von Holger Czitrich-Stahl
Wer im Vorfeld des ersten Weltkrieges nach warnenden Stimmen sucht, wird sie bei der deutschen Sozialdemokratie finden. Dass die SPD den deutschen Militarismus dabei als besonders gefährliches Element brandmarkte, kann durchaus als ein Argument gegen die These Christopher Clarks vom gemeinsamen „Hineinschlittern“ in den Krieg angesehen werden. Es hilft ein Blick in die Jahre vor dem Kriegsausbruch im Sommer 1914, als der internationale Konfliktstoff vernehmbar an Explosionskraft zunahm und sich in ersten regionalen Kriegen äußerte.
Die deutsche Regierung entsandte zur Bekräftigung der „alldeutschen“ Forderung an Frankreich nach Gebietsabtretungen im Kongo das Kanonenboot „Panther“ nach Marokko, das am 1. Juli 1911 in Agadir landete. Umgehend gaben die Staaten der „Entente“ und des „Dreibundes“ sich gegenseitig zu verstehen, dass sie einen deutsch-französischen Krieg um Marokko nicht als den Bündnisfall betrachten würden. Dies zwang im November 1911 die beiden Staaten zu einer Deeskalation und bewahrte sie vor einem früheren Kriegsausbruch.
Dazu trugen gewiss auch die Massenaktionen der Arbeiterbewegung bei. Schon unmittelbar nach dem „Panthersprung“ forderte der „Vorwärts“ am 4. Juli 1911 dazu auf „Zeugnis abzulegen für Freiheit und Frieden, für internationale Solidarität, gegen kapitalistische Völkerverhetzung und koloniale Raubpolitik“. Die Zweite Internationale mobilisierte seit dem 6. Juli für internationale Massenproteste, die Generalkommission der Gewerkschaften führte am 28. Juli in der „Neuen Welt“ eine deutsch-französische Arbeiterkundgebung mit 10.000 Teilnehmern durch. Am 30. August 1911 endlich rief der SPD-Parteivorstand zu Protesten gegen Kriegsgefahr und Lebensmittelteuerung auf. Am 3. September 1911 strömten rund 200.000 Berliner auf die große Wiese im Treptower Park. Es sprachen von zehn Tribünen unter anderem der Reichstagsabgeordnete Arthur Stadthagen und der Stadtverordnete und Reichstagskandidat Karl Liebknecht. Diese Kundgebung wirkte über den Ärmelkanal hinweg: Am 9. September begrüßte der englische Gewerkschaftskongress die Berliner Großdemonstration.
Doch hatte das Deutsche Reich durch seine Risikopolitik andere Konfliktstaaten ermuntert. Schon am 29. September 1911 griff das mit dem Deutschen Reich verbündete Italien das Osmanische Reich an und entriss diesem die heute libyschen Territorien und die heute griechischen Dodekanes-Inseln. Davon angespornt entbrannte im Oktober 1912 der 1. Balkankrieg des „Balkanbundes“ gegen das Osmanische Reich, das dadurch seine Besitzungen auf dem Balkan verlor. Nach kurzem Friedensschluss kam es Ende Juni 1913 zu erneuten Kriegshandlungen, dem 2. Balkankrieg, der der Nachwelt zahlreiche noch heute schwer zu lösende Probleme, z.B. den Status des Kosovo, hinterließ. Sein Ende im Sommer 1913 erbrachte lediglich eine Atempause, denn längst war das Wettrüsten beschleunigt worden.
