von Wolfgang Kruse
Vor 222 Jahren verabschiedete die französische Nationalversammlung die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte
Das Jahr 1789 war generell reich an unerhörten Geschehnissen, die den Weg in eine ganz neuartige Zukunft wiesen. Das bedeutendste Dokument dieses revolutionären Aufbruchs in die Moderne war die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte, die von der französischen Nationalversammlung am 26. August verabschiedet wurde.
Bei dieser Erklärung der »natürlichen, unveräußerlichen und geheiligten Rechte des Menschen«, wie es in der Präambel hieß, handelte es sich um nichts weniger als um den Entwurf einer grundlegenden Neuordnung der menschlichen Gesellschaft, der uns noch heute anleitet. Die Verfasser unterschieden dabei keineswegs prinzipiell zwischen allgemeinen Menschen- und spezifischen Bürgerrechten. Und es ging ihnen auch nicht nur um Grundrechte der Individuen gegenüber einem sie bedrohenden Staat. Die Erklärung etablierte vielmehr Grundprinzipien für eine Gesellschaft freier, gleicher, sich selbst regierender Bürger, in der dem Staat gar keine eigene, von der bürgerlichen Gesellschaft unabhängige Rolle mehr zukommen sollte.
Als die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte ausformuliert wurde, diente sie der Grundlegung einer neuen Verfassung, deren Ausarbeitung die Hauptaufgabe der Nationalversammlung war. Vorangegangen war die Vorstellung einer Vielzahl von Entwürfen nicht nur im parlamentarischen Raum, sondern auch in der sich revolutionär formierenden Öffentlichkeit. Neben weniger bekannten Autoren beteiligten sich daran bedeutende Denker und Politiker, wie etwa der letzte große Aufklärungsphilosoph Marquis de Condorcet oder der schon in der amerikanischen Revolution aktive »Held zweier Welten« Marquis de Lafayette, der bereits am 9. Juli den ersten Entwurf zu einer Rechteerklärung in die Nationalversammlung eingebracht hatte. Der inhaltlich wichtigste Beitrag stammte jedoch von dem wohl einflußreichsten politischen Denker des Jahres 1789, dem Abbé Émmanuel Joseph Sieyès, der bereits mit seiner Schrift Was ist der Dritte Stand? die Emanzipation der Ständeversammlung zur verfassungsgebenden Nationalversammlung angeleitet hatte.
Der schließlich nach intensiven Diskussionen von der Nationalversammlung mit großer Mehrheit angenommene Text mit seiner allgemeinen Präambel und der Formulierung von 17 unveräußerlichen Rechtsgrundsätzen stand in der Tradition der Aufklärung und war geprägt vom gesellschaftlichen Vertragsdenken. Er war eigentlich noch gar nicht abgeschlossen und sollte ursprünglich nach Fertigstellung der Verfassung weiter ergänzt werden. Die Rechteerklärung gewann in der Zwischenzeit jedoch, wie die Nationalversammlung feststellte, den Charakter eines »nationalen Katechismus« und blieb deshalb unverändert. Ihrer ganzen Anlage nach zielte sie sowieso nur darauf, allgemeine Grundprinzipien zu verankern, aus denen weitere Ausgestaltungen abgeleitet werden konnten und sollten. In diesem Sinne kann die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte noch heute Gültigkeit beanspruchen.
Sie geht von der naturrechtlichen Gleichheit aus, deren Bewahrung und Erweiterung das Ziel des gesellschaftlichen Zusammenlebens sei. Als grundlegende Menschenrechte werden Freiheit, Eigentum, Sicherheit und das Recht zum Widerstand gegen Unterdrückung etabliert, um dann die Nation zum Träger der Souveränität zu erheben und den Charakter, das Zustandekommen und die Grenzen des Rechts als gemeinsames, die Freiheit und Rechtsgleichheit jedes Einzelnen sicherndes Regelwerk für ein gleichberechtigtes Zusammenleben der Staatsbürger festzulegen. Während Sieyès für die Mitwirkung der Bürger an der Gesetzgebung eines großen Staates allein das Prinzip der Repräsentation gelten lassen wollte, ließ die Erklärung die Entscheidung zwischen direkter und indirekter Praxis der Demokratie offen.
