von Ulrich Horb
Transparenz, Freiheit, Demokratie, Bürgerrechte – mit diesen Begriffen ist die Piratenpartei in die politische Auseinandersetzung gezogen. Ihr Erfolg machte den Vertrauensverlust in die großen Parteien der Bundesrepublik deutlich. Jetzt sind die Piraten selbst davon betroffen. Die technischen Instrumente, die für mehr Beteiligungsmöglichkeiten sorgen sollten, haben die Partei nicht davor bewahrt, mit Zank und Streit die Nachrichten zu füllen. Sinnvolle Entscheidungsstrukturen entstanden nicht, es gelang nicht, ein überzeugendes und verbindendes Wertesystem zu entwickeln und nach außen zu vermitteln.
Die Piratenpartei hat den Anspruch erhoben, anders als alle andere Parteien zu sein. Sie wehrte sich gegen eine Einordnung in ein Links-Rechts-Schema, wollte verkrustete Strukturen aufbrechen, versprach Partizipation, erschien unverbraucht. Darin lag ihr schneller Erfolg begründet, die Versprechen jedoch konnten nicht eingelöst werden. Selbst in Berlin, wo den Piraten 2011 der Einzug ins Abgeordnetenhaus gelang und ihnen die Meinungsforscher von Forsa noch im Mai 2012 bis zu 16 Prozent attestierten, liegen sie vor der Bundestagswahl 2013 unter der 5-Prozenthürde. Die Partei ist in der Realität angekommen, sie bietet nicht mehr wie in der Anfangsphase eine diffuse Projektionsfläche für Hoffnungen und Erwartungen. Auch die massenhafte Ausspähung von Daten durch Geheimdienste, ein Thema, das die Kernkompetenz der Piraten betrifft, sorgte acht Wochen vor der Bundestagswahl für keine erkennbare Wählerbewegung. Ob den Piraten in der Wahlkampfschlussphase damit noch eine Mobilisierung gelingt, ist zumindest fraglich, denn eine überzeugendere Lösung als andere Oppositionsparteien können auch sie nicht anbieten.
Programm- und Mitgliederentwicklung
Von der Ein-Themen-Partei hatte sich die Piratenpartei im Laufe der ersten sechs Jahre zu einer Partei entwickelt, die verschiedene soziale Gruppen programmatisch anzusprechen vermochte. Ihr Erfolg fiel in eine Zeit, in der die Folgen einer neoliberalen Politik in wachsender sozialer und politischer Unsicherheit sichtbar wurden, der Einfluss von Politik gegenüber der Wirtschaft schwand und die bisher in den Parlamenten vertretenen Parteien nicht in der Lage erschienen, neue Antworten zu geben.
Die Entwicklung der Piratenpartei hat in Deutschland mehrere Phasen durchlaufen. 2006 wurde sie in Berlin gegründet. 53 Gründungsteilnehmer kamen dazu im September zusammen, ein dreiviertel Jahr, nachdem in Schweden eine Piratpartiet entstanden war.
Die Gründung des schwedischen Vorbilds hatte einen konkreten Auslöser in den Auseinandersetzungen um die Internet-Plattform Pirate Bay, einem in Schweden stehenden Internetserver, der von Mitgliedern der Anti-Copyright-Organisation Piratbyrån ans Netz gebracht worden war. 2005 hatte Schweden ein Gesetz verabschiedet, das nicht nur das Hochladen - und damit Anbieten - von urheberrechtlich geschütztem Material unter Strafe stellte, sondern auch das Herunterladen. Pirate Bay bot zwar selbst keine geschützten Dateien zum Download an, war aber ein wichtiges Hilfsmittel und ein Wegweiser für die Suche nach Musiktiteln oder Videos in den Internet-Tauschbörsen. Im Mai 2006 wurde der Server von der Polizei beschlagnahmt, gerichtliche Auseinandersetzungen folgten. Die Betreiber wurden in erster Instanz zu Haftstrafen und hohem Schadensersatz verurteilt, was zu Demonstrationen und einem - allerdings nur vorübergehenden - Zulauf bei der schwedischen Piratenpartei führte.
