von Peter Conradi

"Mehr Bürgerbeteiligung", so hört und liest man derzeit allerorten: Frühere und bessere Informationen, Transparenz bei Planung und Ausführung... nach dem Planungsdesaster von  "Stuttgart 21" gelobten Politiker, so etwas dürfe sich nicht wiederholen, und deshalb wollen sie die Bürger zukünftig besser beteiligen. Wie ernst diese Versprechungen sind, wird sich zeigen.

In der Bevölkerung wächst indessen der Ärger über Parteien und Parlamente, und dabei wird auch über direkte Demokratie diskutiert. Die repräsentative Demokratie, bei der die Politik von den vom Volk gewählten Parlamenten beraten und entschieden wird, hat in den letzten Jahren an Vertrauen verloren. Vielen Menschen genügt es nicht mehr, alle vier oder fünf Jahre bei Wahlen ihren Stimmzettel abzugeben, sie wollen nicht nur über anstehende Projekte und Gesetzentwürfe informiert werden, sondern selbst darüber entscheiden.

Es geht um direkte Beteiligung auch zwischen den Wahlen, vor allem wenn Wähler bei einzelnen Fragen anders entscheiden wollen als die von ihnen gewählte Partei. Niemand will die repräsentative Demokratie durch direkte Demokratie ersetzen, vielmehr sollen die Akzeptanz und die Legitimität der repräsentativen Demokratie durch Instrumente direkter Demokratie gestärkt werden.

Ja oder Nein

Der Volksentscheid, das Instrument direkter Demokratie, eignet sich besonders für klare Ja/Nein-Alternativen. In den Parlamenten gibt es mit den Ausschussberatungen unter Mitwirkung der Exekutive und mit den öffentlichen Anhörungen vielfältige Möglichkeiten des Verhandelns und Aushandelns, der Abwägung und der Kompromisssuche, die es beim Volksentscheid so nicht gibt.

Doch wenn die Instrumente direkter und repräsentativer Demokratie sinnvoll miteinander verknüpft werden, können sich auch neue Möglichkeiten des Abwägens und Verhandelns ergeben, beispielsweise können Parlamente und Verwaltungen ein angekündigtes Referendum zu einem Gesetz, zu einer Planung oder zu einem Projekt durch Kompromissangebote beeinflussen oder abwenden.

Abwägung und Ausgleich

Bisher sieht sich die Exekutive im Gegenüber zum Parlament und zur Rechtsprechung. Gäbe es mehr und bessere Instrumente direkter Demokratie, dann müssten Politik und Verwaltung mit Volksentscheiden über ihre Planungen und Projekte rechnen. Damit kämen neue Akteure hinzu und es könnte eine andere Verfahrenskultur entstehen, die stärker vom Bemühen um Abwägung und Ausgleich unterschiedlicher Interessen bestimmt wäre. Der deutsche Rechtsstaat ist vom Vertrauen auf das Recht geprägt. Andere Länder, zum Beispiel die Schweiz, setzen mit Instrumenten direkter Demokratie mehr Vertrauen in das Volk, ohne die Kompetenzen der Gerichte einzuschränken.

Der Begriff Referendum steht für die Entscheidung des Volkes. In der Kommune sprechen wir vom Bürgerentscheid, im Land und im Bund vom Volksentscheid. Dem Referendum muss entweder ein erfolgreiches Volks-/Bürgerbegehren vorausgehen, es kann aber auch vom Parlament/Gemeinderat, beschlossen werden. Kommt es zum Referendum, dann kann es sich um unterschiedliche Formen handeln, beispielsweise eine Volks-/Bürgerbefragung, eine Volks-/Bürgerinitiative oder eine Volks-/Bürgergesetzgebung.
Das einfachste Instrument direkter Demokratie ist die Befragung, bei der die Stimmbürger nach ihrer Meinung zu einem Gesetzentwurf, einem Projekt, einer Planung gefragt werden. Das Ergebnis einer Befragung kann für das Parlament und für die Exekutive ein wichtiger politischer Hinweis sein, auch wenn es die parlamentarischen und exekutiven Gremien nicht bindet.