Abgeschlossen wird die Erklärung schließlich von einer Festschreibung der Meinungs- und Publikationsfreiheit, des Steuerbewilligungsrechts, der Rechenschaftspflicht aller Amtsträger und der Gewaltenteilung. Erst kurz vor dem Ende der Debatte wurde in § 17 noch eine erneute Bekräftigung des Eigentums als »unverletzliches und heiliges Recht« hinzugefügt. Zweifellos wurde damit der spezifisch bürgerliche, am individuellen Eigentum orientierte Charakter der Erklärung noch einmal herausgestellt. Doch zugleich schränkte sie das Eigentumsprinzip durch die Möglichkeit ein, im öffentlichen Interesse Enteignungen vornehmen zu können und verankerte den Grundsatz, daß allgemeine Steuern von den Bürgern »je nach ihrem Vermögen« entrichtet werden sollten. Und schließlich: Wer wollte der Grundbestimmung des Eigentums widersprechen, die Sieyès an den Anfang seiner Rechteerklärung gestellt hatte: »Jeder Mensch ist alleiniger Eigentümer seiner Person; dieses Eigentum ist unveräußerlich.«
Trotz dieser ebenso grundlegenden wie weitreichenden Prinzipienerklärung wies die neue, 1791 fertig gestellte Verfassung aus demokratischer Sicht gravierende Schwächen auf. Sie etablierte ein erbliches und unverletzliches Königtum an der Spitze von Staat und Regierung, sie hielt allen Frauen und auch etwa einem Drittel der finanziell minder bemittelten Männer als sog. ›Passivbürger‹ aktive politische Mitwirkungsrechte, vor allem das Wahlrecht vor, und sie untersagte mit der Abschaffung der Zünfte zugleich auch die Bildung von Gewerkschaften. Doch aus den Menschen- und Bürgerrechten selbst waren diese dem liberalen Zeitgeist geschuldeten Beschränkungen nicht ableitbar, ganz im Gegenteil: Von nun an konnte man sich auf sie berufen, wenn man die Beschränkung von Rechten kritisieren und ihre Aufhebung fordern wollte. So bezog sich etwa Olympe de Gouges explizit auf die Rechteerklärung, als sie 1791 in Analogie dazu ihre Erklärung der Rechte der Frau und Bürgerin entwarf.
Gravierender als die Unzulänglichkeiten der Verfassung sind dagegen zwei weitere Einwände. Die rationale, von Gleichheit und Volkssouveränität ausgehende Einheitlichkeit des Entwurfs beinhaltete, so wird einerseits argumentiert, eine autoritäre, letztlich zur Zerstörung von Gewaltenteilung und Einzelrechten führende Ausrichtung. Andererseits tendiere ihr universeller Anspruch generell mit innerer Notwendigkeit zur kriegerischen Ausbreitung und Fremdbestimmung über anders orientierte Menschen und Völker. Beide Einwände sind in der Tat bedenkenswert und können sich zugleich auf reale Entwicklungen in der Geschichte der Französischen Revolution stützen. Trotzdem sind sie, wie ich zeigen möchte, letztlich nicht haltbar.
Zweifellos wurde die Ausbildung der terroristischen Kriegsdiktatur des Nationalkonvents 1793/94 dadurch begünstigt, dass der Volksvertretung von Anfang an eine zentrale Rolle zugesprochen worden war. Mit der spezifischen Gestalt der Menschen- und Bürgerrechtserklärung jedoch kann dies nicht begründet werden, sie formulierte vielmehr in aller Eindeutigkeit »Jede Gesellschaft, in der die Verbürgung der Rechte und die Trennung der Gewalten nicht festgelegt ist, hat keine Verfassung.« Darüber hinaus ist es selbstverständlich möglich, die Souveränität des Volkes auf mehrere demokratisch legitimierte Institutionen zu verteilen, wie dies zeitgenössisch bereits die amerikanische Verfassung getan hatte. Doch in Frankreich mit seiner starken Monarchie und Aristokratie wäre die Aufteilung der Souveränität geradezu einer Kapitulation vor den Gegnern der Revolution gleichgekommen.
