von Herbert Ammon

Die Erinnerung an die ›Weiße Rose‹, an den Widerstand der Geschwister Scholl und ihrer Freunde, gehört zu den historischen Gedenkriten der Bundesrepublik Deutschland. Doch wie Geschichtsschreibung allgemein stets im jeweiligen Zeithorizont stattfindet, so unterliegt Gedenken – damit auch die Geschichte der ›Weißen Rose‹ – dem zeitlich entrückten Deutungsinteresse der politischen Gegenwart.

Im öffentlichen Bewusstsein sind etwa bis heute – im Unterschied zu den Geschwistern Scholl, Kurt Huber sowie Hans Leipelt, dem Verbindungsmann zum Münchner Widerstandskreis – die Namen von sechs Angehörigen des Hamburger Zweiges der ›Weißen Rose‹, die noch bis kurz vor Kriegsende im Gefängnis und in Konzentrationslagern zu Tode kamen, wenig präsent. Die Hamburger Widerstandsgruppe um den Buchhändler Felix Jud sowie den linksorientierten Heinz Kucharski war im Herbst 1943 durch Verrat eines französischen Gestapospitzels aufgeflogen. Dem am 17. April 1945 vom ›Volksgerichtshof‹ Hamburg zum Tod verurteilten Heinz Kucharski gelang kurz vor seiner Exekution bei einem Bombenangriff die Flucht.

In der DDR gehörte – außer der Glorifizierung des kommunistischen Widerstands – der Bezug auf ›progressive‹ Widerstandsgruppen zum antifaschistischen Selbstbild der DDR. So fand in der Phase der Staatsgründung 1948/49 die Erinnerung an die ›Weiße Rose‹ Ausdruck in zahlreichen ›Geschwister-Scholl‹-Benennungen von Straßen und Bildungseinrichtungen. Andererseits erwies sich diese Traditionspflege für das SED-Regime als zwiespältig, da sich um 1950 an verschiedenen Orten, etwa in Eisenberg/Thüringen, oppositionelle Jugendgruppen bildeten, die sich in Flugblättern auf die ›Weiße Rose‹ beriefen.

Immerhin konnte die DDR mit dem Indologen Heinz Kucharski, der in Leipzig als Verlagslektor – und als Stasi-IM im Literatenzirkel um Wolfgang Hilbig und Siegmar Faust – wirkte, ein Mitglied des Hamburger Zweiges der ›Weißen Rose‹ vorweisen. 1961, im Jahr des Mauerbaus, erschien eine Briefmarke mit den Porträts von Hans und Sophie Scholl. Nicht auszuschließen ist, dass die SED, damals noch unter nationalpatriotischen Vorzeichen, auch Gemeinsamkeiten mit dem nationalpazifistischen Vater Robert Scholl, Gründungsmitglied in Gustav Heinemanns Gesamtdeutscher Volkspartei (GVP), bekunden wollte. Der Katechetin Gisela Schertling, der letzten Geliebten Hans Scholls, wurde noch 1989 von Erich Honecker eine Ehrenmedaille zum 40. Jahrestag der DDR verliehen.

Im Westen prägte lange das erstmals 1952 publizierte Buch Inge Scholls das Bild der ›Weißen Rose‹. Die mit Otl Aicher, der Hans Scholls Interesse für den Reformkatholizismus geweckt hatte, verheiratete Schwester war bestrebt, die anfängliche NS-Begeisterung der Scholl-Kinder nur in kurzen Strichen anzudeuten. Im Zentrum ihres Erinnerungsbuches stand die christlich-humanistische Überzeugung der Geschwister. Zum Damaskus-Erlebnis ihres Bruders erklärte sie dessen kränkende Erfahrung als HJ-Fähnleinführer auf dem NSDAP-Parteitag 1935 in Nürnberg. Die homosexuelle Delikte nach §175 betreffenden Details des Prozesses vor dem Sondergericht Stuttgart Anfang Juni 1938 blieben ausgespart.

Ebensowenig fand die enge Verbindung der Familie Scholl zu der Richard Scheringers Erwähnung. Scheringer war als Leutnant im sogenannten ›Ulmer Reichswehrprozess‹ 1930 vor dem Leipziger Reichsgericht – wo Hitler mit dem gewaltsame Umsturzabsichten verneinenden ›Legalitätseid‹ einen großen Auftritt hatte – wegen nationalsozialistischer Betätigung in der Reichswehr zu 18 Monaten Festungshaft verurteilt worden. In der Haft war er – signalisiert durch den spektakulären Eintritt in die KPD – vom Nationalsozialisten zum ›Nationalkommunisten‹ konvertiert. Laut Eckard Holler, dem Iniatiator des10. Tübinger Festivals des Clubs Voltaire ›Für die Geschwister Scholl und ihre Freunde‹ (1984), gingen die Auslassungen auf die Intervention der amerikanischen Besatzungsbehörde zurück, für die in den Jahren des Kalten Krieges derlei Aspekte des deutschen Widerstands nicht ins Konzept passten. (Auskunft von E. Holler)

In einem anno 2005 publizierten Dossier der Bundeszentrale für politische Bildung (BpB) wird das Vermächtnis der ›Weißen Rose‹, die Rolle der Schwester Sophie wie folgt präsentiert: »Die Geschichte von Sophie Scholl... ist ein Symbol für beispielhafte Zivilcourage und Widerstand gegen die Hitler-Diktatur – nicht nur im politischen, sondern auch im alltäglichen Leben.« (https://www.bpb.de/themen/nationalsozialismus-zweiter-weltkrieg/weisse-rose/ 24.02.2005). In derlei Formulierung wird die historische Situation des totalitären NS-Verbrechensregimes in die Gegenwart des 21. Jahrhunderts übertragen, der Märtyrertod der jungen Widerstandskämpferin wird zum historischen Modellfall von ›Zivilcourage‹ erklärt.

Nicht zufällig existieren in München heute zwei konkurrierende Institutionen: die 1987 von Inge Aicher-Scholl, Anneliese Knoop-Graf, Hildegard Hamm-Brücher und anderen gegründete Weiße Rose Stiftung e.V. und das 2003 in der Abtei St. Bonifaz von Hinterbliebenen Alexander Schmorells, Kurt Hubers sowie anderen gegründete Weiße Rose Institut e.V. Während erstere eine explizit politische, demokratiieförderliche Zielrichtung verfolgt (https://www.weisse-rose-stiftung.de/paedagogisches-angebot/) zielt letztere auf eine »Gesamtwürdigung des Widerstandes der Weissen Rose« und auf deren wissenschaftliche Aufarbeitung. (https://weisserose.info/unsere-zielsetzung).

