von Karl-Heinz Niedermeyer
Muammar al-Gaddafi ist – so ist der allgemeine Eindruck – Geschichte und sicher bald vergessen. Wir haben es zwar in den gegenwärtigen Weltkrisen noch mit einigen Hinterlassenschaften seiner langjährigen Willkürherrschaft und einigen Kollateralschäden ihrer Beseitigung durch die NATO-Intervention im Jahre 2011 zu tun. Zu ihnen gehören die Unfähigkeit der internationalen Gemeinschaft in Gestalt des UN-Sicherheitsrats, den Bürgerkrieg mit hunderttausenden von Gefolterten, Ermordeten und in Kriegshandlungen Umgekommenen und Millionen von Geflüchteten in Syrien zu beenden und die Destabilisierung einer Reihe von zentralafrikanischen Ländern durch Söldner im Dienste Gaddafis und Waffen aus seinen Arsenalen. Deutschland ist davon vor allem durch den derzeit gefährlichsten Auslandseinsatz eines Bundeswehrkontingents in Mali betroffen. Unmittelbaren Einfluss auf die deutsche Politik bis auf das Ergebnis der jüngsten Bundestagswahl haben die Fluchtbewegungen aus Syrien und über das Einfallstor Libyen, das nach dem Regime-Change und der Beseitigung Gaddafis von vier konkurrierenden Regierungen und hunderten von Milizenherrschaften zerrissen wird.
Anstoß für den vorliegenden Artikel ist eine sehr befremdlicher politischer Auftritt, mit dem ich Anfang 2017 bei einem sonntäglichen Waldlauf im Tiergarten vor der saudischen Botschaft konfrontiert wurde. Nein, es war keine Demonstration von Regimegegnern für die Freilassung des Bloggers Badawi, der wegen der Wahrnehmung des Rechts auf Meinungsfreiheit in Saudi-Arabien zu 50 Peitschenhieben verurteilt wurde. Auf der der Botschaft gegenüber liegenden Straßenseite reckten einige junge Männer Transparente hoch mit idyllischen Familienbildern von Bashar Al Assad mit Frau und Söhnen sowie Fotos von angeblich in saudischen Gefängnissen Gefolterten mit blutigem Rücken. Auf meine Frage nach den Gründen für ihren Protest erhielt ich die Antwort, Saudi-Arabien habe mit der Unterstützung von Terroristen den Frieden in Syrien zerstört und sei für alle derzeitigen Probleme dort verantwortlich. Ihr Anliegen sei, Syrien unter der Führung von Präsident Assad wieder eine friedliche und sichere Zukunft zu geben.
Ich habe vergessen zu fragen, wie diese Aktivisten nach Deutschland gekommen sind. Über Stipendienprogramme des Deutschen Akademischen Auslandsdienstes wahrscheinlich nicht, aber vielleicht als Asylbewerber als Teil der großen Welle von Geflüchteten Ende 2015, deren Folgen die deutsche und europäische Politik immer noch bestimmen und von denen zunächst nur ein geringer Teil mit seiner Identität registriert wurde?
Ich schaute mir die Prospekte an, welche an dem kleinen Stand angeboten wurden. Es handelte sich bei der demonstrierenden Gruppe um die „Antiimperialistische Aktion Berlin“. Das kurioseste Dokument, das ich mitnehmen konnte, war ein bunter Flyer mit dem Titel „Es leben unsere sozialistischen Märtyrer" . Die Liste der hier mit Foto aufgelisteten quasi mit Heiligenstatus versehenen gefallenen, ermordeten oder sonst zu Tode gekommenen Revolutionärinnen und Revolutionäre führte auf: Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht, dann schon Aleksey Mozgovoy, einen Anführer verkappter russischer Interventionstruppen in der Ostukraine, der angeblich von „ukrainischen Faschisten" ermordet wurde, dann Hussein Al-Huthi, Anführer der Huthi-Rebellen im Krieg im Jemen, dann Gudrun Ensslin, angeblich von „Handlangern des BRD-Regimes in ihrer Zelle in Stammheim ermordet", dann wieder einen Kommandanten sezessionistischer Truppen in der Ostukraine und zum Schluss Deniz Gezmis, Gründer und Führer der „marxistisch-leninistischen Volksbefreiungsarmee in der Türkei", hingerichtet in Ankara 1972.