Die neue Partei aus Aktivisten der Anti-Copyright-Bewegung war damit zunächst zu einer Interessenvertretung für die vielfach jugendlichen Nutzer illegaler Downloadangebote und Tauschbörsen geworden, die sich in Schweden wie in vielen anderen Ländern kriminalisiert fühlten und von Abmahnanwälten und Unterhaltungsindustrie verfolgt. Die digitale Revolution hatte nun zwar ihre Partei. Aber anders als etwa die in der Folge der industriellen Revolution in vielen Ländern entstandenen Arbeiterparteien, die die sozialen und politischen Rechte der abhängig Beschäftigten zu ihrem Anliegen machten, war sie nicht eine politische Vertretung der Beschäftigten in den neu entstandenen oft unsicheren Arbeitsverhältnissen in Internetfirmen und Medien. Werte wie Gerechtigkeit oder Solidarität spielten eine eher geringe Rolle. Freiheit wurde weitgehend als Freiheit des Einzelnen etwa auf den ungehinderten Zugang zu Daten und Informationen begriffen, die gegen einen Staat zu verteidigen sei, der die Interessen der Industrie wahrnehme oder selbst ein Interesse an der Überwachung seiner Bürgerinnen und Bürger habe. „Die primären Ziele dieser Bewegung sind die Freiheit des Wissens und der Kultur und die Wahrung der Privatsphäre“, so die deutsche Piratenpartei in ihrer Gründungserklärung 2006.
Mit dem Wahlkampf 2009 und dem ersten Erfolg bei der Bundestagswahl - die Ergebnisse bewegten sich regional zwischen 1,2 und über sechs Prozent – wuchs die Mitgliederzahl der Piratenpartei von weniger als 5000 Anfang August 2009 auf deutlich über 11.000 im November 2009. Damit veränderte sich die Struktur nachhaltig, unterschiedliche Erfahrungen und unterschiedliche politische Kulturen trafen stärker aufeinander. Während viele der Parteigründer der Anfangsphase zuvor keine politischen Erfahrungen gesammelt hatten, brachten einige der neuen Mitglieder Erfahrungen aus Parteien, Organisationen und Bewegungen mit. In einer immer noch kleinen und mitgliederarmen Partei konnten Ideen zum Zuge kommen, die in den größeren und erst recht in den Regierungsverantwortung tragenden Parteien keine Chance haben, weil sowohl die Umsetzbarkeit als auch die Übereinstimmung von Ideen mit dem jeweiligen Wertesystem der Partei eine größere Rolle spielen. Das betrifft etwa die Befürwortung eines bedingungslosen Grundeinkommens oder Positionen zur Drogenpolitik, Themen, die zuvor bereits bei Grünen, Linken oder auch in der SPD diskutiert worden waren, ohne sich dort durchsetzen zu können. Die gute Vernetzung der Mitglieder der Piratenpartei führte aber auch dazu, dass Themen neuer Protestbewegungen wie der Occupy-Bewegung rasch Eingang in die neue Partei fanden, während bestehende Parteien dazu neigen, neue Bewegungen eher als gegen sich gerichtet zu empfinden.
Schneller Aufstieg
Auf dem Bundesparteitag der Piraten im November 2010 in Chemnitz trafen die unterschiedlichen Vorstellungen aufeinander: Während ein Teil der Mitglieder die Konzentration der Partei auf das Kernthema Netzpolitik einforderte, wollte der andere ein Vollprogramm. Mit der letztlich durchgesetzten Erweiterung des Programms löste sich die deutsche Piratenpartei von ihrem schwedischen Vorbild.
Während in Schweden die Mitgliederzahl der Piratenpartei von 40.000 im Jahr 2006 auf nur noch 8000 im Jahr 2011 einbrach, hatte die deutsche Piratenpartei sechs Jahre nach ihrer Gründung in Umfragen wie Mitgliederentwicklung einen vorläufigen Höhepunkt erreicht. Allerdings lagen in der programmatischen Erweiterung und den damit einhergehenden Festlegungen auch das Risiko, Mitglieder oder auch ganze Wählergruppen zu verprellen.