An der Stelle im Lichthof der Münchner Universität, von wo die Geschwister die Flugblätter herabregnen ließen, erinnert seit 1946 eine Gedenktafel an die sieben Mitglieder der Widerstandsgruppe, die in München-Stadelheim mit dem Fallbeil hingerichtet wurden. Unverkennbar steht indes seit längerem – als ›Ikone des Widerstands‹ im zeittypischen Sinne eines feminist turn – Sophie Scholl im Mittelpunkt des Gedenkens. 2003 wurde eine Marmorbüste der jüngeren Schwester Hans Scholls in der vom bayerischen König Ludwig I. errichteten deutschen Ruhmeshalle Walhalla über der Donau bei Regensburg aufgestellt. Zwei Jahre später enthüllte die für ihre Rolle in ›Sophie Scholl – die letzten Tage‹ ausgezeichnete Schauspielerin Lena Jentsch in der Denkstätte Weiße Rose im Lichthof eine Bronzebüste von Sophie Scholl. (https://www.weisse-rose-stiftung.de/wp-content/uploads/2018/07/Denkm%C3%A4ler-Wei%C3%9Fe-Rose-an-der-LMU.pdf)

Alexander Schmorell

Vor diesem Hintergrund öffnet die Biographie von Alexander Schmorell, zusammen mit Hans Scholl für die ersten vier Flugblätter Juni/Juli 1942 verantwortlich, den Blick für historisch relevante Fakten. »Ohne die Freundschaft zwischen Hans Scholl und Alexander Schmorell hätte es die Weiße Rose nicht gegeben«, schreibt der bündische Autor Fritz Schmidt (›Fouché‹) unter Bezug auf den Weiße-Rose-Forscher Armin Ziegler (Schmidt, 77).

Schmorell, geboren 1917 in Orenburg im südlichen Ural, war der Sohn des deutsch-russischen Arztes Hugo Schmorell, verheiratet mit der 2018 gestorbenen Priestertochter Natalja Wwedenskaja. 1921 emigrierte Schmorell mit seiner Familie nach Deutschland. In der Orenburger Kathedrale getauft, wurde Alexander (›Schurik‹) von seiner russischen Kinderfrau im orthodoxen Glauben erzogen. 1933, im Jahr der Machtübernahme Hitlers, trat Alexander mit seinem Halbbruder Erich Schmorell dem deutschnationalen Jungstahlhelm bei. Im Zuge der ›Gleichschaltung‹ wurde er Mitglied der Reiter-SA. Die Einberufung zm Heer stürzte ihn in einen Gewissenskonflikt, da er keinen Treueeid auf Hitler leisten wollte. (Schmidt, 77-79; Ph.Ammon, 70).

Mit Schmorell sind die weniger bekannten Namen der Widerstandsgruppe verknüpft. Einer von ihnen, aus einer armenisch-russischen Emigrantenfamilie stammend, war Nikolaj Nikolaeff-Hamazaspian (1921–2013). Er überließ Alexander Schmorell vor dessen gescheiterter Flucht seinen bulgarischen Pass. Von ihm stammt der Hinweis, die ›Weiße Rose‹ stehe in der Legende vom Großinquisitor in den Brüdern Karamasow als Zeichen der Auferstehung. (Ph. Ammon, 70) Lange galt als ausgemacht, dass Hans Scholl die Kennzeichnung der Flugblätter dem Titel des Romans Die Weiße Rose (1929), verfasst von dem legendenumrankten linken Schriftsteller B. Traven, entnommen habe. Hingegen erklärte Hans Scholl im Gestapo-Verhör, »der Name ›die weiße Rose‹ ist willkürlich gewählt. […] Es kann sein, daß ich gefühlsmäßig diesen Namen gewählt habe, weil ich damals unmittelbar unter dem Eindruck der spanischen Romanzen von Brenatano ›Die Rosa Blanca‹ gestanden habe«. (Zit. in: https://de.wikipedia.org/wiki/Die_wei%C3%9Fe_Rose) Beide Aussagen widersprechen der Tendenz, die ›Weiße Rose‹ in den Rahmen säkularer Zvilreligion zu stellen. Vielmehr gewinnt – nicht zuletzt durch die Heiligsprechung Schmorells als ›Neumärtyrer Alexander von München‹ durch die Russisch-Orthodoxe Kirche – einen transzendenten Sinn.

Der zweite Weiße-Rose-Prozess

Hans Scholl, Sophie Scholl und Christoph (Christl) Probst, der über seinen Schulfreund Schmorell zu der Gruppe gestoßen war, wurden am 24. Februar vom ›Volksgerichtshof‹ unter dem aus Berlin angereisten Präsidenten Roland Freisler zum Tode verurteilt und am selben Tag hingerichtet. Am 19. April 1943 standen Schmorell, Kurt Huber und Willi Graf als Hauptangeklagte im zweiten Weiße-Rose-Prozess vor Freisler. Mitangeklagt waren Traute Lafrenz, Gisela Schertling und Katharina Schüddekopf aus der Münchner Gruppe, der Freiburger Mediziner Helmut Bauer, die Ulmer Gymnasiasten Heinrich Guter, Hans und Susanne Hirzel, Willi Grafs Saarbrücker Schulfreund Heinz Bollinger sowie Eugen Grimminger, ein Freund des Scholl-Vaters aus Stuttgart.

Zu den Angeklagten gehörte auch Falk Harnack. Sein Bruder Arvid Harnack war zusammen mit zwölf Kampfgefährten der um ihn und Harro Schulze-Boysen gruppierten, als ›Rote Kapelle‹ bekannten Widerstandsgruppe am 22. Dezember 1942 in Berlin-Plötzensee erhängt worden. (H. Ammon). Den Kontakt zu dem Dramaturgen Falk Harnack hatte Lieselotte Ramdohr, eine Freundin Alexander Schmorells, vermittelt. Hans Scholl und Schmorell hatten Anfang November 1942 den in Chemnitz stationierten Harnack aufgesucht. Am 9. Februar 1943, in der Phase angespannter, von euphorischen Erwartungen getragener Widerstandsaktivität, vereinbarte Harnack in München mit Scholl ein weiteres Treffen in Berlin, um über seine entfernten Cousins Dietrich und Klaus Bonhoeffer Kontakt zum militärischen Widerstand herzustellen. Am 25. Februar wartete Harnack vergebens vor der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche auf den bereits am Tage zuvor ermordeten Scholl.