Und dann konnte ich noch ein Beutestück mit nach Hause nehmen, ausnahmsweise ohne die an sich fällige Spende oder Schutzgebühr zu entrichten: Das berühmte Grüne Buch von Muammar al-Gaddafi in einer von der Antiimperialistischen Aktion herausgebrachten neuen deutschen Übersetzung.
Welchen Erkenntniswert kann diese ideologische Rechtfertigungsschrift der Autokratie des Obersten Gaddafi für uns noch haben? Hat es sich gelohnt, diese etwa 60 Seiten zu studieren?
Die Macht des Volkes
Die Person Gaddafis und seine Herrschaftstechniken sind uns ja noch durch einige skurrile Elemente im Gedächtnis: Die Ersetzung der Auslandsbotschaften Libyens durch „Volkskomitees“, die ab und zu ihre Umgebung mit martialischen Demonstrationen zu beeindrucken suchten, die Übernachtung des libyschen Führers in einem Zelt im Park des französischen Präsidentenpalastes während eines Staatsbesuchs in Paris.
Wichtiger war natürlich, dass es Gaddafi nach einer jahrelangen diplomatischen Isolierung nach dem ihm zugeschriebenen Anschlag auf ein Passagierflugzeug im schottischen Lockerbie mit verschiedenen Aktivitäten (Vermittlung der Freilassung von Geiseln islamistischer Terroristen, Aufgabe eines eigenen Atomprogramms) gelungen war, einige Jahre den Status eines seriösen Staatsmanns und Partners des Westens zu behaupten, insbesondere auch in einem Abkommen mit Italien unter Berlusconi zur Abwehr des Zuzugs afrikanischer Flüchtlinge über das Mittelmeer nach Europa. Bis ihn dann doch mit der schon angesprochenen „humanitären Intervention“ mehrerer NATO-Staaten zur Verhinderung eines Massakers an der innerlibyschen Opposition in Bengasi sein Schicksal ereilte.
Das „Grüne Buch“ definiert in erster Linie den Kern der revolutionären Mission, der sich sein Verfasser verschrieben hat. Es verkündet letzte und absolute „Wahrheiten“ zu den Grundfragen von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Das Interessanteste am 1. Kapitel „Die Macht des Volkes“ sind der Begriff des „Volkes“ und das Konzept von Demokratie, die beide sehr daran erinnern, was AfD und Pegida, insbesondere auch Frauke Petry mit ihrem Konzept des „Völkischen“ mit diesen beiden Begriffen verbinden.
Aber Gaddafi geht in seinem Demokratie-Konzept sehr viel weiter in der Ablehnung jeder Form von parlamentarischer und Parteiendemokratie und aller von Menschen beschlossenen Verfassungsordnungen als alle bekannten Gruppen, die derzeit mit dem Ruf „Wir sind das Volk“ durch die Straßen laufen. Für ihn ist schon jede Form der Repräsentation an sich „Diktatur“ und „Betrug“ am Volkswillen. Dies gilt auch für Volksentscheide, weil auch durch sie als punktuellen Entscheidungen zufälliger Menschenansammlungen die Grundsätze der durch Natur und (primär religiöse) Tradition vorgegebenen Gesetze der Demokratie verletzt werden.
Das „Volk“ kann seinen Willen nur in „Volkskomitees" und „Volkskongressen" in direkten Abstimmungen zum Ausdruck bringen und die Regierung und die übrigen Staatsorgane sind diesen Entscheidungsgremien unmittelbar verantwortlich. Es gibt also weder eine Kontrolle der Regierung durch ein Parlament, noch eine Kontrollmöglichkeit durch Volksabstimmungen.