Und generell gilt: Wer ihre einheitliche Begründung kritisiert, stellt damit, gewollt oder ungewollt, die Demokratie selbst in Frage. Denn wo, außer im Mehrheitswillen des Volkes, sollte sie verankert sein? Auch die Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen vom 10. Dezember 1948 ist dementsprechend dem französischen Beispiel gefolgt, als sie in § 21 festlegte: »Der Wille des Volkes bildet die Grundlage für die Autorität der öffentlichen Gewalt; dieser Wille muss durch regelmäßige, unverfälschte, allgemeine und gleiche Wahlen mit geheimer Stimmabgabe oder in einem gleichwertigen freien Wahlverfahren zum Ausdruck kommen.«
Aber beinhaltete die Setzung allgemeingültiger Rechtsprinzipien nicht doch eine implizite Vergewaltigung von solchen Personen und Völkern, die nach anderen Vorstellungen leben wollen? Und verpflichtet sie nicht umgekehrt dazu, ihre Geltung für alle Menschen überall auf der Welt auch durchzusetzen, wenn nötig mit militärischer Gewalt? Das sind grundsätzliche Fragen, deren Problematik ebenfalls bereits in der Französischen Revolution hervorgetreten ist. Ihren Gegnern erschien die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte tatsächlich von Anfang an als eine Art Kriegserklärung an die alte Ordnung und ihre Vertreter. Und obwohl die Revolutionäre mit ihrer Neuordnung von Staat und Gesellschaft eigentlich alle Kriege überflüssig machen wollten, entschied sich die Nationalversammlung im April 1792 zu einem Krieg gegen die europäischen Nachbarländer, der keineswegs rein defensiv motiviert war, sondern auch von der Ideologie eines revolutionären Befreiungskrieges getragen wurde.
Die inneren Widersprüche dieses Projektes traten schnell und in aller Klarheit hervor, als die Revolutionsarmeen feindliche Territorien eroberten und hier tatsächlich mit Bevölkerungen konfrontiert waren, die mehrheitlich keineswegs befreit werden wollten oder andere Vorstellungen von der Ausgestaltung ihrer Freiheit hatten. Das Ergebnis waren die Zwänge der Besatzungsherrschaft, die kaum geeignet waren, eine freie, den Menschen- und Bürgerrechten verpflichtete Ordnung zu schaffen. »Niemand liebt bewaffnete Missionare,« hatte Robespierre zuvor treffend gegen die Propaganda des revolutionären Befreiungskrieges eingewendet. Das gilt noch heute, denn der Versuch, mit Krieg und Militärherrschaft die Menschenrechte, Freiheit und Demokratie zu verbreiten, hat sich in der Regel als wenig erfolgversprechend herausgestellt.
Doch die in der Französischen Revolution begonnene Übertragung der Menschenrechte auf ein neuartiges, am Selbstbestimmungsrecht orientiertes, alle Nationen verbindendes Völkerrecht gibt auch dies inhaltlich nicht her. Condorcet formulierte als Konsequenz aus der »Unabhängigkeit, die allen Völkern zusteht und die verletzt würde, wenn eine fremde Nation sich als Richterin über die Legitimität der Gewalten aufspielen würde, von denen sie regiert werden«, den zukunftsweisenden Grundsatz, dass allen Völkern das Recht zukomme, »für sich zu entscheiden, worin ihre Freiheit besteht und wie sie sie ausüben wollen.« Frankreich müsse deshalb erst einmal alle bestehenden Regierungen anerkennen, solange sie »ihre Macht mit dem ausdrücklichen oder stillschweigenden (…) Einverständnis jeder Nation ausüben.« Den Völkern sollte demnach nicht nur das Recht zur freien Wahl ihrer gesellschaftlichen und staatlichen Verfassung zustehen, sondern auch die Aufgabe, freiheitliche Ansprüche erst einmal selbst zu formulieren und durchzusetzen.
Darüber hinausgehende militärische Eingriffe in die Souveränität anderer Nationen sollten nach Condorcet allein legitimiert sein zur »Bewahrung ihrer Unabhängigkeit oder für das Gesamtinteresse der Menschheit«. Das ist zweifellos ausdeutungsfähig, doch in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Vereinten Nationen kann man dies so präzisieren, dass keineswegs jede Unterdrückung der Menschen- und Bürgerrechte als Rechtfertigung für ein militärisches Eingreifen dienen kann, sondern allein zwei Gründe: Die Abwehr von Angriffskriegen gegen die Unabhängigkeit selbständiger Nationen und die Unterbindung grundlegender Verstöße gegen das Existenz- und Selbstbestimmungsrecht der Menschheit wie vor allem Völkermord.
Ansonsten gilt es, die Differenz zwischen den von uns für universell und unverzichtbar gehaltenen Menschen- und Bürgerrechten auf der einen, und dem abweichenden Verhalten anderer Menschen und Völker auf der anderen Seite auszuhalten, ohne zu Gewalt und Krieg zu greifen. Dazwischen aber öffnen sich überall weite Tätigkeitsfelder für eine Politik, die an der Geltung, Sicherung und Verbreitung der Menschen- und Bürgerrechte orientiert ist.