Die Szenen im Münchner Justizpalast hat Harnack in seinen 1947 verfassten Erinnerungen eindringlich festgehalten:

Im Hof des Justizpalasts empfing uns ein Polizeikordon. Die Hände wurden uns gefesselt, und wir kamen darauf in die grosse Wartezelle, zum ersten Male alle gemeinsam. Schweigend studierten wir die Wände, erschütternde Zeugnisse legten sie ab von Menschen, die zum Tode veurteilt worden waren... – Nur ein paar Wortbrocken konnten wir wechseln, da wir streng beaufsichtigt waren. Schmorell war schweigsam, er hoffte auf nichts mehr. Willi Graf, sonst still, war jungenhaft offen. Er sagte leise: ›Ach, zehn Jahre.‹
Dann öffnete sich das Tor, und wir wurden gefesselt über den langen Korridor in den Schwurgerichtssaal geführt. Links und rechts standen Menschen, Kopf an Kopf. Viele Studenten der Münchener Universität, Arbeiter, Soldaten. Wir gingen an ihnen vorbei. Kein böses Wort traf uns – nur Blicke voll tiefer Sympathie und voller Mitleid. Als erster betrat Schmorell den Saal, ihm folgte Prof. Huber, und dann kamen wir anderen. – An der Tür sah ich meine Mutter stehen. Ich konnte ihr, obwohl gefesselt, die Hände drücken und ihr, der man soeben ihren ältesten Sohn und ihre Schwiegertochter auf so grausame Weise ermordet hatte, sagen: ›Ich denke an Euch alle.‹

Die Stimmung in dem ausschließlich mit Chargen des Regimes – Gestapoleute, hohe Offiziere und Parteifunktionäre, darünter der Münchner Oberbürgermeister – besetzten Saal war erfüllt mit feindlicher Erregung. Schmorell erwiderte Freisler, der ihn in gewohnter Manier mit wütenden Tiraden überschüttete, er habe seinen Eid auf Hitler nicht leisten wollen. Als angehender Arzt in einer Sanitätseinheit schieße er genausowenig auf Russen wie auf Deutsche. (»Es war nicht umsonst...« Ms. Harnack)

Als nächster war Professor Huber, der Mentor der Scholls und der Verfasser des sechsten Flugblattes, an der Reihe. Nach Verlesen der Anklage legte in geheuchelter Entrüstung der Pflichtverteidiger sein Amt nieder. Der mit Huber befreundete, von ihm als Entlastungszeuge benannte Historiker und Präsident der Bayerischen Akademie der Wissenschaften Karl Alexander von Müller (1919 einer der Münchner Entdecker von Hitlers Redetalent) ließ sich mit einer angeblichen Dienstreise entschuldigen. (Steffahn, 121)

Unter anderem wurde mir vorgehalten, so die Erinnerung Harnacks, ich hätte defätistische Äußerungen getan, dass der Krieg für Deutschland verloren sei. Ich entgegnete Freisler, meine Äußerung sei gewesen: ›Ich befürchte, daß Deutschland den Krieg verliert. (...) Die nationalsozialistische Propaganda erklärt: Nach dem Zusammenbruch kommt das Chaos. Diese Propagandarichtung halte ich für überaus gefährlich, denn – und jetzt mit erhobener Stimme – ›Deutschland darf nicht untergehen.‹ Durch diesen Salto stand ich plötzlich auf der nationalen Plattform ... (»Es war nicht umsonst...«)

Harnack konnte zudem ein Führungszeugnis eines ihm bekannten Generals vorlegen. Er wurde als einziger der Angeklagten – ›mangels an Beweisen‹ – freigesprochen. (Ms. Harnack) Er sollte zu seiner Wehrmachtseinheit zurückkehren. Am 20. Dezember 1943 sollte Harnack in Griechenland auf dem Flugplatz Athen-Tatoi auf Geheimbefehl Himmlers verhaftet werden. Dank der Warnung seines vorgesetzten Leutnants konnte er fliehen und sich dem griechischen Partisanenkampf anschließen. (Anhang, ebda.)

Vor dem ›Volksgerichtshof‹ begründete der konservative Katholik Kurt Huber seine Ablehnung des Regimes – nicht nur aus taktischen Gründen – mit der ›Linksbewegung‹ der NSDAP und ›der wachsenden Bolschewisierung des deutschen Staates und Volkes‹. Er habe die »Rückkehr zu klaren sittlichen Grundsätzen, zum Rechtsstaat, zu gegenseitigem Vertrauen von Mensch zu Mensch« angestrebt, in seinem Handeln geleitet vom kategorischen Imperativ Kants. »Ich fordere die Freiheit für unser deutsches Volk zurück.« Seine Verteidigungsrede schloss Huber mit »dem schönen Wort Johann Giottlieb Fichtes: /Und handeln sollst du, als hinge / Von dir und deinem Tun allein / Das Schicksal ab der deutschen Dinge/ Und die Verantwortung wär dein.« (Schluss der Verteidigungsrede vor dem Volksgerichtshof, in: Kurt Huber zum Gedächtnis, 72-78)

Die drei Todesurteile gegen Huber, Graf und Schmorell standen von vornherein fest. Die anderen kamen mit Strafen von zehn Jahren Zuchthaus bis zu sechs Monaten davon. Im Rückblick würdigte die 2012 verstorbene Susanne Hirzel die Rolle des Verteidigers Eble, der als NSDAP-Mitglied Freisler mit Mut und Geschick entgegengetretend, ihr und anderen Angeklagten das Leben gerettet habe. (Dietel, https://www.nd-aktuell.de/artikel/84806.ich-habe-die-sophie-immer-gewarnt.htm) Auch Eugen Grimminger, der 1942 treuhänderisch das Steuerberatungsbüros Robert Scholls übernommen und die Münchner Gruppe mehrfach mit Geld unterstützt hatte, entging der Todesstrafe. Seine bis zu seiner Verhaftung geschützte jüdische Frau Jenny war bereits vor dem Prozess deportiert worden. Im Dezember 1943 wurde sie in Auschwitz ermordet. (http://weisse-rose-crailsheim.de/eugen-grimminger/eugen-grimminger/; Hanser, 314)

Motive: Bündische Freiheitsliebe und Eigensinn

Auf spezifische Weise vermittelt der 2023 erschienene biografische Essay von Klaus-Rüdiger Mai Ich würde Hitler erschießen. Sophie Scholls Weg in den Widerstand ein Bild der historischen Realität. Er erinnert an einen Aufruf, den anno 1946 Ricarda Huch (!1864-1947) verfasste und in mehreren Zeitungen veröffentlichte. Die Schriftstellerin, die 1933 aus der Preußischen Akademie der Künste ausgetreten war, wollte Zeugnisse für ein Buch zum Gedenken der ›Heldenmütigen‹ sammeln, die den Versuch gewagt hatten, das »klug gesicherte Schreckensregiment« zu stürzen. Ricarda Huch, über ihren Schwiegersohn, den Freiburger Ökonomen Franz Böhm dem Widerstand des 20. Juli verbunden, hatte es sich »zur Aufgabe gemacht, Lebensbilder dieser für uns Gestorbenen« für ein solches Gedenkbuch aufzuzeichnen, »damit das deutsche Volk daran einen Schatz besitze, der es mitten im Elend noch reich macht.« (Zit. in: Mai, S.10). Das geplante Werk konnte Huch vor ihrem Tod selbst nicht vollenden, so dass es erst 1953 bei Rowohlt erschien, herausgegeben von dem der Widerstandsgruppe ›Rote Kapelle‹ zugehörigen Schriftsteller und Damaturgen Günter Weisenborn. (Weisenborn)