Bei der Berliner Abgeordnetenhauswahl 2011 führten unterschiedliche Faktoren – Unzufriedenheit mit den bisherigen Parteien und ihrer Politik, Protest, Neugier auf die Andersartigkeit der Piraten, Verbundenheit mit dem Milieu der Piratenpartei und das Gefühl, der Wahlausgang sei ohnehin klar - zum ersten Einzug der Piratenpartei in ein Landesparlament. Die Wahl schien spätestens zugunsten des Amtsinhabers Klaus Wowereit entschieden, als die grüne Spitzenkandidatin 14 Tage vor der Wahl den zuvor von ihr gepflegten Spekulationen über eine Koalition mit der CDU eine Absage erteilte. Die CDU hatte keine eigene Regierungsperspektive, die FDP war praktisch nicht mehr vorhanden, die Grünen hatten einen Teil ihrer Wähler durch ihre Unentschiedenheit verloren, die Linkspartei vermochte ihren Wählerinnen und Wählern den Spagat zwischen Fundamentalopposition auf Bundesebene und Mitgestaltungswillen auf Landesebene nicht zu vermitteln.
Damit rückte eine Partei in den Blick, die die politischen Rituale insgesamt in Frage stellte, Transparenz und ein lösungsorientiertes Herangehen versprach, frischer als die Grünen, undogmatischer als die Linkspartei und respektabler als die Rechtspopulisten wirkte, zudem in der Hauptstadt der Kreativwirtschaft besonders gut vernetzt war und im innerstädtischen Raum auch mit ihren Plakaten auffiel. Die Piratenpartei, deren Programm bis auf wenige Plakataussagen weitgehend unbekannt blieb, bot die passende Projektionsfläche für alle möglichen Erwartungen. Nicht nur aus dem Lager von Grünen und SPD gewannen die Piraten in Berlin dazu, 23.000 Stimmen konnten auch aus dem Nichtwähler-Lager mobilisiert werden, allerdings ohne dass die Wahlbeteiligung insgesamt stieg.
Der Einzug ins Berliner Abgeordnetenhaus wurde ein wichtiger Entwicklungsschritt für die Piratenpartei. Hatte sie schon zuvor im Internet Themen setzen können, so wuchs nun mit steigenden Umfrageerfolgen das Interesse der Medien weiter. Die Mitgliederzahl stieg bundesweit von 12.094 am 15. September 2011 auf nominell 23.211 am 15. März 2012. Allerdings: Stimmberechtigt, weil Beitrag zahlend, waren nur etwa die Hälfte der Mitglieder. Hier hat sich die Schere inzwischen sogar noch weiter geöffnet: Im Sommer 2013 verzeichnete die Partei 31.663 registrierte Mitglieder, nur etwa ein Drittel, 10.894 Mitglieder, zahlte Beiträge und konnte damit mitentscheiden.
Das Meinungsforschungsinstitut Emnid diagnostizierte im April 2012, dass rund die Hälfte aller Wählerinnen und Wähler die Piraten sympathisch finden, nur 15 Prozent billigten ihnen jedoch Kompetenz zu. 72 Prozent wählten die Piraten aus Unzufriedenheit über andere Parteien. Über 80 Prozent sahen den Erfolg in ihrer Andersartigkeit.
Antworten auf die digitale Revolution
Diese Andersartigkeit fällt mit den gesellschaftlichen Umbrüchen und dem Vertrauensverlust der bisher im Parlament vertretenen Parteien zusammen.
Die digitale Revolution hat die Beschäftigungssituation und den Arbeitsalltag in vielen Gesellschaften nachhaltig verändert, nicht nur in den Kernbereichen der Kreativwirtschaft. Mitte der neunziger Jahre hatte der US-amerikanische Wirtschaftswissenschaftler und Soziologe Jeremy Rifkin als Folge der digitalen Revolution steigende Arbeitslosigkeit durch den Wegfall von Millionen von Arbeitsplätzen in Produktion, Einzelhandel, Landwirtschaft und Dienstleistungssektor vorhergesagt und damit die Debatte um Senkung von Wochenarbeitszeiten befördert. „In den Vereinigten Staaten sank der Anteil der Fabrikarbeiter an den Erwerbstätigen in den vergangenen dreißig Jahren von 33 Prozent auf unter 17 Prozent, obwohl die Industrieproduktion kräftig stieg“, so Rifkin 1997. Im Laufe des nächsten Vierteljahrhunderts könne man „die praktische Abschaffung des Fließbandarbeiters im Produktionsprozess“ erleben. Aber nicht nur das - auch der Dienstleistungssektor werde nun von der Automatisierung erfasst. Rifkins skeptischer Ausblick: „Der Informationsbereich wird gewiss einige neue Arbeitsplätze schaffen, doch es werden zu wenige sein, um die Millionen von Angestellten und Arbeitern aufzunehmen, die von den neuen Technologien verdrängt wurden.“ Die bereits vollzogenen Entwicklungen haben in Gewerkschaften und Sozialdemokratie zu erkennbaren Brüchen und Strukturveränderungen in der Mitgliedschaft und zur Suche nach neuen gesellschaftlichen Bündnissen geführt. In den neunziger Jahren ging die deutsche Sozialdemokratie auf Distanz zu den als zu wenig zeitgemäß empfundenen Gewerkschaften, um sich der „neuen Mitte“ zuwenden zu können, gewann mit dem Anspruch von Modernisierung und Erneuerung die Bundestagswahl 1998, öffnete aber zugleich Spielräume für eine – zumindest vorübergehend – erstarkende Linkspartei.