Wie gelangt aber nun der zunächst auf der untersten lokalen Ebene in Tagungen der „Volkskomitees", in denen jede/r Bürger/in vollkommen gleichberechtigt seine/ihre Wünsche äußern kann, ermittelte „Volkswille“ in die zentralen Organe, also vor allem die Regierung, die diesen Willen auszuführen hat? Dafür gibt es im „Grünen Buch" ein wunderbares Schema von Delegationen: Jedes lokale Volkskomitee wählt zunächst ein Sekretariat, das seine Beschlüsse festhält und eine Anzahl von Delegierten für die regionalen Volkskongresse, welche wiederum Sekretariate und Delegierte bestimmen, welche ihre Beschlüsse dann in den nationalen Volkskongress tragen, der die Richtlinien für die Regierungspolitik bestimmt. Es handelt sich also hier um ein genauso durchgehend demokratisches System der politischen Willensbildung wie etwa in der innerparteilichen Demokratie der SPD mit den Stufen Abteilungsversammlung, KDV, Landesparteitag, Bundesparteitag.
Es gibt allerdings einen ganz wesentlichen Unterschied, was die Inhalte der politischen Willensbildung betrifft. Die Angehörigen der Volkskomitees und Volkskongresse haben nämlich gar nicht das Recht, Anträge zu stellen und Beschlüsse zu fassen, die ihrem eigenen individuellen Kopf oder Bauch entsprungen sind, sondern haben ausschließlich die Aufgabe, sozusagen in einer revolutionären Gesamtanstrengung die im größten Teil der Welt herrschende kapitalistisch gesteuerte Parteiendemokratie zerstörte menschliche Naturordnung wiederherzustellen und dieser dauerhaft zum Sieg zu verhelfen.
Dazu die Kernsätze des die politische Ordnung betreffenden 1. Kapitels des „Grünen Buches": „Es ist unrechtmäßig und undemokratisch, wenn ein Komitee oder Parlament dazu berechtigt ist, die Gesetze für eine Gesellschaft zu erlassen. Auch ist es unrechtmäßig und undemokratisch, wenn ein Individuum, ein Komitee oder ein Parlament die Gesetze der Gesellschaft abändert oder aufhebt."
Was aber sind dann die Quellen der Gesetzgebung, wenn alle von der Menschheit bisher entwickelten und weltweit anerkannten Verfahren der Gesetzgebung von vornherein für unrechtmäßig und undemokratisch erklärt werden?
Wer macht die Gesetze?
Hier die Antwort des „Grünen Buches": „Das natürliche Gesetz einer jeden Gesellschaft beruht auf Tradition oder Religion. Jeder andere Versuch, einer Gesellschaft außerhalb dieser beiden Quellen Gesetze zu geben, ist unrechtmäßig und unlogisch. Verfassungen sind nicht das Gesetz der Gesellschaft. Eine Verfassung ist ein vom Menschen gemachtes Gesetz. Es fehlt jegliche natürliche Grundlage, aus der sich dieses Gesetz ableiten könnte. Das Problem der Freiheit im modernen Zeitalter ist, dass Verfassungen zum Gesetz der Gesellschaft geworden sind, und Verfassungen gründen auf nichts anderem als auf den Anschauungen der in der Welt vorherrschenden diktatorischen Herrschaft, die sich vom Individuum bis zur Partei erstreckt. Der Beweis dafür ist, dass es große Unterschiede in den Verfassungen gibt, obwohl die Freiheit des Menschen ein und die gleiche ist."
Das Staatsmodell, das sich aus diesen Grundsätzen Gaddafis ergibt, wäre also entweder ein islamischer Staat, dessen Gesetze durch religiöse Gebote vorgegeben sind oder ein Staat, der auf dem Zusammenschluss von verschiedenen von traditionellen Regeln und Riten regierten Stammesverbänden beruht. Für die Praxis des Gaddafi-Regimes gilt wohl eher das Leitbild des letzteren.
