von Siegfried Heimann

1. Der 18. März 1848 und der Friedhof der Märzgefallenen erinnern an eine Revolution mit Demonstrationen und Barrikadenkämpfen, die auf der Straße blutig ausgetragen wurden und mit Opfern für die Demokratiebewegung verbunden waren. Das darf nicht gegen die mit Worten ausgetragenen Debatten in der Frankfurter Paulskirche ausgespielt werden (und natürlich auch nicht umgekehrt).
Revolutionen und Volkserhebungen finden nicht im Saale statt. Die Erinnerung an Revolutionen in Deutschland darf nicht von einer „Revolutionsfurcht“ bestimmt sein.

Die Deutschen sind, anders als es die Legende will, kein „Volk ohne Revolutionen“. Auch gescheiterte oder nur teilweise erfolgreiche Revolutionen verdienen einen Ort in der deutschen Erinnerungskultur. Das gilt für 1848/49 ebenso wie für 1918/19.
Es gilt für beide Revolutionen das Wort von Ernst Fraenkel von 1943, geschrieben im Exil und bezogen auf 1918. „Was immer man auch sonst vom 9. November halten mag, jenes Beispiel wird geschichtsbildende Kraft behalten. Ein Volk, das einmal in kritischer Stunde sein Geschick in die eigene Hand genommen hat, wird auf Dauer niemals wieder ganz entmündigt werden können.“

2. Die Erinnerung an Orte der deutschen Demokratie- und Revolutionsgeschichte darf nicht gegen Erinnerungsorte an die deutschen Diktaturen ausgespielt werden.
Erinnerungsorte sind nicht nur die lokalen Orte. Es gibt zu Recht viele Orte der Erinnerung an die Erfahrungen mit zwei deutschen Diktaturen. Es gilt jedoch auch, sich der Orte und der damit verbundenen Erinnerungskultur zu vergewissern, die an die positiven Traditionen in der deutschen Geschichte erinnern. Die Geschichte der  Revolution von 1848 und der „Friedhof der Märzgefallenen“ gehören dazu. Das meint die Erinnerung an die revolutionären Ereignisse, das meint aber auch die Erinnerung an die Menschen, die damals handelten und Opfer wurden.
Erinnerungskultur meint, um Bernd Faulenbach zu zitieren: Vergegenwärtigung von denkwürdigen Ereignissen, des Handelns und Leiden von Menschen der Vergangenheit im Hinblick auf die Gegenwart“. Das meint auch die Vielfalt „disparater und widersprüchliche Erinnerungsorte“, wie Etienne Francois betonte.
Es gibt u.a. von Anne Kaminski herausgegeben ein bemerkenswertes Nachschlagewerk: Gedenkzeichen, Gedenkstätten und Museen zur Diktatur in der SBZ und DDR.(ähnlich mehrere Bücher zur NS-Diktatur)  Ich wünschte mir ein Nachschlagewerk zumindest für Berlin, besser für Deutschland mit dem Titel „Gedenkzeichen, Gedenkstätten und Museen zur Demokratie-Geschichte in Deutschland. Orte der Revolutionen und Volkserhebungen in Deutschland. Ich wünschte mir auch Historische Reiseführer für Berlin, die ein Stadtführer sind auf den „Spuren der deutschen Demokratiegeschichte“ sowie es zwei schöne Stadtführer gibt für Berlin auf den „Spuren der deutschen Vergangenheit 1945-1989 und 1933 bis 1945

3. In Berlin und in Deutschland gibt es noch mehr Erinnerungsorte der Demokratiegeschichte. Sie sollten nicht vergessen werden. Dazu gehören in Berlin die Orte der großen Wahlrechtsdemonstrationen gegen das preußische Dreiklassenwahlrecht vor 1910 und danach, die Orte des Widerstands gegen den Kapp-Putsch 1920 mit den Gräbern der Opfer; Orte des Widerstands gegen die Nazi-Diktatur etwa der Baum-Gruppe vor dem Berliner Dom, Orte des Widerstands am 16. und 17. Juni 1953  vor dem Krankenhaus Friedrichshain, in der Landsberger Allee und in der Leipziger Straße und die Orte des Widerspruchs und des Widerstands vor und während der revolutionären Veränderungen im Herbst 1989.

4. Der Friedhof der Märzgefallenen in Berlin-Friedrichshain und seine bis heute wechselvolle Geschichte steht neben der Frankfurter Paulskirche und der Festung Rastatt symbolisch für den Mut und die Ideale der Revolutionäre von 1848. Mit der Revolution von 1848 begann eine europaweite Bewegung für Freiheit, Gleichheit, Demokratie und soziale Gerechtigkeit, begann die Geschichte der Demokratie in Deutschland. Das schon rechtfertigt das Ziel, den Friedhof der Märzgefallenen zu einer nationalen Gedenkstätte zu machen.

