen Gespräche mit dem Bischof von Chichester George Bell im schwedischen Sigtuna am 31. Mai 1942 eine zentrale Rolle. Raiser schreibt: »Aber es ging Bonhoeffer nicht um einen billigen Kompromiss. Bell erinnerte sich später, dass Bonhoeffer ihm gesagt habe, ›Wir wollen der Buße nicht entfliehen. Unsere Handlung muss als Sühneakt verstanden werden.‹« (Raiser, 42) Selbst in der von Bell überlieferten Version bezieht sich im erläuternden Satz der Begriff ›Sühne‹ auf die angestrebte Befreiungstat.
Es ist das Verdienst der Biographin Dramm, die Details des als »historisches Datum« theologisch überhöhten Treffens in Sigtuna aufgehellt zu haben (Dramm, 165-192). Bonhoeffer war im Anschluss an die eingangs erwähnte Schweizreise mit einem von Adam von Trott besorgten Kurierausweis von Hans Oster und Dohnanyi nach Stockholm beordert worden, um – im Auftrag von Ludwig Beck – die britische Regierung über Umfang, Ziele und Namen (!) in Kenntnis zu setzen. Überraschend nahm an dem Treffen mit Bell in Sigtuna – und am folgenden Tage in Stockholm – auch Hans Schönfeld, dem als Vertreter des Kirchlichen Außenamts sowie wegen dessen früherer Ablehnung der Bekennenden Kirche Bell noch gewisse Vorbehalte entgegenbrachte, anwesend. Schon zuvor hatte Schönfeld ihm ein Dossier überreicht und auf seine Bitte noch einmal überarbeitet. Von Bell in die Form eines Memorandum of Conversations and Statement by a German Pastor gebracht, gelangte das Dokument in die Hände von Außenminister Anthony Eden sowie an den amerikanischen Botschafter. Nach dem einzigen Gespräch mit dem Lord Bishop und Oberhaus-Mitglied Bell am 30. Juni 1942 legte Eden das Schriftstück im Foreign Office ad acta. Eine Woche später notierte er eine Woche auf einem weiteren Brief Bells: »I see no reason whatsoever to encourage this pestilent priest.« (Zit. ibid., 187)
George Bell, seit 1933 mit Bonhoeffer befreundet, hatte seinem Freund geraten, mit ihm nach England zu gehen, was dieser entschieden ablehnte. Über das Treffen in Sigtuna existieren aus seiner Feder drei zu sehr unterschiedlicher Zeit (1942, 1945 und 1957) fixierte Versionen. Der erste Tagebucheintrag über Bonhoeffers angebliche Distanz zu Schönfeld sowie zum Thema christlicher Buße erscheint weit weniger dramatisch als die »überwiegend durch die Optik Bells sowie später durch die Optik des Biographen Bethge betrachtete« Episode. Um Bonhoeffers selbst willen, so schließt Dramm, sei darauf zu achten, dass »aus der Sigtuna-Historiographie nicht eine Sigtuna-Hagiographie wird.« (Ibid., 188, 191f.)
Die Schuld-Thematik hat Bonhoeffer als Christen und Theologen ohne Frage bewegt.
Das in den ›Ethik‹-Manuskripten aufgefundene ›Schuldbekenntnis‹ bildet ein Dokument von erschütternder Eindringlichkeit. Es benennt die Schuld der Kirche in der Mißachtung ihres ›Wächteramtes‹ gegenüber dem Nazi-Regime (»Sie war stumm, wo sie hätte schreien müssen, weil das Blut der Unschuldigen zum Himmel schrie.« »Sie ist schuldig geworden am Leben der schwächsten und wehrlosesten Brüder Jesu Christi.«) sowie im Versagen vor der Anklage der Häresie der Deutschen Christen (»Die Kirche bekennt, den Namen Jesu Christi mißbraucht zu haben...«).
Der Text schließt mit einem Passus, der, nach einer in zehn 10 Gebote gefassten Anklage des historischen Versagens der deutschen Kirche, die Schuldproblematik in die transzendente, zeitlos christliche – mithin religiöse – Dimension rückt: »Indem die Kirche die Schuld bekennt, entbindet sie die Menschen nicht vom eigenen Schuldbekenntnis, sondern sie ruft sie in die Gemeinschaft des Schuldbekenntnisses hinein. Nur als von Christus gerichtete kann die abgefallene Menschheit vor Christus bestehen. Unter dieses Gericht ruft die Kirche alle, die sie erreicht.« Für den Begriff »die abgefallene Menschheit« stand zuvor im Manuskript »die abendländische Menschheit« (Bonhoeffer I, 42-44; Ethik, 129-133, 133, Fn. 31).
