von Heinz Theisen

Internationalisten – Globalisten – Realisten

Unsere Urteile über den Krieg in der Ukraine hängen von unseren weltanschaulichen Vorannahmen ab. Deren Bewusstwerdung wäre eine Schritt zu einem offenen Diskurs – jenseits von Gut und Böse. Dabei träfen zwei Theorien aufeinander, die seit Jahrzehnten in unterschiedlichen Konstellationen immer wieder von neuem zusammenprallen.

Der so genannte ›Liberale Internationalismus‹ befürwortet die maximale Ausweitung der Demokratie. Dies fördere auch die wirtschaftliche Entwicklung und zudem den Frieden in der Welt. Demokratien würden keine Angriffskriege führen, eine Annahme, die allerdings von den USA häufiger widerlegt worden ist.

Und trotz der ständigen Niederlagen der USA in ihren Interventionskriegen – zuletzt in Afghanistan – wird der Kampf für Freiheit und Demokratie als Legitimation für die Beteiligung westlicher Staaten an Kriegen außerhalb des eigenen Territoriums herangezogen – wie heute in der Ukraine. Mit diesem moralischen Motiv steht man auf Seiten der westlichen Werte und damit des Guten.

Eine Steigerung hat diese idealistische Denkweise im so genannten ›Globalismus‹ gefunden. Die Anliegen der ›Einen-Welt‹ übersteigen alle nationalen oder kulturellen Eigeninteressen so weit, dass der Westen nur noch als Instrument eines globalen Weltgeistes gilt. Die eigenen Interessen werden den moralischen Geboten der universellen Demokratisierung und der Bekämpfung globaler Probleme untergeordnet.

Der heute – anders als im Kalten Krieg – im Westen vorherrschende Internationalismus und Globalismus setzt die Universalität der eigenen Werte voraus. Statt Realpolitik soll eine ›werteorientierte Außenpolitik‹ die Demokratie oder neuerdings auch den Feminismus in aller Welt vorantreiben. Die beiden anderen Weltmächte erheben keinen Anspruch auf die Universalität ihrer Werte, aber umso mehr auf ihre Selbstbehauptung gegenüber den universellen liberalen Werten des Westens.

Die ›Realistische Schule‹ der Politikwissenschaft geht hingegen davon aus, dass Staaten in erster Linie für ihr eigenes Überleben zu sorgen haben. Selbstbehauptung sei der klassische Daseinszweck von Staaten, unabhängig von ihrer Staatsform. Für diese Annahme gibt es gute Gründe: die durchschnittliche Staatsdauer in der Geschichte beträgt nur 24 Jahre.

Je mächtiger ein Staat ist, desto wahrscheinlicher ist sein Überleben und daher sei es die Pflicht eines Staatsmannes immer mehr Macht für seinen Staat anzuhäufen – auch auf Kosten anderer Staaten. Eine Regenbogenwelt wird hier nicht in Aussicht gestellt, wohl aber zur Wachsamkeit und Abschreckungsfähigkeit aufgerufen. ›Erkenne die Lage‹, das heißt zunächst die geopolitische Lage, die sich neben der reinen Machtpolitik auch aus geokulturellen und geoökonomischen Faktoren zusammensetzt. Die sich daraus ergebenden Gefährdungen sind vordringlicher als die erträumten Gemeinsamkeiten von der ›Einen-Menschheit‹.

Die Selbstbehauptung der drei Weltmächte USA, China und Russland sind schicksalhaft auch für andere Regionen der Welt und insbesondere für ihre Nachbarn. Sie beanspruchen in ihrer weltweiten Konkurrenz Einflusssphären und Schutzzonen.

Realisten, die statt ideeller Ziele die Selbstbehauptung eines Staates im Vordergrund sehen, zeigen hingegen Verständnis für die Ängste Moskaus. Diese sind primär geopolitischer Natur. Eine ›Balance of Power‹ dient als Leitkategorie für eine stabile Ordnung und die ›Gemeinsame Sicherheit‹ erfordert immer auch die Rücksichtnahme auf die Sicherheitsinteressen des anderen.

Im Kalten Krieg wäre es gewiss wünschenswert gewesen, die Demokratie in Ungarn 1956 und in Prag 1968 gegen Russland zu verteidigen. Dass sich damals der Realismus durchgesetzt hat und die Einflusssphären respektiert wurden, ermöglichte das globale Überleben der Menschheit und spätere Bewegungen zur Freiheit.

Mit der Aufstellung atomarer Nato-Raketen in der Ost-Ukraine würden die entsprechenden Vorwarnzeiten bis Moskau so kurz, dass damit die Zweitschlagskapazität außer Kraft gesetzt wäre. Die circa 6000 Atomraketen Russlands würden sinnlos, Russland geriete in Abhängigkeit von den USA.