Das Delegationssystem der „Volkskomitees" und „Volkskongresse" legt allerdings eine Verknüpfung verschiedener Herrschaftstechniken nahe, bei denen auch Anleihen am Herrschaftssystem der „Volksdemokratien“ des untergegangenen sozialistischen Lagers, wie sie teilweise noch in China, Vietnam und Nordkorea und Kuba fortbestehen, gemacht werden. Eine entscheidende Rolle spielen dabei die politischen „Sekretariate“ bzw. Politbüros, deren Aufgabe es ist, den angeblich in den Volkskomitees und Volkskongressen ermittelten „Volkswillen", der für Gaddafi ja ohnehin durch Tradition oder Religion vorgegeben ist, verbindlich zu interpretieren und umzusetzen. Nicht von ungefähr trug ja der jeweilige Führer der Kommunistischen Partei der Sowjetunion seit Stalin den Titel „Generalsekretär“.
Wer diesen Volkswillen aber letztendlich zur Sprache und zum Ausdruck bringt, zeigen die Illustrationen der von der Antiimperialistischen Aktion verbreiteten Ausgabe des „Grünen Buches“ mit hinreichender Deutlichkeit: Jubelnde Massen unter einem grünen Himmel mit arabischen Schriftzeichen, über ihnen ein von einem Heiligenschein von Lichtstrahlen umgebenes Portrait Gaddafis, im Vordergrund eine die Faust nach oben reckende Frau mit grünem Kopftuch, auf dem Rückumschlag zeigen sich in der „Volksmasse“ noch männliche Angehörige verschiedener Stämme in traditioneller Kleidung. Die politische Rolle der Frau im Staat Gaddafis erhielt ja noch eine besondere Note durch die berühmte weibliche Leibgarde des Obersten. Sie stand allerdings in krassem Gegensatz zu der äußerst traditionellen und jeder Emanzipation Hohn sprechenden Festlegung der Rolle der Frau im 3. die gesellschaftliche Ordnung behandelnden Kapitel des „Grünen Buchs".
Danach ist die Frau ausschließlich für die Weitergabe des Lebens und die Aufzucht der Kinder da. Ein kleiner Zitatausschnitt mag genügen, um sich ein Bild zu machen: „Auf die natürliche Rolle der Frau während der Mutterschaft zu verzichten, das heißt die Mütter durch Kindertagesstätten zu ersetzen, ist der Anfang davon, dass man auf menschliche Gesellschaft verzichtet und sie in eine biologische Gesellschaft mit einer künstlichen Form des Lebens umwandelt. Kinder von Müttern zu trennen und sie in Fürsorgeeinrichtungen zu pferchen, ist ein Vorgang, durch welchen sie in etwas den Hühnern Vergleichbares verwandelt werden." Das Frauen- und Familienbild der AfD lässt grüßen.
Man könnte es sich einfach machen mit dem Urteil über das „Grüne Buch": Das von Gaddafi propagierte politische System ist nur eine weitere Spielart einer als plebiszitäre Demokratie drapierten persönlichen Diktatur, die mit einer militärischen Machtergreifung begründet und mit verschiedenen massenwirksamen Herrschaftstechniken, zu denen auch wie bekannt Überwachung durch Polizei und Geheimdienste, Repression, Folter und politischer Mord gehörten, aufrecht erhalten wurde.
Versuch der Delegitimierung der repräsentativen Demokratie
Wir können es uns aber nicht so einfach machen und die Attraktivität seines ideologischen Ansatzes für bestimmte, außerhalb des arabischen Kulturraums sicherlich begrenzte Gruppen von politisch Unzufriedenen negieren. Der Stachel seines ideologischen Ansatzes liegt in der Delegitimierung der repräsentativen Demokratie als solcher, vor allem in ihrer Ausprägung als parlamentarische Parteiendemokratie. Sein Kernargument trifft auch den Kern der in unseren westlichen Demokratien weit verbreiteten Politikverdrossenheit: Die gemäß den Regeln der repräsentativen Demokratie gewählten Volksvertreter und Volksvertreterinnen vertreten nach Meinung dieser „besorgten Bürger“ entweder nur sich selbst und ihre eigenen Interessen oder Sonderinteressen bestimmter Bevölkerungsgruppen, welche vom mit der parlamentarischen Demokratie offenbar unlöslich verbundenen kapitalistischen Wirtschaftssystem besonders begünstigt werden. Gaddafi geht noch weiter: Der Volkswille kann überhaupt nicht vertreten, sondern nur unmittelbar durch Willensäußerungen konkret anwesender und gemeinsam agierender Personen zum Ausdruck gebracht werden.