Die technische Entwicklung warf neue Fragen auf, was den Schutz von Daten und Privatsphäre angeht, den freien Zugang zu Informationen oder die Nutzung des Internets für neue Formen der Beteiligung an demokratischen Prozessen. Und schneller als die industrielle Revolution, die durch Massenfertigung Produkte günstig zur Verfügung stellte, hat die digitale Revolution mit einem großen kostenlosen Informationsangebot Konsumgewohnheiten verändert.
Ihren Niederschlag hat die Entwicklung - mehr oder weniger ausgeprägt - in den Debatten aller Parteien gefunden. Ging es ihnen zunächst um die effiziente Nutzung des Internets als Plattform der Eigendarstellung für ihre politischen Ziele, so haben die Parteien zunehmend den Wirtschaftsfaktor Internet in den Mittelpunkt ihrer Betrachtung gestellt und daneben auf die sich neu stellenden rechtlichen Fragen reagiert. Einerseits wurden engere Kontakte zu Firmen der Internetbranche gesucht, weil dies auch Ausdruck der Modernität einer Partei war, andererseits wurden restriktive Maßnahmen gefordert. So verlangten beispielsweise die CDU-Innenminister im Frühjahr 2006 das Verbot von „Killerspielen“ und von den Betreibern von Internet-Cafés "geeignete technische Maßnahmen" wie den Einbau von Filtern, um Jugendlichen den Zugang zu Online-Schießspielen zu sperren.
Damit waren die Parteien von der Lebenswirklichkeit der Internetnutzer allerdings weit entfernt. Jugendliche erfuhren viele der kritisierten „Ballerspiele“ im Internet durchaus positiv als eine neue Möglichkeit, in Teams mit örtlich weit entfernten Mitspielern zusammenzuarbeiten und sich für ihre Fertigkeiten in den Spielen ungeachtet ihrer sozialen oder regionalen Herkunft Achtung zu verschaffen. Studenten vernetzten sich in dem als „deutsches Facebook“ gestarteten sozialen Netzwerk StudiVZ, auch für Schülerinnen und Schüler entstanden eigene Angebote zur Vernetzung und zum Informationsaustausch – mit negativen Begleiterscheinungen wie der Verbreitung von Mobbing, aber auch mit hohem Nutzwert. Mit Facebook selbst ist diese Entwicklung inzwischen in der Mitte der Gesellschaft angekommen. In all diesen Netzwerken und Zusammenhängen spielt Individualität eine große Rolle, die Teilnehmer agieren auch, wenn sie zusammenwirken, räumlich und oft auch zeitlich getrennt. Und während bei herkömmlichen Protestformen wie Demonstrationen sofort ein Zusammengehörigkeitsgefühl sichtbar wird, erfährt beispielsweise der Unterzeichner einer Online-Petition erst mit zeitlicher Verzögerung, ob er Teil einer größeren Bewegung ist.
In die im Bundestag oder den Länderparlamenten vertretenen Parteien schwappten die neueren Erfahrungen meist über die eher geringe Zahl jüngerer internetaffiner Mitglieder, die zudem in wesentlichen Fragen nicht über Mehrheiten zur Durchsetzung ihrer Ideen verfügten. So gab die Debatte um Internet-Zugangssperren, um den Zugang zu kinderpornografischem Material zu erschweren - wie sie die CDU 2009 mit mehrheitlicher Zustimmung des Koalitionspartners SPD verlangte - der Piratenpartei vor der Bundeswahl deutlichen Auftrieb, sie kam schließlich auf 2 Prozent (847.870 Stimmen). Denn ein solcher staatlicher Eingriff hätte hohen technischen Überwachungsaufwand bedeutet, der auch zu anderen Zwecken hätte genutzt werden können, er wäre aber leicht zu umgehen gewesen.