Die Nato sei aber doch ein ›Friedensbündnis‹, so die internationalistische Sicht. Entscheidend ist allerdings, ob die Russen das auch so sehen – und das ist nicht der Fall. Angesichts der Interventionspraxis des Westens in den Jahrzehnten seit dem Ende der Sowjetunion ist die Angst vor ihm auch in anderen Weltregionen gewachsen. Ob die Angst der Russen zu Recht oder Unrecht besteht, ist übrigens auch nicht entscheidend, da die Angst ein Teil der Realität ist, die in allen Strategien mitbedacht werden muss.

Vor Entscheidungen über die Zugehörigkeit der Ukraine zu einem Bündnissystem oder über Waffenlieferungen an die Ukraine sollte über die Vorrangigkeit dieser Theorien nachgedacht werden. Internationalisten und Globalisten billigen Weltmächten keine Einflusssphären zu, sondern proklamieren umgekehrt die volle Souveränität jedes Staates auch hinsichtlich seiner Bündniswahl.

Aus internationalistischer und globalistischer Perspektive liegt die Schuld und Täterschaft des Ukraine-Krieges allein bei Russland. Aus der Sicht der Realisten, hat der Westen durch Infragestellung der russischen Selbstbehauptungsfähigkeit den Angriffskrieg Russlands provoziert und schwere Mitschuld in der Vorgeschichte des Krieges auf sich geladen.

Die drei Weltmächte

Während die Europäer der internationalen oder sogar globalen Zusammenarbeit etwa zur Entwicklungshilfe und zum Klimaschutz Priorität geben und dafür eigene Sicherheitsinteressen, ja bereits die eigene Grenzsicherung ignoriert haben, verbinden die USA ihre imperialen Machtinteressen mit idealistischen Motiven zur Ausdehnung der Demokratie.

Eine Unterform des Internationalismus und Globalismus ist das Völkerrecht. Es ist geradezu ein Merkmal der drei Weltmächte, dass sie das Völkerrecht nicht weiter beachten, so etwa die USA im Krieg gegen Serbien, gegen den Irak und Libyen. Auch bei Obamas Drohnenschlägen gegen Terroristen handelte es sich um Völkerrechtsverletzungen. Im Sicherheitsrat der UN können sie entsprechende Anklagen mit einem Veto außer Kraft setzen.

Die drei Großmächte sind durch Gewalt entstanden und werden durch zumindest angedrohte Gewalt zusammengehalten. Sich darüber zu beklagen, heißt dem Löwen vorwerfen, dass er Fleisch frisst. Für den Löwen gelten andere Regeln als für Dänemark oder das heutige Deutschland. Kleinere Staaten richten sich daher klugerweise nach den ihnen benachbarten Weltmächten. Sofern sie deren Bündnissystemen nicht beitreten, sollten sie neutral bleiben und sich mit ihnen bilateral arrangieren.

Der offensive Imperialismus der USA

Die höchsten Militärausgaben der Welt dienen nicht der Verteidigung der USA, die mit zwei Ozeanen und nur zwei Nachbarstaaten Kanada und Mexiko sich mit einem Zehntel der Mittel verteidigen könnten.

Der offensive Imperialismus der USA fordert eine Sicherung ihrer globalisierten Wirtschaft und der entsprechenden Handelsströme. Sie nutzt die Nato – nach deren Zeit als Defensivbündnis im Kalten Krieg – als Schwert ihrer offensiven Weltpolitik.

Die USA halten sich seit ihrer Gründung für eine auserwählte Nation, die sich den ewigen Machtkämpfen Europas enthalten wollte. Die behauptete Universalität der Demokratie soll alle Kämpfe zu Ende bringen und dient als Legitimation ihrer Macht- und Wirtschaftsinteressen. Mit ihrem Meeres-Imperium wollen sie überall ihren Interessen Nachdruck verleihen können.

Der seit 2002 immer deutlicher erkennbare Willen der USA, die Ukraine in ihr Imperium zu übernehmen, entspricht einem maximalen Sicherheitsbegriff, der keine Gefährdung durch eine andere Weltmacht neben sich dulden will. Dafür werden Begriffe wie Freiheit, Demokratie und Menschenrechte im Fall der Ukraine sehr weit ausgelegt.

China war nur so lange ein Liebling der amerikanischen Handelspolitik wie es keine politischen Machtansprüche erhob. Nach dem man spät bemerkte, dass China auch weltpolitische Ambitionen hegt, im Gegensatz zu den USA allerdings nur ökonomische und keine idealistischen, gilt China parteiübergreifend als neuer Feind.