Vollständig gelesen, offenbart die Schuldanklage noch einen anderen Charakter als den eines christlichen Appells zu Buße und Sühne. Es enthält Bonhoeffers Analyse und Kritik der im Nazismus zur Erscheinung gebrachten Massengesellschaft. Er beklagt die Schuld der Kirche »an dem Verlust des Feiertages, an der Verödung ihrer Gottesdienste, an der Verachtung der sonntäglichen Ruhe«. Die Kirche sei »der Verachtung des Alters und der Vergötterung der Jugend« nicht entgegengetreten, und »hat die göttliche Würde der Eltern gegen eine revolutionäre Jugend nicht zu verkündigen gewagt.« Bonhoeffer macht die Kirche für die Zerstörung der Sexualmoral mitverantwortlich, »für die Auflösung aller Ordnung im Verhältnis der Geschlechter zueinander.«
Das Schuldbekenntnis ist zudem in seinem historischen Kontext zu lesen. Es steht in Parallele zu dem Entwurf einer Kanzelabkündigung, den Bonhoeffer auf Bitte seines Schwagers und Mitverschwörers Dohnanyi, der wiederum einem Auftrag des Generalobersten Beck nachkam, Ende 1942 ausarbeitete (Nachwort zu Bonhoeffer I, 62). Darin wird das Schuldbekenntnis mit neuer Hoffnung aus dem angestrebten Umsturz verknüpft: »Gott hat seine Kirche nicht vergessen. In seiner unergründlichen Barmherzigkeit ruft er seine ungetreuen und geplagten Knechte zur Umkehr, zur Erneuerung des Lebens nach seinem heiligen Willen. Er stellt uns zugleich vor eine Aufgabe sondergleichen.« (Ibid., 47)
Unzeitgemäßes Vermächtnis
Ende Juni 1944 besuchte Bonhoeffers Onkel Paul von Hase, Stadtkommandant von Berlin, ihn seiner Zelle in Tegel. »Dabei ließ er 4 Flaschen Sekt auffahren, was in den Annalen dieses Hauses wohl einmalig ist, und benahm sich so großartig, wie ich es ihm nie zugetraut hätte.« (W.u.E., 171) Optimistisch im Blick auf das bevorstehende Attentat in der ›Wolfsschanze‹ schloss Bonhoeffer eine Woche später seinen mit philosophisch-theologischen Assoziationen gefüllten Brief an Eberhard Bethge: »Wir werden jetzt viel an unsere gemeinsame Reise im Sommer 1940 denken müssen, meine letzten Predigten! – 9.7.[1944]. Nun Schluß! Ich denke, wir sehen uns bald wieder!« (W.u.E., 174; Schlingensiepen, 258)
Bonhoeffer glaubte bis zuletzt, bis zum Scheitern des 20. Juli, an das Gelingen der deutschen Selbstbefreiung. Seine Hellsichtigkeit gegenüber dem Nationalsozialismus unterschied ihn von früheren Anhängern der Bewegung wie Martin Niemöller, dem Protagonisten und Mitstreiter in der Bekennenden Kirche. Den Kampf gegen das Regime betrieb er mit Konsequenz und Klugheit. Im September 1939 bestärkte er Niemöller auf dessen Anfrage, sich aus dem KZ heraus per Brief an Hitler zur Marine zu melden (Ibid., 250). Als einer der ersten befürwortete er ein Attentat als Voraussetzung eines erfolgreichen Umsturzes.
Innere Freiheit und geistige Schärfe, gewonnen durch das Prisma der Theologie, erlaubten es Bonhoeffer, Sätze zu formulieren, die, unentbehrlich zum Verständnis des Aufstiegs des Nazismus, heute – in der impliziten Zurückweisung des protestantisch eingefärbten, zivilreligiös genährten Schuldkomplexes – unter das Verdikt des ›Revisonismus‹ fielen: »...der tiefste Grund der ethischen Verwirrung [im gegenwärtigen Deutschland]«, schrieb er im September 1941 in einer Stellungnahme zu einem Buch des in der Ökumene tätigen William Paton über eine neue Friedensordnung (The Church and the New Order), »liegt vielmehr in der Tatsache, daß die höchste Ungerechtigkeit, wie sie im nationalsozialistischen Regime verkörpert ist, sich in das Gewand relativer historischer und sozialer Gerechtigkeit kleiden konnte. ...es konnte nur noch eine kleine Schar sein, die gerade hier [sc. in Hitler] den Satan in der Gestalt des Engels des Lichtes erkannte.« (Ethik, S. 63, Fn.7) Laut Raiser, dem am Bild des übernationalen Christen gelegen ist, handelt es sich um Bonhoeffers »letzte ausdrückliche Äußerung in ökumenischem Kontext«. (Raiser, S. 42)
Dreh- und Angelpunkt aller theologisch-philosophischen Reflexionen war Bonhoeffers illusionslose Wahrnehmung der »abendländischen Gottlosigkeit«, des Säkularisierungsprozesses der Moderne. Den im Nationalsozialismus evidenten Nihilismus begriff er als Folgeerscheinung der in der Französischen Revolution aufgebrochenen Zerstörungskräfte der abendländischen Kultur, der »Befreiung der Masse« und des Nationalismus (Ethik, S. 112-115). Es sind dies die zutiefst »konservativen« Grundgedanken in Bonhoeffers ›Ethik‹-Manuskripten. (Sie bedürfen längst einer unvoreingenommenen, nicht-theologischen, ideengeschichtlichen Betrachtung.) Kulturpessimistisch eingefärbte Weltwahrnehmung mündete bei Bonhoeffer – entgegen der häufig zitierten Polemik gegen die ›Religiösen‹ selbst ein homo religiosus par exellence – nicht in ›innere Emigration‹ oder religiösen Pessimismus (wie etwa bei dem von Bonhoeffer geschätzten Dichter Reinhold Schneider), sondern in entschlossenes Handeln. Insofern die geschichtsphilosophisch grundierte, theologisch antiliberale, konservativ-christliche Weltsicht einherging mit patriotischen, in deutscher Kultur und Geschichte verwurzelten Motiven, gehört Bonhoeffer zu den Exponenten des deutschen national-konservativen Widerstands.