Auch die geplante Speicherung von Internet- und Telefonverbindungsdaten mobilisierte eine kritische Öffentlichkeit. Die Bundesregierung verfolgte IT-Großprojekte wie die elektronische Gesundheitskarte oder das elektronische Entgeltnachweis-Verfahren ELENA. Beide Systeme sollten in großem Umfang Daten verfügbar machen oder zusammenführen, erwiesen sich allerdings letztlich als technisch kaum realisierbar. Die Gesundheitskarte wird mit deutlich weniger Funktionen eingeführt als geplant, ELENA ist ganz gescheitert. Das Thema Bürgerrechte, von der neoliberal gewendeten Wirtschaftspartei FPD nicht mehr besetzt, bescherte der Piratenpartei neue öffentliche Aufmerksamkeit und Unterstützung.
Parteien und Postdemokratie
Seit den siebziger Jahren haben sich in vielen Ländern neoliberale Wirtschaftsmodelle durchgesetzt. Sie haben die Arbeits- und Lebensbedingungen verändert, zu einem Auseinanderdriften von Arm und Reich geführt und die großen multinational agierenden Konzerne gestärkt.
Zu den Strukturen traditioneller Parteien gehört die Entscheidungsfindung über ein Delegiertensystem und Parteitage. Interne Willensbildung unterliegt dabei zunehmend auch dem Einfluss von externen Medien, die die Sicht von Parteimitgliedern auf politische Entscheidungen und auf ihre eigene Partei prägen. Debatten sollen nach dem Willen der Parteiführungen in der Regel intern geführt werden, nach außen sollen Parteien geschlossen wirken, um potenzielle Wählerinnen und Wähler nicht zu irritieren. Die Außendarstellung liegt allein in den Händen eines gewählten Vorstands. Zwar gibt es immer wieder abweichende Einzelmeinungen von Funktionären - die nur so auch eine Chance auf Medienaufmerksamkeit haben -, doch wird in allen Parteien versucht, derartige Äußerungen auf ein Mindestmaß zu begrenzen. Debatten in offenen Foren wie im Internet oder Kommentarmöglichkeiten wurden daher lange Zeit als schädlich empfunden, für Vorstände könnten sie einen Kontrollverlust bedeuten. Vorfestlegungen von Vorständen in Sach- und Personalfragen werden nicht selten von Parteitagsmehrheiten auch deshalb bestätigt, weil Delegierte ihre Vorstände nicht „beschädigen“ wollen. An vielen Abwägungen und Entscheidungsfindungen von Parteien, die einen Prozess transparenter machen könnten, kann die Öffentlichkeit nicht teilhaben, nur die Ergebnisse selbst werden mitgeteilt.
Der Vertrauensverlust, der die Regierungsparteien ebenso wie die Oppositionsparteien erfasst hat, ist aus einer Vielzahl von Elementen gespeist worden. Er hat mit nicht eingelösten Wahlversprechen zu tun (wie bei der Mehrwertsteuererhöhung, die die SPD vor der Wahl 2005 vehement abgelehnt hatte), mit dem Eindruck von Gefälligkeitsentscheidungen (wie bei der von der FDP durchgesetzten Mehrwertsteuersenkung für Hotels) , mit dem Glaubwürdigkeitsverlust einzelner Parteivertreter (wie in der Affäre Guttenberg), mit der Ohnmächtigkeit von Politik in entscheidenden Fragen (wie in der Finanz- und Bankenkrise), mit ritualisierten Auseinandersetzungen.
Politik imitiere „Methoden anderer gesellschaftlicher Bereiche, deren Selbstvertrauen und Selbstsicherheit weitgehend intakt sind: des Showbusiness und des Marketing“, so Colin Crouch in seiner Beschreibung der Postdemokratie. Die Techniken zur Manipulation der öffentlichen Meinung als auch die Mechanismen, mit denen sich die Politik der öffentlichen Kritik und Überprüfung öffne, würden raffinierter, stellt Crouch fest. „Parallel dazu werden die Parteiprogramme (wird die Rivalität zwischen den Parteien selbst) inhaltlich immer farbloser und oberflächlicher.“
Die Piratenpartei setzte dem ein System entgegen, bei dem einem Vorstand keine entscheidende Funktion zukommt, das keine Delegierten zu Parteitagen kennt und die Entscheidungsfindung mittels technischer Verfahren möglich machen soll. Vorhandene Lücken im Programm wurden offen zugegeben. Damit wirkte sie gegenüber Parteien, die öffentlich keine Fehler oder Schwächen eingestehen wollen, zunächst authentischer.
