…neulich im Einstein
blätterte ich im gerade erschienenen neuen Band der Nietzsche-Studien. An Stegmaiers Beitrag blieb der Blick hängen, am lakonischen Titel Nach Montinari. Wir befinden uns beim Umgang mit Nietzsches Werk offensichtlich in einer sozusagen dritten Kehre: Förster-Nietzsche – Montinari – Nach Montinari! Denn es gibt eine ganz neue Editionslage.
Innerhalb der Kritischen Gesamtausgabe der Werke [KGW], die Giorgio Colli und Mazzino Montinari begonnen hatten, erfordert nämlich die neue Abteilung IX, welche die integrale, topologische Neuedition der letzten Notiz- und Schreibhefte Nietzsches aus den Jahren 1885/88 bietet, eine philologische Nietzsche-Hermeneutik. Wir müssen beim Verstehen des von Nietzsche zum Druck Gegebenen – erneut – zunächst die philologische Ebene absolvieren. So wie Montinari die Werk- und Systemerfindungen der Förster-Nietzsche philologisch aufgelöst hatte, so gibt es nun Anlass, auch Montinaris systematische Vermutungen zu Nietzsches Nachlass philologisch zu evaluieren. Das Problem besteht darin, dass wir es bei diesem Nachlass nicht mehr, wie auch Montinari noch annahm, mit ›Aphorismen‹ oder ›Fragmenten‹ zu tun haben, sondern mit etwas, was in gar keinem Sinne mehr Werk heißen kann. Von der Weimarer Editionsleiterin, die diese Abteilung IX herausgibt, Marie-Luise Haase, werden diese Aufzeichnungen Nietzsches deshalb neutral als Notate bezeichnet. Das sind Problemaufrisse, Paraphrasierungen, Lesefrüchte, Stilübungen, die nicht mehr den Rang von Texten neben den veröffentlichten Texten haben; vielmehr wird erst jetzt und erst durch diese Notate eine neue Erschließung des Sinns (und der Genealogie) von Nietzsches Werk möglich. Damit wird eine textförmige Differenz vom veröffentlichten (bzw. zur Veröffentlichung vorgesehenen) ›Werk‹ und nachgelassenen ›Notaten‹, die keineswegs mit dem Gedanken an Veröffentlichung geschrieben wurden, deutlich, die bisher für das Nietzsche-Verstehen als bloß formal abgetan wurde. Wir werden, wenn wir uns der Werk/Notate-Differenz bewusst werden, u.a. mit ein paar langlebigen Idolen der Nietzscheinterpretation aufräumen können: so dem von dessen ›Ambivalenz‹ (Ernst Bertram), seiner ›Zeitlosigkeit‹ (Martin Heidegger) oder eines ›Systems‹ (Förster-Nietzsche). Kurzum, wir sollten jedenfalls sehen, dass sich Nietzsche nicht mehr ›aus einem Punkte‹ heraus kurieren lässt.
Wir müssen also, wie es schon Nietzsche forderte, das langsame Lesen lernen. Künftig gelte es – wenn wir Nietzsches Werk wirklich begreifen wollen –, das Projekt einer unendlichen Philologie von Nietzsches Aphorismen zu beginnen, denn, mit Platen zu sprechen: Wer Nietzsches Sätze angeschaut mit Augen, / Ist dem Tode schon anheimgegeben, / Wird für keinen Dienst auf Erden taugen.
Steffen Dietzsch