Die verfassungsmäßige Definition des Staatsvolks als abstrakte Gesamtmenge der Inhaber/Innen der jeweiligen Staatsbürgerschaft, umfasst ja auch eine große Zahl von Menschen, die ihre „Volkszugehörigkeit“ in den Augen des wahren „Volkes", also derjenigen, die auf Pegida-Versammlungen brüllen „Wir sind das Volk!“, nicht mit Faktoren wie Abstammung, Kultur, Religion, Kleidungs-, Ess- und Feiergewohnheiten legitimieren können und deshalb nicht zum „Volk" gehören können.
Da aber Stammtischparolen und emotionale verkürzte Forderungen auf Pegida-Märschen nicht unmittelbar in effektive Politik umgesetzt werden können, bedarf es, wenn man die Parteiendemokratie auch wegen dieser Zwänge nicht einfach abschaffen kann, Entscheidungsmechanismen, die der „Stimme des Volkes" unmittelbar Gehör verschaffen, also erweiterte Formen der direkten Demokratie wie Volksentscheide und Volksabstimmungen. Nur helfen auch diese Formen einer geregelten „direkten Demokratie" nicht der Schwierigkeit ab, dass die unartikulierten politischen Bauchgefühle des „Volkes“ letztlich eben überhaupt in regelhaften Verfahren, ob jetzt Wahlen oder Abstimmungen bearbeitet werden müssen, um im Sinne der materiellen Bedürfnisse des „Volkes“ politisch wirksam zu werden. Es gibt allerdings eine Methode, deren Wiederanwendung wir in keiner Weise wollen: Die Übertragung der Größen-, Identitäts- und Abgrenzungsphantasien des „Volkes“ auf einen charismatischen Führer, der wenn nicht seine materiell-inhaltlichen, so wenigstens seine emotionalen Bedürfnisse zu erfüllten verspricht.
Dabei haben wir es in Deutschland noch mit einer traditionellen Vorstellung von „Volk" als Inbegriff des „gemeinen Mannes" zu tun, wie ihn etwa Luther in seinen Schriften populär gemacht hat. Er bezeichnet das gewöhnliche Volk, die unteren, weniger gebildeten und begüterten Schichten im Gegensatz zu der im Mittelalter auch noch durch die verwendete Sprache von dieser getrennten Oberschicht. Dieser Volksbegriff lebt bei uns fataler Weise fort in den Selbstbezeichnungen „deutsch" und „Deutschland" , die etymologisch nichts anderes bedeuten als „zum Volk gehörig“ „völkisch“ bzw. „das Land, in dem das Volk das Sagen hat“. Das könnte man so verstehen, dass es sich bei „Deutschland“ um ein demokratisches Land handelt, in dem alle Angehörigen des Staatsvolks bzw. alle Inhaber/Innen der deutschen Staatsbürgerschaft gleichberechtigt an der Gestaltung des gemeinsamen Staates mitwirken. Aber es gibt leider auch die Interpretation des Begriffs „Volk“ , nach der sich die Verpflichtung aus dem Amtseid des Bundespräsidenten und der Bundeskanzlerin, den „Nutzen des deutschen Volkes zu mehren“ ausschließlich auf die Zugehörigen der durch die oben beschriebenen Merkmale gekennzeichneten „deutschen Volksgemeinschaft“ beziehen und die Bundeskanzlerin dadurch, dass sie darüber hinaus „Gerechtigkeit gegenüber jedermann", also auch gegenüber Geflüchteten geübt hat, ihren Amtseid verletzt hat und zur „Volksverräterin“ geworden ist.