Die verhängnisvolle Rolle des Deutschen Reiches belegt folgendes: Beinahe wäre es schon Ende 1912 zum Ausbruch eines kriegerischen Großkonfliktes gekommen, denn in einer Geheimbesprechung vom 8. Dezember 1912 auf Einberufung durch Wilhelm II. plädierten der Monarch und Generalstabschef von Moltke für eine Kriegserklärung an Frankreich und Russland. Wilhelm II. sah das Deutsche Reich in der Auseinandersetzung mit dem russischen Panslawismus unvermeidlich vor einer Entscheidungsschlacht. „Wenn Deutschland gezwungen würde, zur Waffe zu greifen, so gehe es nicht nur darum, Österreich zu helfen und Rußland abzuwehren, „sondern sich überhaupt der Slawen zu erwehren und deutsch zu bleiben. Id est, es stand ein Rassenkampf bevor der Germanen gegen die übermütig gewordenen Slawen. Ein Rassenkampf, der uns nicht erspart bleiben wird; denn es handelt sich um die Zukunft der Habsburger Monarchie und die Existenz unseres Vaterlandes.““ Dieses Mal jedoch konnte sich Reichskanzler von Bethmann-Hollweg, der auf die Verständigung mit England setzte, noch einmal durchsetzen.
Die Arbeiterbewegung reagierte prompt. Am 20. Oktober 1912 marschierten fast 250.000 Berliner für ein demokratisches Wahlrecht in Preußen, gegen die steigenden Lebensmittelpreise und gegen die Kriegsgefahr zum Treptower Park. Massive polizeiliche Auflagen sollten die Demonstranten provozieren, der Parteivorstand aber hatte zur größten Disziplin geraten. Auf der Großkundgebung selbst beschlossen die Teilnehmer per Akklamation eine Resolution, in der die deutsche Sozialdemokratie erklärte, gemeinsam mit den Arbeitern aller Länder den Krieg als Begleiterscheinung der Politik des Imperialismus zu bekämpfen.
Doch damit nicht genug: Am 17. November 1912 fanden in den wichtigsten Hauptstädten Europas internationale Protestkundgebungen mit Redneraustausch statt. So sprachen Karl Liebknecht in Budapest, Hermann Molkenbuhr in Amsterdam, Philipp Scheidemann in Paris und Ludwig Frank in London. In Berlin organisierte die SPD sechs Kundgebungen in der „Neuen Welt“, in Kellers Festsälen, der Brauerei Friedrichshain, der Brauerei Königstadt, in den Germania-Sälen und im Moabiter Gesellschaftshaus. Dort sprachen für die SPD Otto Büchner, Richard Fischer, Hugo Haase, Robert Schmidt, Arthur Stadthagen und Fritz Zubeil, die als Gäste Jean Jaurés von den Sozialisten Frankreichs, James O´Grady (Labour Party) und Karl Renner (Sozialdemokratische Arbeiterpartei Österreichs) begrüßten. Rund 150.000 Teilnehmer auf diesen denkwürdigen Berliner Veranstaltungen verliehen diesem Tag den Charakter einer internationalen Solidaritätsdemonstration und trugen vielleicht dazu bei, die Scharfmacher besonders in Berlin und Wien noch in Schach zu halten.
Ein letzter verzweifelter Versuch.
Da der Panslawismus Russlands die slawischen Balkannationen in deren Unabhängigkeitsbestrebungen fort von Istanbul und Wien massiv unterstützte, wurde der Balkan zum Pulverfass, das den Kriegsausbruch erwirkte. Am 28. Juni 1914 wurde in Sarajevo das österreichische Thronfolgerpaar, Erzherzog Franz Ferdinand und seine Frau Sophie durch die Schüsse des serbischen Nationalisten Gavrilo Princip erschossen. Wilhelm Dittmann erinnerte sich: „Das Attentat von Sarajewo führte zu wochenlangen Verhandlungen der deutschen und der österreichischen Regierung über die Frage, ob und wie die Tat gegen Serbien, das man ohne Beweise der Mitwisserschaft beschuldigte, politisch und militärisch auszunutzen sei.“ Die durch das Attentat geschaffene Lage kam den politischen Akteuren im Reich sehr gelegen, man forderte, „die serbische Frage radikal zu lösen, und von der „nationalen“ Öffentlichkeit in Deutschland durfte man erwarten, dass sie die Forderung nach „Satisfaktion“ so unterstützen würde, wie das der zeitgenössischen Duellmentalität entsprach.“ (Heinrich August Winkler) Dabei nahmen die Regierenden billigend in Kauf, dass ein solcher Krieg lokal kaum zu begrenzen sei, da Russland, Frankreich und England einerseits und das Deutsche Reich andererseits bündnispolitisch mit Bestimmtheit in die Kriegshandlungen hineingezogen werden würden. Mancher hoffte gar auf den großen Krieg. Ein „Hineinschlittern“ - wohl kaum.