Die Gründer der Piratenpartei brachten Verfahren in die Entscheidungsfindungen ein, die die meisten von ihnen auch in ihren beruflichen Zusammenhängen einsetzen. Sie nutzen Abfragen, kennen die Programmentwicklung in Teams, sie wissen, dass Ergebnisse auf unterschiedlichen Wegen zu erreichen sind, sie arbeiten zielgerichtet und lösungsorientiert. So werden in öffentlich zugänglichen „Wikis“ Beiträge oder Protokolle gesammelt und von verschiedenen Mitgliedern bearbeitet, in „Pads“ schreiben mehrere Autoren gemeinsam an Texten. Durch die Beiträge vieler soll die „Intelligenz des Schwarms“ genutzt werden, ähnlich wie bei der Online-Enzyklopädie Wikipedia, in der Beiträge weiterentwickelt und Fehler korrigiert werden. Die Piraten gehören zu den ersten, die mit „Liquid Feedback“ ein System zur Beteiligung an der Erarbeitung von Anträgen und der Abstimmung nutzen, das der Verein „Liquid Democracy e. V.“ entwickelt, um Organisationen und Vereinen ein Partizipationsinstrument für Mitglieder oder die Beteiligung von Bürgerinnen und Bürgern anzubieten. Inzwischen haben auch die SPD und die Linkspartei das System probeweise eingesetzt. Direkte Demokratie soll damit stärker an die Stelle repräsentativer Elemente treten, die als bevormundend angesehen werden.
Den Unterschied zu anderen Parteien beschriebt Marina Weisband, bis April 2012 Politische Geschäftsführerin der Piratenpartei: „Ich denke nicht, dass die anderen Parteien alles falsch machen. Mehr noch, ich denke, sie haben alles richtig gemacht. Für die Zeit, in der sie sich gegründet und entwickelt haben. Ich denke, dass sie eine sehr gute Basis geschaffen haben. Alles, was Piraten sagen, ist, dass es Zeit ist, sich weiter zu entwickeln.“
Piraten im Praxistest
Was diese Angebote zur Weiterentwicklung taugen, wurde inzwischen im Alltag sichtbar. Wenn Partei im traditionellen Sinn eine Ideen- und Wertegemeinschaft ist, Mitwirkung an politischen Prozessen, Debatte und Auseinandersetzung auf Basis der gemeinsamen Überzeugungen bedeutet, dann gibt es tatsächlich deutliche Unterschiede.
Weiterentwicklung bedeutet im Selbstverständnis der Piratenpartei auch, sich nicht mit herkömmlichen politischen Zuordnungen wie rechts oder links festlegen lassen zu wollen. „Ich lehne das ab, mich in einem politischen Spektrum einzusortieren. Ich finde das zu schematisch“, sagte etwa der Bundesvorsitzende Bernd Schlömer in einem Interview mit der taz. „Wenn Sie mich politisch beschreiben wollen, dann vielleicht am ehesten als einen Hanseaten: urban, weltoffen, tolerant und liberal. Das ist aus meiner Sicht auch das, wofür die Piraten stehen.“
Mit einer solchen Definition wagte sich Schlömer bereits weit vor. Denn eigentlich sollen Piraten-Vorsitzende mit persönlichen politischen Einschätzungen zurückhaltend sein, sie sollen koordinieren, organisieren und verwalten. Das aber kollidiert mit dem Wunsch der Medien, die sich bestimmte, für sie interessante Gesprächspartner heraussuchen und ihnen damit eine Rolle zuteilwerden lassen, die von der Partei eigentlich nicht gewünscht ist. Aber nur so lassen sich Forderungen der Piratenpartei - von Wahlkämpfen abgesehen - medial transportieren. So wurde die frühere Bundesgeschäftsführerin Marina Weisband, zu diesem Zeitpunkt eine von zwei Frauen im Bundesvorstand, zu einem „Gesicht“ der Piraten. Ihre Aussagen, ihr Denken wurde mit dem der Piratenpartei gleichgesetzt. Nach einem Jahr Tätigkeit zog sie sich zurück, weil sie die Belastung nicht mehr ertragen konnte.