Den besagten Aufruf entdeckte im Sommer 1946 Sudanne Hirzel in der Zeitung. Die Ulmer Pfarrerstochter, seit 1935 mit der 14jährigen gleichaltrigen Sophie Scholl befreundet, war im zweiten ›Weiße Rose‹-Prozess mit einer halbjährigen Strafe davongekommen. Sie antwortete der Schriftstellerin mit einem langen Brief, in dem sie an den Todesmut ihrer Freundin Sophie Scholl erinnerte. Im Januar 1943 habe ihr Sophie von den Flugblattaktionen ihres Münchner Freundeskreises erzählt. Einer müsse den Mut haben, anzufangen. »Wenn ich Gelegenheit hätte, Hitler zu erschießen, so müßte ich es tun, auch als Mädchen.« (Zit. In: Mai, 10f. Der gesamte Brief vom 14. August 1946 in: Zoske II, 362-366)

Das Grundthema aller Scholl-Biografien (siehe zuletzt H. Ammon ) ist die Entwicklung der Geschwister von anfänglicher Hitler-Begeisterung über Abwendung von der NS-Diktatur hin zu offenem, todesmutigen Widerstand. In seinem Sophie-Scholl-Porträt vertieft Mai – unter anderem Verfasser einer Biografie der deutsch-jüdischen Märtyrerin Edith Stein – das im Lebensweg angelegte Thema auf vielschichtige Weise. Da geht es zum einen um die Einordnung des NS-Regimes in dessen historische Bedingungen, zum anderen um die Willkürerfahrungen von selbstbewussten – ›eigensinnigen‹ – jungen Menschen wie der Scholls und ihrer Freunde mit totalitärer Praxis. Das psychologische Motiv verknüpft Mai – im Hinblick auf die Bedeutung des französischen Rénouveau catholique und des Münchner ›Hochland‹-Kreises um Carl Muth und Theodor Haecker – mit philosophiegeschichtlich weit ausgreifenden Reflexionen über die christlich-religiösen Ressourcen, aus denen Sophie Scholl, ihre Geschwister und ihre Freunde schöpften.

Die politische Atmosphäre Deutschlands in der Endphase der Weimarer Republik wird mit zwei erhellenden Zitaten skizziert. Das eine stammt von dem im italienischen Faschismus verwurzelten Schriftsteller Curzio Malaparte, der anno 1931 beobachtete, dass Hitler sich anschickte, die »gefährliche Rolle des Catilina aufzugeben und die ungefährlichere eines plebiszitären Diktators zu übernehmen.« (zit. Ebda, 33) Andere Beobachtungen hielt 1931 der französische Sozialist Pierre Viénot (1897-1944) in einem Buch Incertitudes allemandes. La crise de la civilisation bourgeoise en Allemagne (›Ungewisses Deutschland‹, 1932) fest. Er registrierte den Zusammenbruch der bürgerlichen Ordnung sowie einen »krankhaften Hang [der Deutschen] zur Selbstanalyse«. Er stellte zugleich eine tiefe Verwurzelung der Idee des »Fürsorgestaats« fest, »der gewiss nicht der bürgerlichen Kultur [angehört]. Hier treten wir in das weite Gebiet des Sozialismus ein.« (zit. ebda.,77)

Es handelte sich um das Verlangen nach Volksgemeinschaft, in der aller Parteienstreit, Klassenkonflikte und Klassenschranken überwunden seien. In den ›Bünden‹ der bürgerlichen Jugendbewegung verschmolzen Naturromantik, Nationalromantik und Sozialromantik. Den Traum von einem ›Neuen Reich‹ verkündete 1927 der in der bündischen Jugend verehrte Stefan George in einem Gedicht. Mit derlei Emotionen bewegten sich die ›Bünde‹ in enger Nähe zum Nationalsozialismus. Der Jubel über die ›Machtergreifung‹ Hitlers am 30. Januar 1933 erfasste auch den jungen Reichswehroffizier Stauffenberg bei einem SA-Aufmarsch in Bamberg. Der spätere NS-Gegner Ernst Forsthoff proklamierte 1933 in seinem Buch Der totale Staat: »Das bürgerliche Zeitalter wird liquidiert«. Für »die Verheißung einer besseren Zukunft« komme es darauf an, ›die letzten Reserven aus dem Volk herauszuholen.‹ ( Ebda., 104f.)

Inspiriert von ihrem Umfeld – Schule, Kirche und Altersgenossen – teilten die Scholl-Geschwister, obenan die älteste Tochter die nationalen Hochgefühle. Der deutsch-nationale Ulmer Stadtpfarrer Gustav Oehler nannte im Religionsunterricht den Tag von Potsdam (21.März 1933) ›ein wunderbares Ereignis‹. Inge Scholl konnte es nicht erwarten, dass Bruder Hans mit seinem ›Verein‹ – dem Jungvolk des Ulmer CVJM – geschlossen in die Hitler-Jugend übertreten würde. Sie selbst avancierte alsbald als erste der Geschwister zur BDM-Führerin.

Die HJ-Begeisterung der jungen Geschwister war Teil des pubertären Ablösungsprozesses vom Elternhauses. Mit dem agnostischen, pazifistisch, antinazistisch – und monarchistisch – gesinnten Vater Robert Scholl geriet insbesondere Hans in einen häuslichen Dauerkonflikt, was indes den engen Familienzusammenhalt, gestärkt durch die pietistisch geprägte Mutter Magdalena Scholl, zu keiner Zeit gefährdete. Die Familie gab den emotionalen Rückhalt an allen Stationen des Wegs in den Widerstand.

In die Phase des Übergangs des jungen Scholl in den offenen Widerstand fällt die Verhaftung ihres Vaters Robert Scholl durch die Gestapo am 16. Februar 1942. Scholl war von einer Bürogehilfin bei der Untergauleitung denunziert worden. Laut deren Aussage hatte er erklärt: »In zwei Jahren ist in Deutschland ein Chaos und die Bolschewisten haben Berlin besetzt.Hitler ist die größte Gottesgeißel...« (Zit. in: Beuys, 340) Erst am 3. August wurde er von dem Sondergericht unter demselben Vorsitzenden, der im Sommer 1938 den Sohn Hans verurteilt hatte, nach dem ›Heimtückegesetz‹ von 1934 zu der verhältnismäßig milden Strafe von vier Monaten Gefängnis verurteilt. Das Urteil zog jedoch ein Berufsverbot als Steuerberater nach sich. Im Mai 1943, nach der Hinrichtung seiner Kinder und deren Feunde, wurde Robert Scholl wegen Abhörens feindlicher Sender zu 18 Monaten Gefängnis verurteilt.