Schließlich erteilte die deutsche Regierung der Regierung in Wien jenen verhängnisvollen „Blankoscheck“, der die Ereignisspirale beschleunigte: Reichskanzler Bethmann-Hollweg machte am 6. Juli 1914 klar, dass es an Österreich-Ungarn liege, zu beurteilen, was geschehen müsse, um das Verhältnis zu Serbien zu klären. Die Regierung in Wien könne hierbei – wie auch immer die Entscheidung ausfallen möge – mit Sicherheit darauf rechnen, dass Deutschland als Bundesgenosse hinter ihr stehe. Im Grunde drängte die deutsche Regierung unter Theobald von Bethmann-Hollweg auf einen Präventivkrieg und trieb Wien daher zur Eile.
Wien stellte vor diesem Hintergrund am 23. Juli 1914 der serbischen Regierung ein auf 48 Stunden befristetes Ultimatum mit weit reichenden Forderungen. Wien forderte von Belgrad die völlige Einstellung aller gegen die Habsburgermonarchie gerichteten Propaganda und vor allem die eigene Beteiligung an Maßnahmen zur Niederschlagung der antihabsburgischen Bewegungen und an der Untersuchung des Attentats. Da diese Forderungen Wiens einem eklatanten Eingriff in die Souveränität Serbiens gleichkamen und ein Höchstmaß an Misstrauen und Geringschätzung zum Ausdruck brachten, waren sie für Belgrad im Grunde nicht annehmbar. Die serbische Regierung reagierte am 25. Juli durchaus entgegenkommend und diplomatisch geschickt und lehnte lediglich aus Souveränitätsgründen die Beteiligung Wiens an den gerichtlichen Untersuchungen ab. Noch am 28. Juli brach Wien die diplomatischen Beziehungen zu Belgrad ab, befahl die Teilmobilmachung und erklärte Serbien den Krieg.
In dieser dramatischen Lage veröffentlichte der Parteivorstand der SPD am 25. Juli 1914 einen Aufruf zur Veranstaltung von Massenversammlungen für den Frieden. Darin verurteilte der Parteivorstand scharf und ausdrücklich die Kriegsprovokation des Habsburgerreichs gegen Serbien und forderte die deutsche Reichsregierung auf, mäßigend auf die Regierung in Wien einzuwirken. „Kein Blut eines deutschen Soldaten darf dem Machtkitzel der österreichischen Gewalthaber, den imperialistischen Profitinteressen geopfert werden.“ Der Parteivorstand rief die deutsche Arbeiterklasse auf, „sofort in Massenveranstaltungen den unerschütterlichen Friedenswillen des klassenbewussten Proletariats zum Ausdruck zu bringen. Eine ernste Stunde ist gekommen, ernster als irgendeine der letzten Jahrzehnte. Gefahr ist im Verzuge! Der Weltkrieg droht! Die herrschenden Klassen, die euch im Frieden knebeln, verachten, ausnutzen, wollen euch als Kanonenfutter missbrauchen. Überall muss den Gewalthabern in die Ohren klingen: Wir wollen keinen Krieg! Nieder mit dem Kriege! Hoch die internationale Arbeiterverbrüderung!“ Die deutsche Arbeiterbewegung, so schien es, war bereit, den Kampf gegen den Krieg entschlossen aufzunehmen. Allein in der Hauptstadt fanden 32 Antikriegskundgebungen mit rund 30000 Teilnehmern statt, für das gesamte Reich schwankten die Schätzungen zwischen einer halben Million und „Millionen von Versammlungsteilnehmern“. In der „Brauerei Friedrichshain“ trat der Reichstagsabgeordnete Oskar Cohn auf. Zehntausende protestierten „Unter den Linden“ gegen den drohenden Krieg. Weitere Kundgebungen fanden u.a. im Gewerkschaftshaus, in den „Germania-Sälen“, im Moabiter Gesellschaftshaus, in den „Berliner Musiker-Sälen“ und in den „Pharus-Sälen“ in der Müllerstraße 142 statt. Von einer Kriegsbegeisterung der Arbeiterschaft konnte laut dem „Vorwärts“ vom 29. Juli also nicht die Rede sein: „Es ist also nicht wahr, dass die großen Massen dieser Länder sich in kriegerischer Stimmung befinden. Sie wollen vielmehr allen Chauvinisten zum Trotz den Frieden der Welt“ hieß es mit Blick auf die gleichzeitig stattfindenden Proteste z.B. in Brüssel, die von der II. Internationale organisiert wurden und mit denen die Arbeiterbewegung der Katastrophe im letzten Moment zu begegnen suchte.