Gewichtiger wäre die Volksinitiative, mit der das Volk seine Repräsentanten im Parlament auffordern kann, eine gesetzliche Regelung, eine Satzung oder ein Projekt zu beschliessen. Findet die Initiative eine Mehrheit, dann muss sich das Parlament innerhalb einer Frist mit dem Thema befassen. Die Initiatoren der Initiative können das Ergebnis der parlamentarischen Behandlung akzeptieren, oder wenn es ihnen nicht weit genug geht oder nicht ihren Absichten entspricht, dagegen ein Begehren für eine Volksgesetzgebung einleiten.

Weiter als die Befragung oder die Initiative geht die Gesetzgebung durch das Volk, weil hier das Volk, nicht das Parlament entscheidet. Dieses Instrument kann durch ein erfolgreiches Volksbegehren oder durch einen Parlamentsbeschluss zustande kommen. Dabei kann es um ein neues Gesetz, eine neue kommunale Satzung oder ein neues Projekt gehen oder um die Änderung oder Aufhebung eines vom Parlament beschlossenen Gesetzes oder Projekts. Im letzteren Fall ist eine Frist notwendig, nach der ein vom Parlament beschlossenes Gesetz durch ein Bürgerbegehren für einen Volksentscheid infrage gestellt werden kann. Gibt es nach Ablauf der Frist keine Einwände, dann tritt das vom Parlament verabschiedete Gesetz in Kraft.

Volksgesetzgebung und Parlament

Die Volksgesetzgebung ist parallel zur parlamentarischen Gesetzgebung zu sehen. Deshalb müssen an das Stimmenergebnis einer Volksgesetzgebung höhere Massstäbe angelegt werden als an Volksbefragungen oder Volksinitiativen. Denkbar wären Regelungen, die sich an der jeweils vorangegangen Wahl des repräsentativen Organs orientieren. Ein Beispiel: In einer Stadt mit 500.000 stimmberechtigten Einwohnern hätten sich bei der letzten Gemeinratswahl 300.000, das sind 60 Prozent der Wahlberechtigten an der Wahl beteiligt; dann sollte das Stimmenquorum für die Bürgergesetzgebung bei der Mehrheit der bei der letzten Kommunalwahl abgegebenen Wählerstimmen liegen, im vorgenannten Fall also bei 150.001 Stimmen. Damit wäre ein faires Verhältnis zwischen Volk und Parlament, zwischen direkter und repräsentativer Demokratie geschaffen.

Notwendige Quoren

Die Forderung einiger Befürworter von direkter Demokratie, bei Volksabstimmungen dürfe es keine Quoren geben, die einfache Mehrheit der Abstimmenden sei – unabhängig von der Abstimmungsbeteiligung – ausreichend, kann nicht überzeugen, denn wenn eine Mehrheit des vom Volk gewählten Parlaments ein Gesetz oder Projekt beschlossen hat, sollte dieser Beschluss nicht durch eine Volksabstimmung aufgehoben werden können, bei der eine Minderheit der Abstimmungsberechtigten eine Mehrheit unter den Abstimmungsbeteiligten erreicht.

Im Grundgesetz heißt es im Artikel 20 Absatz 2: "Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird in Wahlen und Abstimmungen ... ausgeübt". Zur repräsentativen Demokratie sagt unsere Verfassung viel, zur direkten Demokratie fast nichts. Eine Verfassungsänderung zur Einführung von Referenden auf der Ebene des Bundes ist überfällig, zumal in anderen Staaten das Volk berechtigt ist, über wichtige Fragen, beispielsweise bei der Entwicklung der EU, abzustimmen.