Zu Recht betont Mai, dass Antisemitismus im Hause der Scholls keinen Platz hatte. Starker Eigenwille und intellektuelle Neugier zeichnete den draufgängerischen Hans (›Feuerkopf‹) aus, musische Begabungen und poetische Sensibilität die als ›Buben-Mädel‹ im BDM zunächst nicht minder engagierte Sophie. Von ihr stammt der Satz: »Wer Heinrich Heine nicht kennt, kennt die deutsche Literatur nicht.« (zit. In: Mai, 138).

Befördert wurden derlei Dispositionen durch die Aspirationen und Ausdrucksformen der bündischen Jugendbewegung, wie sie insbesondere in der von Eberhard Koebel (tusk) 1929 gegründeten d.j.1.11. gepflegt wurden. Treffend schreibt die Biografin Barbara Beuys: »Bündisch: eine fremde, ferne Vokabel. Doch sie hatte einmal einen magischen Klang.« (Beuys, 115)

Die Ideale und Gefühlsmomente der ›Bündischen‹ beschrieb Susanne Hirzel in ihrem oben erwähnten Brief: »Letzten Endes ging es um die ›Freiheit‹. Diesem Ziel wollten wir unser Leben weihen, hätten jedoch niemandem genauer sagen können, was das ist ›Freiheit‹«. In der Interpretation des Autors Mai war es die Gefühlswelt des Sturm und Drang. Zur Begründung hat er seinem Buch eine Passage aus dem Beat-Kultbuch On the Road vorangestellt, wo Jack Kerouac von den »Verrückten, die verrückt sind aufs Leben...« schreibt und fragt: »Wie nannte man solche jungen Leute in Goethes Deutschland?« »Freiheit« schrieb Sophie Scholl zweimal auf die Rückseiten der ihr am Tag vor der Hinrichtung ausgehändigten Anklageschrift. »Es lebe die Freiheit!« rief Hans auf dem Weg zum Schaffott. (Anmerkung: Der Bezug auf die amerikanisschen Beat Poets ist keineswegs abwegig. Karl O. Paetel, ehedem Herausgeber der bündisch-nationalrevolutionären Zeitschrift ›Die Kommenden‹ und Führer der Gruppe der Sozialrevolutionären Nationalisten, 1935 aus Nazi-Deutschland geflüchtet und 1940 in die USA entkommen, gab 1962 bei Rowohlt Beat. Eine Anthologie in deutscher Übersetzung heraus. Er schrieb 1946 den biografischen Essay Ernst Jünger: Die Wandlung eines deutschen Dichters und Patrioten, 1962 erschien von ihm eine Jünger-Biografie in der Reihe Rowohlts Monographien.)

Die spezifisch bündischen Tendenzen – von Baldur von Schirach bereits 1933 scharf abgelehnt – wurden innerhalb der HJ noch bis 1935 toleriert, ab 1936 unter der Rubrik ›bündische Umtriebe‹ strafrechtlich verfolgt. Im Gestapo-Verhör im Februar 1943 begründete Sophie ihre Entfremdung von BDM und Nationalsozialismus »in erster Linie« mit ihrer und ihre Geschwister Verhaftung »wegen sog. bündischer Umtriebe« im Spätherbst 1937. (Vernehmungsprotokoll in: Zoske II, 314)

Der dem bündiischen Mindener Kreis zugehörige Autor Fritz Schmidt hat in sorgfältiger Archivarbeit die Lebensstationen des jungen Hans Scholl in der historischen Szenerie des ›Dritten Reiches‹ verfolgt. Den Ansatz der Studie, zu der Jürgen Reulecke als Fachhistoriker ein Geleitwort beigesteuert hat, verdeutlicht der zweite Untertitel: ›Hans Scholl im Umfeld von dj.1.11 und sein verschlungener Weg in den Widerstand‹. In vielerlei Details vermittelt diese ›bündische‹ Publikation ein schärferes Bild von der NS-Ära als manche Werke mit geschichtswissenschaftlichem Anspruch.

Das gilt zum einen – im Hinblick auf fortbestehende freundschaftliche Kontakte Robert Scholls zu einem Nationalsozialisten – nicht zuletzt für »zwischenmenschliche Beziehungen, [die] am 30. Januar 1933 nicht an der Garderobe abgegeben [wurden].« (Schmidt, 69) Es gilt zum anderen für Repräsentanten des Regimes, etwa für Juristen wie den erwähnten Richter Dr. Hermann Cuhorst, der als Vorsitzender des Stuttgarter Sondergerichts am 2. Juni 1938 gegenüber Hans Scholl – nicht aber gegenüber Ernst Reden – als ›Papa Gnädig‹ in Erscheinung trat. In den Kriegsjahren fällte er im Rahmen des 1941 dekretierten ›Polen- und Judenerlasses‹ gnadenlos Todesurteile, wurde nichtsdestoweniger 1944 von seinem Posten am Sondergericht wegen »zu milder Urteile« abgelöst und in die Wehrmacht überstellt. (ebda., 61f.)

Innerhalb und am Rande der HJ kultivierten von Eberhard Koebel (tusk ), dem Gründer der d.j.1.11, inspirierte Freundeskreise ihr ›autonomes‹ Gruppenleben. Zu Koebels d.1.11- Adepten zählte anfangs Max von Neubeck, Fähnlein- und Jungzugführer in der Ulmer Hitlerjugend, in die Hans Scholl, bis dahin Mitglied im Ulmer CVJM, am 1. Mai 1933 eintrat. Der literarisch ambitionierte Ernst Reden, der in Ulm seinen Militärdienst ableistete, stand mit dem über Schweden nach England emigrierten Koebel in Kontakt. Im Sommer 1935 wurde Reden erstmals wegen seiner »zersetzenden«, auf Hochverrat (!) hindeutenden Aktivitäten »außerhalb der Staatsjugend« von der Gestapo verhört. Ab 1936 wurde sein Briefverkehr polizeilich überwacht. (Schmidt, 21f.)