5. Der Paul-Singer-Verein Berlin und die Initiative 18. März haben sich erfolgreich um den Erhalt und um die Neugestaltung des Friedhofs der Märzgefallenen bemüht. Eine temporäre Ausstellung, die im März 2011 eröffnet werden soll, wird an diesen Ort der deutschen Demokratiegeschichte erinnern.
Es gilt, dieser Arbeit Dauer zu verleihen. Das meint, über die jetzt finanziell gesicherten drei Jahre hinaus muss der Friedhof erhalten werden und - ebenso wichtig: es muss an diesem Ort auf Dauer eine Bildungsstätte entstehen, die für die Schulen, für Berlin-Touristen, für Soldaten usw. Bildungsangebote macht. D.h. die Finanzierung muss auf Dauer gesichert sein, getreu dem Satz: Demokratie braucht Demokraten.
Bildungsarbeit an einer Bildungsstätte heißt auch für einen Ort der Demokratiegeschichte, dass es nicht um eine „Musealisierung“ der Demokratiegeschichte geht. Erinnerungsorte sollten immer auch Orte des Lernens sein. Für uns heißt die Frage: Kann man aus Revolutionen lernen? In dem Zusammenhang ist die Erinnerung an handelnde Personen - an Blum, an Virchow, Zinna - besonders wichtig, wenn es um die Zielgruppe Jugendliche geht
Aber Jugendliche und Erwachsene sind stets und heute besonders anfällig für „einfache Wahrheiten“. Bildungsarbeit muss dieser Sehnsucht nach einfachen Wahrheiten gegensteuern. Ein Gedenkort wie der „Friedhof der Märzgefallenen" darf kein Ersatz für Erinnerung sein. Ein Ort der Erinnerung an die Revolution von 1848 meint daher immer auch die Information und die Debatte über Revolutionen, über Demokratie und über die Gefährdungen von Demokratie heute. Lernorte müssen auch Lernprozesse ermöglichen.
Dabei muss allerdings eins klar sein: Es geht nicht darum, „Geschichtsbewusstsein“ herzustellen, womöglich das „richtige". Bildungsarbeit darf keinem „ritualisiertem Verhältnis zur Vergangenheit“ Vorschub leisten.
Demokratieerziehung darf nicht zum „Bekenntnisritual“ werden. Auch die bloße Vermittlung von historischem Wissen über die Geschichte der Demokratie reicht nicht aus. Es geht darum, durch Bildungsarbeit eine „historisch-politische Urteilsfähigkeit“ zu entwickeln. Konstitutiv für den demokratischen Staat sind ja nicht seine demokratischen Institutionen, so notwendig sie sind, sondern die „Bürgergesellschaft“, deren Bürger sich aktiv wehren gegen jede Einschränkung von Freiheitsrechten, auch der Einschränkung von Rechten von Minderheiten zugunsten der „Mehrheitsgesellschaft“ oder staatlicher Omnipotenz.
Bildungsarbeit am Beispiel der Demokratiegeschichte meint auch Front machen gegen die Tradition antidemokratischen Denkens in Deutschland, gegen Ideologien der Ungleichheit, des Chauvinismus und des Rassismus, gegen Feindbilder wie Fremde, Ausländer, Juden, Moslems oder „unproduktive Kopftuchträger“, die keinen ökonomischen Nutzen haben.

Im Jahre 1951 musste Willy Brandt Stellung nehmen zu einem geplanten Nationalen Gedenktag. Der Tag der Verabschiedung des Grundgesetzes war damals ebenso im Gespräch wie der Tag des Zusammentritts des ersten deutschen Bundestages. Brandt betonte in dem Zusammenhang, dass ein davon erhofftes Bekenntnis zur Demokratie heißen muss, nicht nur gegen den „östlichen Totalitarismus“ Stellung zu beziehen, sondern auch „gegen das schleichende Gift der Demokratiefeindschaft im Westen“ (heute müssen wir sagen: in Ost und West) Und er fügte hinzu als Aufforderung an alle: „Demokratie ist keine Sofaangelegenheit“, denn Demokratie brauche Demokraten.
Der Einsatz für eine nationale Gedenkstätte „Friedhof der Märzgefallenen“ wäre ein solches Beispiel dafür, nicht auf dem Sofa sitzen zu bleiben, sondern mitzugestalten.