Mit dem Anstieg der Mitgliederzahlen und wachsender Heterogenität haben inhaltliche Konflikte, aber vor allem zwischenmenschliche Auseinandersetzungen in der Piratenpartei zugenommen. Die Partei hatte vereinzelt Menschen mit populistischen und rechtsextremen Vorstellungen und ehemalige NPD-Mitglieder angezogen, von denen sie sich nur mühsam wieder zu trennen vermochte, auch weil einige Mitglieder der Piratenpartei das unter Hinweis auf Meinungsfreiheit verteidigten. Eine öffentliche Debatte führte letztlich dazu, dass der Bundesparteitag der Piraten eine Distanzierung beschloss.
Außerhalb der Piratenpartei wurden weniger die Ergebnisse von Abstimmungsprozessen und inhaltlichen Debatten wahrgenommen. Für Aufmerksamkeit sorgten vielmehr persönliche Querelen, ob in der Berliner Abgeordnetenhausfraktion oder zwischen dem zwischenzeitlichen Bundesgeschäftsführer Ponader und Teilen des Vorstands. Mitglieder der Piraten zeigten sich gegenseitig an, klagten vor Gericht gegen Bezeichnungen wie „kleiner Faschist“. Über Twitter wurden gegenseitige Beleidigungen verbreitet, in Blogs zogen Piraten übereinander her und veröffentlichten den internen Mailverkehr miteinander. Auf einem im Internet geposteten Foto grüßten Mitglieder eines Landesverbandes den Bundesvorsitzenden Schlömer mit dem Stinkefinger. Wie in etlichen Internetforen bestimmen „Trolle“, destruktive Diskutanten, einen Teil der Kommunikationskultur. Auch Piratenabgeordnete beschäftigten, bis es zu Protesten kam, Lebenspartner als bezahlte Mitarbeiter. Verbanden anfangs Mitglieder der Piratenpartei noch gemeinsame Erfahrungen und Lebensgefühl, so ging dies im Laufe der Verbreiterung der Mitgliedschaft verloren, ein neues gemeinsames Wertegerüst ließ sich nicht entwickeln. Zumindest im persönlichen Umgang miteinander ist von den Piraten nichts Beispielgebendes geblieben.
Und auch formale Beteiligungsmöglichkeiten durch Internetabstimmungen sind noch nicht Ausdruck besserer innerparteilicher Demokratie. Stephan Urbach, inzwischen ausgetretener Berliner Bundestagskandidat der Piraten, brachte es in einem Interview noch während seiner Mitgliedschaft auf den Punkt: „Die Basisdemokratie ist die Lebenslüge der Piratenpartei. Wir sind jetzt eine Elitendemokratie – oder Geldoligarchie.“ Zwar kann, weil es kein Delegiertensystem gibt, auf Bundesparteitagen jede und jeder abstimmen, der seine Beiträge gezahlt hat – zugleich aber müssen die Piraten auch über die Zeit und das notwendige Geld für die Fahrtkosten verfügen. Und selbst auf Bundesparteitagen wurden mitunter Abstimmungen wiederholt, um noch einmal zu anderen Ergebnissen zu kommen. Online-Beteiligungsverfahren setzen zum Teil technische Kenntnisse voraus, über die auch ein Teil der Wählerinnen und Wähler der Piraten nicht verfügt.
Politik und Transparenz
Nicht alle Grundannahmen der Piraten über mangelnde Transparenz von Verwaltung und parlamentarischem System stimmten wohl auch. So stellten die neuen Berliner Piraten-Parlamentarier fest, dass Ausschuss-Sitzungen im Landesparlament oder in den Bezirksverordnetenversammlungen überwiegend öffentlich sind. Wenn sie dennoch unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfinden, dann mangels Interesse. Eine Erfahrung, die auch die Piraten machen mussten: Nach der ersten öffentlichen Fraktionssitzung der Berliner Piraten sank das Medieninteresse wie auch das öffentliche Interesse drastisch, eine Berichterstattung findet faktisch nicht mehr statt.