Im November und Dezember 1937 wurden die Ulmer Freunde um Hans Scholl sowie Ernst Reden verhaftet. In dem Prozess vor dem Sondergericht Stuttgart am 2. Juni 1938 zielte die Anklage – unter Bezug auf die nach dem Reichstagsbrand von Hindenburg verfügte Notverordnung ›zum Schutz von Volk und Staat‹ – auf die ›Fortsetzung der bündischen Jugend‹. Hans Scholl und andere Mitangeklagte kamen durch eine – nach dem ›Anschluss‹ Österreichs verkündete – Amnestie fallende Strafen frei davon. Redens Strafe von drei Monaten Gefängnis blieb indes rechtsgültig. Er galt als vorbestraft, was nicht nur seine angestrebte Offizierskarriere beendete, sondern auch den Ausschluss aus Universität und Studium nach sich zog.

Die ›Umtriebe‹ wurden mit Anklagen gegen Hans Scholl und Inges Freund Ernst Reden wegen Verstoßes gegen § 175 unterlegt. Während es sich bei Scholl, der sich alsbald in allerlei Liebesabenteuer stürzte, um jugendtypische Ersatzhandlungen handelte, fällt die Orientierung des empfindsamen, über Jahre um Inge Scholl werbenden Ernst Reden – »ein Zweifler und suchender, der nach Gott und sich selber suchte, voller Sorge um Heimat und Vaterland« (ebda., 29) – nicht ganz eindeutig aus. Laut Schmidt muss die Reden zugeschriebene Homsosexualität ungeklärt bleiben. Nachdrücklich verteidigt er Reden – er starb nach einer Verwundung im August 1942 in einem Lazarett in der Ukraine – gegen den Vorwurf, ein »führertreuer Nationalsozialist« gewesen zu sein. (ebda., 23)

Unter Verweis auf homoerotische Anwandlungen in Pubertätsjahren widerlegt Mai den Theologen und Publizisten Robert Zoske, der – zeitgeistgemäß – in seinen Biografien Hans Scholl für bisexuelle Prägung und Sophie für latent lesbische Neigungen vereinnahmen möchte. Zoske geht es entgegen aller Evidenz durchgängig um den Nachweis von Homo- oder Bisexualität bei Hans Scholl, sodann um latente lesbische Neigungen bei der jüngeren Schwester. Zur Zurückweisung der »Obessionen« des Theologen und früheren Pastors Zoske hat der Autor Schmidt eine nach Erscheinen von dessen Scholl-Biografie Flamme sein! ( 2019) publizierte Kritik unter dem Titel Zoske und Scholl angefügt. (Schmidt, 86-89).

Zu Recht schreibt Schmidt im Hinblick Zoske und Zankel, dass sie »die Realitäten im sogenannten Dritten Reich nicht einschätzen können.« (Schmidt, 69) Zankels Arbeiten – auf der Grundlage einer am Geschwister-Scholl-Intsitut der Universität München angenommenen Dissertation – und durchzogen von ahistorischer Oberlehrerhaftigkeit bezüglich der bei Hans Scholl und Alexander Schmorell angeblich allzulange mangelnden demokratischen Gesinnung.

In dem 2006 veröffentlichten Buch Zankels häufen sich die Fehlinterpretationen. Dem vom jungkatholischen ›Neudeutschland‹ geprägten Willi Graf attestierte er lutherisches Obrigkeitsverständnis nach Römer 13, Alexander Schmorell sei ›russophil‹, kein ›Intellektueller‹ gewesen, habe zwischen guten und schlechten Nazis unterschieden. Das Symbol, das Scholl im Verhör auf Clemens von Brentanos ›Romanzen vom Rosenkranz‹ zurückführte, erfuhr folgende Deutung: »Die ›Weisse Rose‹ war für Scholl ihrem Ursprung nach ein Symbol der Konterrevolution gegen die demokratischen Ideen von 1789 und dieses Zeichen benutzte er bewußt.« (Zankel, 73. Siehe auch meine Kritik am historischen Unverständnis Zankels in: Globkult 21.02.2010)

Im Wintersemester 1940//41, in der Phase wachsender Empörung über das Nazi-Regime, lehnte Hans Scholl in Gesprächen mit Hans Hirzel offene Widerstandsaktionen noch ab. Doch im Sommer 1942 erhielt Hirzel mit der Post das erste Flugblatt der ›Weißen Rose‹, abgestempelt in München. Er vermutete sogleich Hans Scholl als Autor (Beuys, 373.)

Was für den Weg Hans Scholls in den offenen Widerstand im Sommer 1942 letztlich entscheidend war, ist nicht eindeutig zu bestimmen. Fritz Schmidt ztieirt den ›Weiße Rose‹-Forscher Armin Ziegler: »Die Antwort wissen wir nicht. Alles Gesagte ist weitgehend Meinung.« (Zit. 76) Es folgen Zitate, die das Kriegsgrauen sowie die Ablehnung der nazistischen Unterjochungspraxis als Motiv in den Blick rücken. (Ebda., 76f.)

Im Gestapo-Verhör im Februar 1943 begründete Sophie ihre Entfremdung von BDM und Nationalsozialismus – wie bereits zuvor erwähnt – ›in erster Linie‹ mit ihrer und ihre Geschwister Verhaftung ›wegen sog. bündischer Umtriebe‹ im Spätherbst 1937. Ungeachtet seiner Betonung des jugendbewegten Hintergrunds weist Fritz Schmidt die Vorstellung, die Erfahrungen mit Gestapo, Inhaftierung und Sondergericht hätten Hans Scholl zum Widerstand bewogen, als unzutreffend zurück. (Ebda., 66) Immerhin spricht aus Scholls Bekenntnis »Noch nie war ich so Patriot im eigentlichen Sinn des Wortes« – in einem Brief vom 21. Oktober 1938 an seine Schwester Inge (zit. ebda.,68) – auch keine kritiklose Regimetreue, eher das Gegenteil.

Motive: Patriotismus und christlicher Glaube

Fritz Schmidt konstatiert bei Scholl ein »Umdenken« bezüglich des Elitegedankens und ein »Verblassen des Patriotismus, auf den er 1938 und später noch abgehoben hatte – aber letzlich war er es dann doch, ein deutscher Patriot.« (Ebda., 77) Mit einem patriotischen Bekenntnis schloss Sophie Scholl ihr Verhör auf die Frage des Gestapobeamten Mohr, der aiuf ein reuiges Eingeständnis zielte: »Von meinem Standpunkt aus muss ich diese Frage verneinen. Ich bin nach wie vor der Meinung, das Beste getan zu haben, was ich gerade jetzt für mein Volk tun konnte. Ich bereue deshalb meine Handlungsweise nicht und will die Folgen, die mir aus meiner Handlungsweise erwachsen, auf mich nehmen.« (Vernehmungsprotokoll in: Zoske II, Dokumente, 346)

Unter dem Titel Deutschland zuliebe rückte die 1979 erschienene Ausgabe des Buches des von dem amerikanischen Journalisten Richard Hanser verfassten A Noble Treason noch das patriotische Motiv in den Vordergrund. Dieses tritt – nicht nur als patriotische Empörung über ›diese Verbrecherclique‹ – in allen Flublättern hervor. In dem maßgeblich von Alexander Schmorell verfassten zweiten Flugblatt heißt es:

Bis zum Ausbruch des Krieges war der größte Teil des deutschen Volkes geblendet, die Nationalsozialisten zeigten sich nicht in ihrer wahren Gestalt, doch jetzt, da man sie erkannt hat, muß es die einzige und höchste Pflicht, ja heiligste Pflicht eines jeden Deutschen sein, diese Bestien zu vertilgen. Und im vierten Flugblatt (›wider den Boten des Antichrist‹) schreiben die Freunde: Obgleich wir wissen, daß die nationalsozialistische Macht militärisch gebrochen werden muß, suchen wir eine Erneuerung des schwerverwundeten deutschen Geistes von innen her zu erreichen.