Von der Persönlichkeit und vom Vermächtnis des christlichen Widerstandsmannes Bonhoeffer sind die »vaterländischen Gefühle« (Peter Yorck von Wartenburg) nicht wegzudenken. Die zitierten Texte gestatten keine Fehlinterpretation, auch wenn sie nicht in die ideologische Landschaft eines zeitgenössischen Multikulturalismus passen.
Literatur:
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BETHGE, EBERHARD : Zwischen Bekenntnis und Widerstand: Erfahrungen in der Altpreußischen Union, in: Der Widerstand gegen den Nationalsozialismus, hrsg. v. Jürgen Schmädeke und Peter Steinbach, München 19862, 281-294
BIOGRAPHISCH-BIBLIOGRAPHISCHES KIRCHENLEXIKON, http://www.kirchenlexikon.de/
BONHOEFFER, DIETRICH: Ich habe dieses Volk geliebt. Zeugnisse der Verantwortung, München 19642 (= Bonhoeffer I)
DERS.: Widerstand und Ergebung, Gütersloh 198513, S. 98 (= W.u.E.)
DERS.: Ethik, hrsg. v. Ilse Tödt, Heinrich Tödt (†), Ernst Feil und Clifford Green, Gütersloh 19982 (= Ethik)
BRIE, MICHAEL: Marx trifft Jesus.http://www.rosalux.de/cms/index.php?id=6660&0=
DRAMM, SABINE: V-Mann Gottes und der Abwehr? Dietrich Bonhoeffer und der Widerstand, Gütersloh 2005
FINK, HEINRICH: Im Namen Christi die Waffen aus der Hand. Von Buchenwald nach Flossenbürg - vor 60 Jahren wurde der Theologe Dietrich Bonhoeffer ermordet, in: Neues Deutschland v. 9. April 2005
GRAF, FRIEDRICH WILHELM: Suche nach letzter Gewißheit. Dietrich Bonhoeffers Glauben und Widerstand, in: FAZ, 15.04.1995, Bilder und Zeiten, S. B 2
KRÖTKE, WOLF : Dietrich Bonhoeffer als Theologe der DDR. Ein kritischer Rückblick, in: Trutz Rendtorff (Hg.) : Protestantische Revolution? Kirche in der DDR: Ekklesiologische Voraussetzungen, politischer Kontext, theologische und historische Kriterien, Göttingen 1993, 295-310.
MOLTMANN, JÜRGEN: Gegen die Verächter des Leibes, in: Zeitzeichen. Evangelische Kommentare zu Religion und Gesellschaft, Nr. 1/06, http://www.bonhoeffer.ch/artikel/gegen-die-veraechter-des-leibes/.
RAISER, KONRAD: Bonhoeffer und die ökumenische Bewegung. Historische Rekonstruktion und Bedeutung für heute, in: Günther Brakelmann- Traugott Jähnichen, Dietrich Bonhoeffer – Stationen und Motive auf dem Weg in den politischen Widerstand, Münster 2005, 35-55.
SCHLINGENSIEPEN, FERDINAND: Dietrich Bonhoeffer 1906-1955. Eine Biographie, München 20062.
SHERMAN, FRANKLIN, Art. Dietrich Bonhoeffer, in: Encyclopedia Britannica (CD-Ausgabe 1996).
SÖLLE, DOROTHEE: Im Hause des Menschenfressers. Texte zum Frieden, Reinbek bei Hamburg 1981
STEINBACH, PETER: Seelsorger des Widerstands, in: FAZ v. 12.10.2005
STROHM, CHRISTOPH: Der Widerstandskreis um Dietrich Bonhoeffer und Hans von Dohnanyi. Seine Voraussetzungen zur Zeit der Machtergreifung, in: Der Widerstand gegen den Nationalsozialismus, hrsg. v. Jürgen Schmädeke und Peter Steinbach, München 19862, 295-313.
SÜSELBECK, HEINER: Dietrich Bonhoeffers Stellung zum Krieg 1940, in: Deutsches Pfarrerblatt 94, H.1 (Jan. 1994), 10-12.