Erhard Eppler verwies mit der Erfahrung von sechzig Jahren politischer Arbeit auf die Grenzen des Prinzips Transparenz: „Wo auch immer ein eigentlich intern beratendes Gremium öffentlich diskutierte, hatte dies, neben der Freude der wenigen Interessierten, zwei Folgen: Es wurden erstens die Kompromisse schwieriger, weil bei Fensterrednern mehr Eitelkeiten ins Spiel kommen. Und zweitens wanderten die Entscheidungen in kleinere Kreise oder gar Kungelrunden ab.“
So wie auch die Piraten inzwischen bestimmte Themen nur intern beraten, so haben umgekehrt andere Parteien für mehr Transparenz und Beteiligungsmöglichkeiten gesorgt. SPD und Grüne luden im Vorfeld der Verabschiedung ihrer Wahlprogramme zu öffentlicher Beteiligung. Neben das Delegiertensystem sind bei ihnen auch Elemente direkter Mitgliederbeteiligung getreten. Die Grünen ließen die Mitglieder über ihre Spitzenkandidaturen zur Bundestagwahl entscheiden, in der SPD hat es in einigen Wahlkreisen Mitgliederbefragungen über die Kandidaturen für den Bundestag gegeben. Live-Übertragungen von Parteitagen im Internet sind inzwischen Standard.
Mitglieder der Piraten kritisieren dagegen eine immer stärkere Anpassung ihrer Partei an das, was etablierte Parteien ausmacht. So schrieb ein NRW-Pirat in einem Internetforum im Juli 2013: „Im nominell zweitstärksten Landesverband der Piratenpartei sind überhaupt nur noch Leute aktiv, die bereit sind, im Namen der Parteiräson fragwürdige Vorgänge unter den Teppich zu kehren. Sie reden sich ein, das sei erforderlich, um den Erfolg bei der Bundestagswahl nicht zu gefährden. Das ist aber nicht neuer Politikstil, das ist genau die Uraltpolitik, wegen derer keiner von uns mehr die Etablierten wählen wollte.“
Prominente Mitglieder ziehen sich zurück, manche wechseln die Partei. Christian Jacken, einer der Miterfinder des Liquid-Democracy-Konzepts und Pirat mit der Mitgliedsnummer 56, versucht seine Ideen inzwischen bei der „Alternative für Deutschland“ (AfD) umzusetzen. Die Piraten, die eigentlich Doppelmitgliedschaften erlauben, fassten einen Unvereinbarkeitsbeschluss zur AfD.
Vor allem weibliche Piratenmitglieder machten ihrem Frust über Umgangsformen in der Partei, die die Geschlechterauseinandersetzung für beendet erklärte, Luft. „Ich bin nicht als feministin in die piratenpartei eingetreten, sondern ich wurde feministin durch die piraten. dieser sauhaufen“, kommentierte Piratin "lotta_kaa" im Internet. Enno Park schrieb in der Begründung seines Austritts: „Feministen werden in der Piratenpartei wesentlich leidenschaftlicher bekämpft als Nazis.“
Die Berliner Piratin Katja Dathe analysierte: „Fakt ist: Wir leiden an chronischer Entscheidungsunfähigkeit. Klar, jetzt wird die Meute wieder schreien: Das ist kein bug, das ist ein feature, die böse Gesellschaft will uns in ihre Normen pressen und gleichschalten. Kann ja sein, aber blöderweise haben wir uns entschlossen die Politik und damit auch die Normen dieser Gesellschaft zu verändern und das geht nun mal nur, indem wir nach den Regeln dieser Gesellschaft spielen, zumindest so lange bis wir wissen, welche dieser Regeln wir wie ändern wollen.“ Thumay Karbalai Assad, Landesvorsitzender der Piraten in Hessen sah das 2012 bereits ähnlich: „Wir haben ein strukturelles Problem, dass zwischen unseren Ideen, Diskussionen, Tools und Landesparteitagen kein Prozess vorhanden ist, der am Ende zu einem konkretem Ergebnis führt.“ Bei vielen Themen kämpfen etwa gleich starke Gruppierungen um Mehrheiten, Einigung ausgeschlossen.
Was auf alle Fälle von den Piraten bleibt: Ein Wust von Informationen und politischen Debatten im Internet. Weil die Partei selbst ihn wohl nicht mehr wird sortieren können, bleibt es eine Forschungsaufgabe für Politologen, Verwertbares daraus herauszusuchen.