Im fünften Flugblatt (›Aufruf an alle Deutsche!‹) gilt der Appell der Absage an den »preußischen Militarismus«, dem Aufbau einer föderalistischen Staatenordnung sowie »eines vernünftigen Sozialismus«, dem Bekenntnis zu Freiheits- und Bürgerrechten als »Grundlagen des neuen Europa«. Patriotischer Furor spricht sodann aus jeder Zeile des letzten, von Kurt Huber verfassten Flugblatts: »Studentinnen, Studenten! Auf uns sieht das deutsche Volk! Von uns erwartet es, wie 1813 die Brechung des Napoleonischen, so 1943 die Brechung des nationalsozialistischen Terrors aus der Macht des Geistes. Beresina und Stalingrad flammen im Osten auf, die Toten von Stalingrad beschwören uns!« Und der auf Anregung Hans Scholls von Christl Probst geschriebene Entwurf mündet in der Parole: »Hitler muß fallen, damit Deutschland weiterlebt.«

In seiner Gedenkrede anlässlich der Enthüllung einer Gedenktafel in der Münchner Universität am 2. November 1946 sagte als Rektor der – 1937 zwangsemeritierte – Romanist Karl Vossler, »je stärker im Sturm der Ereignisse die seelische und geistige Erregung dieser Jugend sich auf das Politische warf, desto mächtiger begannen auch die religiösen Motive zu wirken.« (Zit. In Steffahn, 153)

Vosslers Gedenkrede erschien 1947 mit Druckgenehmigung der amerikanischen Militärregierung. Aus einem im selben Jahr publizierten Gedenkbuch für Kurt Huber strich die amerikanische Militärzensur (Information Control Division) – wegen »unzulässiger Verherrlichung der deutschen Wehrmacht« Notizen aus Hubers Verteidigungsrede. Sie entsprachen inhaltlich jenen Sätzen Hubers im sechsten Flugblatt, die im Februar 1943 zu einem Konflikt mit Scholl und Schmorell geführt hatten. (Kurt Huber zum Gedächtnis, 14f.)

Jugendendbewegt-romantische Sensibilität, elitäres Selbstbewusstsein, Entsetzen angesichts der Nazi-Verbrechen – über Judenmorde in Lettland erfuhren die Scholls von Hermann Heisch, dem Schwager Richard Scheringers, bereits im Sommer 1941 (Schmidt, 69) – das in innige Freundschaft mündende Zusammentreffen mit Alexander Schmorell, eine durch die Begegnung mit Carl Muth, dem Herausgeber der 1941 verbotenen Zeitschrift ›Hochland‹), und Theodor Haecker vertiefte christliche Glaubenshaltung – dies alles wirkte bei Hans Scholl zusammen.

Zum tragenden Motiv des ins Martyrium führenden Widerstands wurde letztlich – für Hans und Sophie auf sehr unterschiedliche Weise – ihre christliche Glaubensbindung. Aus 1938 von Hans Scholl geschriebenen Gedichten (›Thronender romanischer Christus‹, ›Maria‹) spricht eine eher romantische Religiosität. (Gedichte Scholls in: Zoske I, 236-287). Als Hans – kurz vor seiner eigenen Festnahme Mitte Dezember 1937 in der Kaserne von Bad Cannstadt – von der Verhaftung seiner Geschwister erfährt, bedankt er sich bei seiner Mutter für den Trost mit einem ›wunderbaren‹ Bibelwort: »Es half mir, wieder meine alte Fassung zurückzugeben.« (Zit. In: Mai, 125).

Aus religiöser Glaubensstärke heraus lehnte der in der katholischen Jugendbewegung verwurzelte Otto (›Otl‹) Aicher den Beitritt zur HJ ab, mit der Folge, dass ihm die Zulassung zum Abitur verweigert wurde. Über Aicher, den Freund ihres jüngeren Bruders Werner, kamen die Scholl-Geschwister 1939/40 mit den Schriften Romano Guardinis sowie mit der Geisteswelt des französischen Rénouveau catholique – mit Namen wie Georges Bernanos, Paul Claudel und Jacques Maritain – in Berührung. Über den auf Konversion der Geschwister sinnenden Aicher gelangten Hans und Sophie in den reformkatholischen Münchner Kreis um den ›Hochland‹-Herausgeber Carl Muth und dessen Mitarbeiter, dem zum Katholizismus konvertierten Schriftsteller Theodor Haecker. In einem Brief an Carl Muth zu Weihnachten 1941 sprach Hans Scholl über seine religiöse Sinnsuche. Eines Tages »hörte [ich] den Namen des Herrn und vernahm ihn. In diese Zeit fällt meine erste Begegnung mit Ihnen. Dann ist es von Tag zu Tag heller geworden. Dann ist es wie Schuppen von meinen Augen gefallen. Ich bete. Ich spüre einen sicheren Hintergrund und ich sehe ein sicheres Ziel . Mir ist in diesem Jahre Christus neu geboren.« (Zit. In: Steffahn, 51)

Muth und Haecker gehörten zu einem Münchner Zirkel der – heute meist gering geschätzten – inneren Emigration, der sich um die Schriftsteller Werner Bergengruen und Sigismund von Radecki sowie den Historiker Alfred von Martin – auch sie Konvertiten – versammelte. Auf einem dieser Treffen – unter anderem in der Villa Schmorell in München-Harlaching – fiel aus dem Munde Professor Hubers, dessen Leibniz-Vorlesungen die Freunde besuchten, der Satz ›Es muss etwas geschehen...‹

Ohne die Bedeutung des katholischen ›Hochland‹-Kreises zu mindern, stellt der Autor Mai die Geschwister Scholl in die protestantische Tradition der Gewissenspflicht. Im Unterschied zu Luther auf dem Reichstag zu Worms mussten diese jungen Menschen in den Tod gehen, weil ihnen in Hitlers Reich eine schützende Hand fehlte.