In den „Armin-Hallen“ in der Kommandantenstraße 58/59 sprach Arthur Stadthagen, von dieser Veranstaltung liegt im Landesarchiv eine Polizeimitschrift vor. Um 8 Uhr abends begann diese Veranstaltung der SPD Groß-Berlins und wurde laut Polizeibericht „von 750 Personen beiderlei Geschlechts besucht. Den Ausführungen des Referenten wurde mit stellenweise stürmischem Beifall gefolgt“.
Stadthagen eröffnete seine Rede mit den Worten „Gegen den Krieg müssen wir uns wenden, insbesondere dagegen wenden, dass Deutschland in den Krieg hinein gezogen wird. Sie wissen, dass Österreich-Ungarn plötzlich unannehmbare Forderungen an Serbien gestellt hat, Forderungen, die gleich waren einer Kriegserklärung. Heute ist offiziell diese Kriegserklärung abgegangen.“
Weiter führte er aus: „Österreich will den Krieg. Das geht mit aller Deutlichkeit aus dem bürgerlichen Blätterwald in Österreich hervor. Und das alles aus imperialistischen Rücksichten. Man will annektieren, man will das Völkergemisch, das sich Österreich nennt, um ein weiteres Serbien vergrößern, damit die serbische Nation als solche nicht zusammenkomme“. Abhebend auf die Ablenkungsfunktion des Krieges für die innenpolitische Lage der K.u.K.-Monarchie folgerte Stadthagen: „Der Krieg ist erklärt. 50 Millionen Österreich-Ungarn werden gegen die 4 – 5 Millionen Serben kämpfen. Man wartet darauf, dass Russland sich hineinmische, damit dann auch die übrigen Großmächte sich in den Krieg hineinstürzen.“ Er forderte die Reichsregierung auf, dass sie „ihre Macht einsetze, um nicht nur den Weltkrieg zu verhindern, sondern auch den kleinen Krieg, sondern auch um den kleinen Krieg, der jeden Augenblick zum Weltkriege führen kann, beizulegen.“
Stadthagen sah eine diplomatische Chance zur Friedenswahrung in bi- und multilateralen Verhandlungen, wobei Deutschland die Nähe zu Frankreich, England und Italien suchen solle. Der konservativen Presse und der deutschen Regierung aber warf er vor: „Von den Hetzern aber wird behauptet, Deutschland könne nicht (den Friedensbemühungen, H.Cz) beitreten, weil die Genehmigung von Österreich-Ungarn fehle. Wenn das wahr wäre, dann wären wir Vasallen, Untertanen von Österreich. Das heißt Deutschland selbst aufgeben. Der Krieg ist vielmehr ein Verbrechen, das zu verhüten die deutsche Regierung verpflichtet ist.“
Dass es anders kam und auch die Reichstagsfraktion sich anders positionierte, als es noch am 28. Juli zu erwarten war, gehört sicherlich zu den schicksalsschwersten Entwicklungen in der deutschen Sozialdemokratie. Letztlich stand auch sie am 28. Juli 1914 ratlos vor der Frage, was denn im Falle des Kriegsausbruchs zu tun sei.