Abstimmung in der Kommune

Besonders gut für Instrumente direkter Demokratie eignet sich die kommunale Ebene, weil  es hier um Fragen geht, die die Bürgerschaft unmittelbar betreffen und die sie aus eigener Anschauung beurteilen können. Das repräsentative Organ ist der Gemeinderat, beziehungsweise die Stadtverordnetenversammlung. Einige Bundesländer, zum Beispiel Bayern, haben mit Bürgerentscheiden auf der kommunalen Ebene gute Erfahrungen gemacht. Vorrangig ist zu diskutieren und zu entscheiden, über welche kommunalen Fragen ein Bürgerentscheid zulässig sein soll. In Baden-Württemberg ist beispielsweise nach der Gemeindeordnung ein Bürgerentscheid über Bauleitpläne nicht zulässig. Diese Regelung ist bürgerfeindlich, denn Bauleitpläne sind eine zentrale politische Steuerungsaufgabe der Gemeinde, und es ist nicht einzusehen, warum hier das Volk nicht mitreden soll. Wer erlebt, wie die Stadtplanung in vielen Gemeinden zur Magd der Investoren wird, muss dieses Feld dem Bürgerentscheid öffnen. Schwieriger ist es beim kommunalen Haushalt, weil fast jeder Bürgerentscheid auch finanzielle Folgen hat. Vielleicht sollten bei Anträgen mit Haushaltsfolgen Deckungsvorschläge der Antragsteller vorgeschrieben werden.

Eine entscheidende Bedingung für Instrumente direkter Demokratie ist eine frühzeitige erste Information und Anhörung der Öffentlichkeit vor Beginn der Planung für ein Gesetz, für eine Satzung, für einen Bauleitplan oder für ein Bauprojekt. Dabei müssen alle interessierten und betroffenen Bürger, Vereine und Verbände, Unternehmen und Institutionen die Möglichkeit haben, sich zu informieren und Stellung zu nehmen, bevor Parlament und Verwaltung sich festgelegt haben. In der Schweiz heißt diese Anhörung "Vernehmlassung", weil alle, die etwas sagen wollen, sich vernehmen lassen können. Bei uns sind öffentliche Anhörungen in der Regel juristische Veranstaltungen, bei denen Rat und Verwaltung sich durchsetzen, und später allenfalls Gerichte eingreifen können. Anders ist die Lage, wenn die Möglichkeit eines Referendums besteht. Dann müssen Parlament und Verwaltung damit rechnen, dass es bei heftigem Widerstand zu einem Bürgerbegehen für einen Bürgerentscheid kommen kann, und sie werden sich bemühen, den Widerstand durch Änderungen, Milderungen, und Kompromissvorschläge abzubauen.

Einwände im Vorfeld klären

Parlament und Verwaltung bekommen bei der Anhörung politischen und fachlichen Rat, Hinweise auf Alternativen und die Möglichkeit, Protest und Widerstand gegen das Projekt und die Wahrscheinlichkeit eines Referendums abzuschätzen. Schon in dieser Phase kann ein Vorprojekt scheitern. Die Projektträger werden sich deshalb bemühen, im Fortgang der Planung möglichst viele Einwände zu berücksichtigen oder durch Kompensationsangebote zu entkräften.

Die Kritiker und Gegner eines Gesetzentwurfs oder Projekts erfahren bei der Anhörung, ob sie bei ihren Mitbürgern Unterstützung finden oder nicht und ob sich der Aufwand für ein Bürgerbegehren lohnt. In dieser Phase ist auch bei Verfahren der direkten Demokratie das Abwägen und Aushandeln von Kompromissen möglich.

Bei Bauprojekten mit langem Planungsvorlauf sind mehrere Anhörungen erforderlich. Anfangs geht es um Absichten und Ziele des Projekts, später um Alternativen, danach um Machbarkeitsstudien, schließlich um die Entwurfsplanung. Wer zu spät informiert und Alternativen ausschließt, muss mit stärkerem Widerstand und damit möglicherweise mit dem Scheitern des Projekts durch Bürgerbegehren und Bürgerentscheid rechnen.