Am 22. Februar 1943 starben Christoph Probst, Hans Scholl und Sophie Scholl unter dem Fallbeil im Gefängnis München-Stadelheim. Der konfessionslose Christoph Probst ließ sich vor seinem Tod von dem katholischen Gefängnisgeistlichen taufen. Sophie und Hans Scholl empfingen aus der Hand des evangelischen Pfarrers Karl Alt das Abendmahl.

In einem weiteren, im Oktober 1943 in Donauwörth inszenierten Prozess wurde der Chemiestudent Hans Leipelt zum Tode verurteilt. Selbst nicht der Widerstandsgruppe zugehörig, erhielt er im Februar 1943 das sechste Flugblatt zugesandt. Zusammen mit der Freundin Marie-Luise Jahn kopierte er das Flugblatt und verbreitete es in München und Hamburg. Nach der Hinrichtung Professor Hubers organisierten die beiden Hilfsaktionen für dessen Familie.

Leipelts Motivation zum Widerstand war gewiss primär in seinem Lebensschicksal als ›Halbjude“ begründet: 1940 war er, obgleich mit dem Eisernen Kreuz zweiter Klasse ausgezeichnet, aus der Wehrmacht entlassen worden. Am 22. Januar 1943 erfuhr er von der Deportation und dem Tod seiner Großmutter in Theresienstadt. Zwei Monate nach seiner Verhaftung nahm sich seine Mutter im Gefängnis Hamburg-Fuhlsbüttel – vor dem Abtransport nach Auschwitz – das Leben.

In den langen Monaten der Haft in München-Stadelheim, so schrieb 1946 der Gefängnispfarrer Alt in seinem Erinnerungsbuch Todeskandidaten, wandelte sich Leipelt, vom »religiös nicht uninteressierten« Skeptiker »durch die Lektüre zahlreicher christlicher, auch theologischer Werke« zu einem tiefgläubigen Christen. Er sterbe »ohne Angst, in der Hoffnung auf Gottes Vergebung« schrieb er in seinem letzten Brief am 29. Januar 1945 an seine Schwester. (Zoske I, 231-234, 355, Fn. 21)

Vergessene Worte des Gedenkens

Der erste Bundespräisdent Theodor Heuss erklärte 1953: »Dieser Aufschrei der deutschen Seele wird durch die Geschichte weiterhallen, der Tod kann ihn nicht, konnte ihn nicht in die Stummheit zwingen...« Und in seinem Werk Deutsche Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts (1958) schrieb Golo Mann:

Sie fochten gegen das Riesenfeuer mit bloßen Händen, mit ihrem Glauben, ihrem armseligen Vervielfältigungsapparat. Gut konnte das nicht ausgehen, und ihre Zeit war kurz. Hätte es aber im deutschen Widerstand nur sie gegeben, die Geschwister Scholl und ihre Freunde, so hätten sie alleine genügt, um etwas von der Ehre des Menschen zu retten, der die deutsche Sprache spricht. (Zitate in: Steffahn, 153)

In der politischen Landschaft der Bundesrepublik Deutschland, in einer zusehends postchristlich indifferenten, multikulturell postnationalen Gesellschaft, wo selbst der Begriff ›deutsche Leitkultur‹ verpönt ist, wirken solche Sätze für viele befremdlich. Mehr noch: In der als historische Verpflichtung wahrgenommenen Auseinandersetzung mit der NS-Geschichte erregen sie ob ihres nationalen Pathos Anstoß.

Literatur

Philipp Ammon: https://www.theeuropean.de/gesellschaft-kultur/alexander-schmorell-die-russische-seele-der-weissen-rose in: The European 12.01.2024; s. auch ders.: Alexander Schmorell – die »russiche Seele der Weissen Rose«, in: Tumult (Herbst) 2024, 70-71
Herbert Ammon: in: Globkult 21.02.2010
ders.: in: Iablis 18. Jahrgang 2019
ders.: in: Globkult 30.08.2020
ders.: https://www.theeuropean.de/herbert-ammon/neue-biografie-ueber-sophie-scholl/ in: The European 28.02.2021
ders.: https://www.academia.edu/44362548/Von_den_Quellen_des_Widerstands_der_Wei%C3%9Fen_Rose in: academia.edu, 2021
ders.: in: Globkult 12.01.2022
ders.:
in: Globkult 20.02.2023
Barbara Beuys: Sophie Scholl. Biografie, München 2010
Peter Dietrich: »Ich habe die Sophie immer gewarnt..., in: https://www.nd-aktuell.de/artikel/84806.ich-habe-die-sophie-immer-gewarnt.html
»Es war nicht umsonst – Erinnerungen an die Münchnener revolutionären Studenten von Dr. Falk Harnack (1947)«, Typoskript in: https://www.ifz-muenchen.de/archiv/zs/zs-2033.pdf
Maren Gottschalk: Wie schwer ein Menschenleben wiegt. Sophie Scholl. Eine Biografie, München 2020
Richard Hanser: Deutschland zuliebe. Leben und Sterben der Geschwister Scholl. Die Geschichte der Weißen Rose, München 1982
Eckard Holler: Waren die Geschwister Scholl ›links‹? In: ders.: Die Ulmer »Trabanten«. Hans Scholl zwischen Hitlerjugend und dj.1.11, in: Puls – Dokumentationsschrift der Jugendbewegung 22 / November 1999
ders.,: Waren die Geschwister Scholl links?, in: 10. Tübinger Festival 15.-17. Juni 1984, S. 42-44
Kurt Huber zum Gedächtnis – »...der Tod...war nicht vergebens«. Clara Huber (Hg.): München 1986
Klaus-Rüdiger Mai: Ich würde Hitler erschießen. Sophie Scholls Weg in den Widerstand, Paderborn 2023
Fritz Schmidt / Jürgen Reulecke: Hans Scholl: »Noch nie in meinem Leben war ich so Patriot...« Baunach 2021
Harald Steffahn: Die Weiße Rose, Reinbek bei Hamburg 1982
Günter Weisenborn: Der lautlose Aufstand. Bericht über die Widerstandsbewegung des deutschen Volkes 1933-45, Frankfurt/M. 1974 (erstm. 1953)
Sönke Zankel: Die Weisse Rose war nur der Anfang (2006)
Robert Zoske: Flamme sein, Hans Scholl und die Weiße Rose. Eine Biografie, 2. Aufl. München 2018 (= Zoske I)
ders.: Es reut mich nichts. Porträt einer Widerständigen, Berlin 2020 (= Zoske II)

(Der obige Text basiert auf einem Referat, das ich auf Einladung von Eckard Holler am 16. August 2024 vor einem Kreis von Jugendbewegten in der ›Kulturinsel‹ im Hunsrück hielt.