Wie fängt man Anhänger/Innen solcher verqueren Vorstellungen von „Volk" und „Demokratie" wieder ein und wie bringt man sie in den Prozess demokratischer Willensbildung zurück oder überhaupt erstmals hinein? Mehr und erleichterte Volksabstimmungen, Volks- und Bürgerentscheide in Bund, Land und Kommunen und übernational auf der europäischen Ebene sind, wie die Erfahrungen der letzten Jahre beweisen, ein zweischneidiges Schwert. Es wäre allerdings sinnvoll gewesen, das in Art, 20 Grundgesetz etablierte Prinzip, dass die „Staatsgewalt“ vom „Volk“ in „Wahlen und Abstimmungen“ ausgeübt wird in der zentralen Frage der Beschlussfassung über Form und Inhalt der deutschen Vereinigung in einer gesamtdeutschen Volksabstimmung an Stelle des „Anschlusses“ der Neuen Bundesländer nach Art. 23 des Grundgesetzes zu vollziehen.
Die Ausgestaltung der Option „Abstimmungen" zu einer regelmäßigen und gleichberechtigten Form der politischen Willensbildung neben Wahlen und damit die Schaffung einer neuen Mischform von repräsentativer, direkter und plebiszitärer Demokratie in Deutschland und möglicherweise auch in Europa ist da schon sehr viel problematischer: Es ist einfach nicht zu vermeiden, dass Bürgerentscheide, Volksentscheide und Volksabstimmungen in ähnlicher Weise von mächtigen politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Gruppen für ihre Sonderinteressen instrumentalisiert werden wie die Wahlkämpfe für Parlamentswahlen und die Interessen der „Volkszugehörigen", die sich derzeit vielfach von den Formen und Verfahren der parlamentarischen Demokratie ausgeschlossen und abgehängt fühlen.
Aber mehr Bürgerbeteiligung, etwa in Form von lokalen Bürgerhaushalten, Anwohnerversammlungen, Mieterbeteiligung über die derzeitigen Mieterbeiräte hinaus, Jugendparlamente, vor allem aber auch mehr innerparteiliche Demokratie und neue, den Grundsätzen der gleichberechtigten Beteiligung von Frauen und Jugendlichen Rechnung tragen und auch denen mehr Raum geben, die sich nicht nur mit der Teilnahme an Abteilungsversammlungen und Anträgen bei Delegiertenversammlungen und Parteitagen, sondern etwa über Internetforen an der politischen Willensbildung beteiligen, sind sehr sinnvolle Innovationen des politischen Betriebs.
Es bleibt das Dilemma, dass all diese neuen Formen des politischen Diskurses und des politischen Agierens sehr viel stärker Menschen mit einem bereits „vorgefilterten“ politischen Bewusstsein ansprechen als jene „politischen Langzeitarbeitslosen", die sich oft über viele Jahre überhaupt nicht an Wahlen beteiligt haben und die jetzt, angezogen von den Protestformen von Pegida, AfD & Co über die politischen Ränder in die Mitte des politischen Prozesses eindringen.
Was will das Volk? In welchen Formen können der Volkswille und die Interessen des Volkes am besten zur Sprache kommen und umgesetzt werden? Welche Formen der demokratischen Willensbildung und der politischen Organisation werden den neuen Herausforderungen unserer Zeit gerecht? Diese Fragen begleiten jedes politische Engagement. Sie stellen sich neu vor und nach jeder wichtigen Wahl oder Abstimmung. Es gibt immer weniger längerfristig tragfähige Antworten.
Die Zeit der „ewigen Wahrheiten" ist vorbei, auch in der Sozialdemokratie. Und das „Grüne Buch“ Gaddafis kann nur ein Anreiz sein, immer wieder neu zu reflektieren, was „Demokratie“ als „Volksherrschaft“, Ausdruck und Umsetzung des „Volkswillens" heute und in Zukunft in der Praxis bedeuten.