Planbarkeit von Großvorhaben

Gegen Verfahren der direkten Demokratie wird eingewandt, Großprojekte wären dann nicht mehr plan- und baubar, weil eine verlässliche zeitliche Planung nicht mehr möglich sei. Doch viele Großprojekten wie der "City-Tunnel Leipzig", die "Elbphilharmonie Hamburg", der "Flughafen Schöneberg" und "Stuttgart 21" haben sich nicht durch den Widerstand aus der Bevölkerung verzögert, sondern durch fehlende Information der Öffentlichkeit, planerische Inkompetenz, geschönte Kostenberechnungen und durch Streit zwischen Bauherren, Planern und Bauunternehmen. Umgekehrt gilt: Wer sorgfältig und transparent plant und die betroffene Bürgerschaft einbezieht, reduziert die Risiken von Fehlplanung und Kostenexplosionen.

Ein Mangel bei Volksabstimmungen ist, dass für das Ergebnis am Ende niemand persönlich verantwortlich ist. Bei einer Volksabstimmung kann das Volk, wenn die Entscheidung sich später als Fehlentscheidung erweist, sich nicht selbst abwählen. Gesetzbeschlüsse parlamentarischer Gremien können jederzeit geändert (novelliert) oder aufgehoben werden, wenn sich dazu parlamentarische Mehrheiten finden, also vor allem nach Wahlen, die zu veränderten Mehrheitsverhältnissen führen. Beschlüsse des Volkes durch eine Volksgesetzgebung sollten nicht zeitlich unbegrenzt gelten, sondern nach einer angemessenen Frist durch eine erneute Volksabstimmung oder durch eine qualifizierte Mehrheit des Parlaments novelliert oder aufgehoben werden können.

Direkte Demokratie ist keine Garantie gegen Fehlentscheidungen. Die Volksentscheide für Steuersenkungen im US-Staat California sind ein warnendes Beispiel. Das Volk kann sich genau so irren wie das von ihm gewählte Parlament. Populistische Demagogen gibt es bei Wahlen wie bei Abstimmungen, und die Macht der Interessen, vor allem der Wirtschaftsinteressen, wird bei Wahlen wie bei Volksabstimmungen Einfluss nehmen.

Vitalisierendes Element

Eine bessere Bürgerbeteiligung macht nur Sinn, wenn sie durch Instrumente der direkten Demokratie gestärkt wird. Vorrangig ist die Öffnung der Kommunalpolitik für Bürgerbegehren und Bürgerentscheide durch Novellierungen der Gemeindeordnung hinsichtlich der Themen und der Quoren. Ohne die Möglichkeit, Gesetzesvorhaben, Satzungen, Bauprojekte, Straßen- und Trassenführungen durch Volksentscheide infrage zu stellen, bleibt die allein auf bessere Information beschränkte Bürgerbeteiligung ein stumpfes Schwert.

Die wachsende Parteienverdrossenheit in Deutschland darf nicht mit einer Politik- oder Demokratieverdrossenheit verwechselt werden. Die Einführung von Instrumenten der direkten Demokratie kann unsere Demokratie vitalisieren und stärken. Dazu ist eine ernsthafte und gründliche Diskussion notwendig, damit ein ausgewogenes Verhältnis zwischen repräsentativer und direkter Demokratie zustande kommt, und beide sich wechselseitig befruchten können.

Bundespräsident Joachim Gauck sprach in seiner ersten Rede von der "Lernfähigkeit der repräsentativen Demokratie" und der "Möglichkeit der Bürger, durch Mitgestaltung und Teilhabe Verantwortung zu leben". Die Einführung von Elementen direkter Demokratie würde die Möglichkeiten der Bürger erweitern, an der Gestaltung unseres Landes über die Teilnahme an Wahlen hinaus mitzuwirken, und damit die von Joachim Gauck geforderte Kultur der Freiheit stärken.

Peter Conradi, Stuttgart; Jahrgang 1932, 1972-1998 Mitglied des Bundestags (SPD) und langjähriger SPD-Berichterstatter für das Bundesbaugesetz, 1998-2004 Präsident der Bundesarchitektenkammer.