(Überarbeiteter und gekürzter Einführungsvortrag für eine Podiumsdiskussion während einer Tagung „Am Grundstein der Demokratie-Erinnerungskultur am Beispiel des Friedhofs der Märzgefallenen“, veranstaltet vom Paul-Singer-Verein Berlin und der Friedrich-Ebert-Stiftung am 19. März 2010)

 

Dokumentation:

Aufruf zur Einrichtung einer nationalen Gedenkstätte „Friedhof der Märzgefallenen“

„Es kommt dazu trotz alledem, dass rings der Mensch die Bruderhand dem Menschen reicht.“
Ferdinand Freiligrath


Die Revolution von 1848 war eine europaweite Bewegung für Freiheit, Gleichheit, Demokratie
und soziale Gerechtigkeit. Diese historische Phase ist als Völkerfrühling bekannt. Die Märzrevolution
in Berlin ist ein Markstein positiver deutscher Geschichte. Otto Suhr sagte 1948:
„Wenn das deutsche Volk endlich die Demokratie begreifen will, dann muss es seine Helden
des Friedens und der Freiheit achten lernen.“ Den Friedhof der Märzgefallenen zu einer
nationalen Gedenkstätte auszubauen, sind wir den Frauen und Männern schuldig, die für
Freiheit und Demokratie auf den Barrikaden gekämpft haben.

Um Menschenrechte und Demokratie zu erhalten und das Bewusstsein für ihre Gefährdung
ebenso wie für ihren unverzichtbaren Wert zu stärken, brauchen wir die Erinnerung an die
Verbrechen und das Unrecht. Dazu bedarf es aber auch der Erinnerung an den Kampf für
Freiheit und Emanzipation sowie die Bewahrung und Pflege des Gedächtnisses an diejenigen,
die für die Durchsetzung von Freiheit und Demokratie gekämpft haben.
Wenngleich es in Berlin vor dem Brandenburger Tor den „Platz des 18. März“ gibt und die
Forderung nach einem nationalen Gedenktag „18. März“ von Bundestagsabgeordneten aller
Parteien sowie dem gesamten Abgeordnetenhaus von Berlin unterstützt wird, ist der Freiheitskampf
von 1848 nur Wenigen gegenwärtig.

Der Friedhof der Märzgefallenen im Berliner Friedrichshain repräsentiert nicht nur einen Ort
der Revolutionsereignisse, sondern ist von Anfang an bewusst als ein Denkmal zur Erinnerung
an die gefallenen Barrikadenkämpfer geschaffen worden. Er steht zusammen mit der Frankfurter
Paulskirche und der Festung Rastatt symbolisch für die Ideale der Revolutionäre von 1848.
Denkmale und Grabstätten erklären sich nicht selbst. Der Friedhof der Märzgefallenen muss
zu einem Lernort für die Geschichte der Demokratie in Deutschland werden.
Der Friedhof der Märzgefallen sollte in den Rang einer nationalen Gedenkstätte erhoben werden,
zumal er auch an die Revolution von 1918 erinnert. Die temporäre Ausstellung muss zu
einer dauerhaften werden. Es gilt, an den Geist der 48er anzuknüpfen. Die Ideale der Revolution
haben damals wie heute ihre Gültigkeit.
Berlin, November 2010

Erstunterzeichnerinnen und Erstunterzeichner:
Leonie Baumann, Geschäftsführerin Neue Gesellschaft für bildende Kunst e.V.; Prof. Dr.
Peter Brandt, Fernuniversität Hagen; Prof. Dr. Christine Delory-Momberger, Universität
Paris 13 / Nord; Martin Düspohl, Fachbereichsleiter Kultur Berlin Friedrichshain-Kreuzberg;
Prof. Dr. Rüdiger Hachtmann, Zentrum für Zeithistorische Forschung, Potsdam; Dr.
Christoph Hamann, Landesinstitut für Schule und Medien Berlin-Brandenburg; Prof. Dr. Jörg
Haspel, Landeskonservator Berlin; Dr. Siegfried Heimann, Vorsitzender der Historischen
Kommission der Berliner SPD; Dr. Peter Jahn, ehem. Leiter Deutsch-Russisches Museum
Berlin-Karlshorst; Dr. Susanne Kitschun, Geschäftsführerin Paul Singer Verein; Dr. Andreas
Köhler, Vorsitzender Paul Singer Verein; Prof. Dr. Gottfried Korff, Eberhard-Karls-Universität
Tübingen; Dr. Hans Modrow, Ministerpräsident der DDR a.D.; Walter Momper, Präsident des
Berliner Abgeordnetenhauses; Prof. Dr. Günter Morsch, Präsident Stiftung Brandenburgische
Gedenkstätten; Prof. Dr. Reinhard Rürup, Technische Universität Berlin; Volker Schröder,
Aktion 18. März; Prof. Dr. Peter Steinbach, Wissenschaftlicher Leiter der Gedenkstätte
Deutscher Widerstand und Universität Mannheim; Dr. Jan Stöß, Bezirksstadtrat für Finanzen,
Kultur, Bildung und Sport, Berlin Friedrichshain-Kreuzberg; Prof. Dr. Robert Traba, Direktor
Zentrum für historische Forschung Berlin der historischen Akademie der Wissenschaften;
Wolfgang Wieland, Mitglied des Bundestages

Debatte

Kolumnen

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