Mittels einer Nato-Russland-Sicherheitspartnerschaft wäre dem frühzeitig zu wehren gewesen. Stattdessen entschied die Regierungen sich, Russland als »Regionalmacht« (Obama) einzudämmen, damit es der amerikanischen Dominanz nicht gefährlich werden könne. Die USA waren nicht bereit, ihre ideelle Universalität und angestrebte Unipolarität in einer von den anderen Weltmächten geforderten multipolaren Weltordnung aufzugeben.

Aus diesem strategischen Kontext heraus wird das Interesse der USA an der Aufnahme der Ukraine in die Nato verständlich. Denn seit jeher bestand die Angst der amerikanischen Politik darin, dass eine eurasische Macht durch enge Kooperation zwischen Russland und Europa ihre wirtschaftliche Vorherrschaft in Frage stellt und die USA an den Rand des Weltgeschehens drängt.

Mittlerweile durchziehen Chinas Seidenstraßen längst den gesamten eurasischen Kontinent. Mit der Annäherung zwischen China, Russland und Europa wuchs die Angst der USA vor Eurasien. Sie erklärt, warum die USA seit nunmehr 20 Jahren Schritt für Schritt die Ukraine nach Westen in die Nato zu ziehen versuchen und dafür sogar einen Krieg mit Russland riskieren. Biden verweigerte schlichtweg ein Gespräch mit Putin über eine Neutralität der Ukraine – noch einen Monat vor Kriegsbeginn.

Mit der Ukraine als Nato-Mitglied wollen die USA offenkundig den eurasischen Kontinent in den Griff bekommen. Denn über die Ukraine kontrollieren sie die russischen und die neuerdings auch ausgebauten chinesischen Handelswege (›Seidenstraße‹) nach Europa. Mit dem Krieg in der Ukraine lassen sich sowohl Russland als über die Sanktionen auch Europa als wirtschaftlicher Wettbewerber eindämmen. Deutschland ist durch den Verzicht auf die Kernenergie schon energiepolitisch am meisten von den USA abhängig.

Die Sprengung der Pipelines in der Ostsee, wer auch immer sie konkret ausgeführt hat, ist von den USA genehmigt worden. Sie verifiziert die Imperialismustheorie, die in Europa wohl aus Scham über das eigene Versagen, einen eigenen Machtfaktor zu bilden, kaum mehr angesprochen wird. Stattdessen konzentrieren sich die Europäer auf den mitmarschierenden Idealismus der Universalität westlicher Werte.

Die an internationalistische und globalistische Weltanschauungen gebundenen Medien wollen es lieber gar nicht wissen: Doch dieser geopolitisch motivierte Terroranschlag in der Ostsee bedeutet nicht weniger als das Ende der Vorstellungen von einem unabhängigen und souveränen Europa.

Dass unsere Medien nicht einmal die Frage nach den Tätern stellen, beweist ihre Nähe zu den Fleischtöpfen des amerikanischen Imperiums. Dieses hat weitsichtig erkannt, dass Macht heute weniger ein territoriales als ein informationelles Problem ist. Biden nahm Scholz, der anfangs noch etwas bockig war, in die Pflicht und führte ihn vor laufenden Kameras vor.

Nach der Eindämmung Russlands werden die USA versuchen, die Europäer in die Pflicht zu nehmen, nicht mehr ›beim Chinesen zu kaufen‹. Dadurch stünde der Wohlstand Europas allerdings so sehr zur Disposition, dass es zu einer Spaltung der westlichen Welt kommen könnte.

Für die moralische Legitimation dieses Imperialismus haben die USA mit den globalistisch gesonnenen deutschen Grünen den bestmöglichen Bündnispartner gewonnen. Diese sind ob ihrer Gesinnung bereit, kleinliche Fragen nach den Interessen der deutschen Industrie oder des Energieverbrauchers zu übergehen. Ihr militanter Moralismus hilft, politische Gegner zu diskreditieren und auszuschalten.

Der universalistische Idealismus ist längst in einen globalistischen Moralismus umgeschlagen. Dieser unterscheidet nicht mehr nach richtig und falsch, sondern nach Gut und Böse. Wer Moralisten widerspricht, gehört nicht mehr zur Realistischen Schule, die sich selbst in den USA bis hin zu Henry Kissinger noch ein Ansehen bewahrt hat, sondern ist moralisch indiskutabel und böse.

Russlands defensiver Imperialismus

Die amerikanische Geopolitik ist am folgenreichsten für die Ukraine, die bilateral von den USA an die Nato herangeführt und faktisch in sie hineingeführt worden ist.

Damit war jene Rote Linie überschritten, die zum – gleichwohl verbrecherischen – russischen Angriffskrieg geführt hat. Jedem Verbrechen liegen Motive zugrunde. Die Hauptmotive für den russischen Angriffskrieg haben wir schon genannt: Sie liegen in der Angst vor verkürzter Vorwarnzeiten für Raketenschläge auf Moskau, welche die Zweitschlagskapazität außer Kraft setzen.

Der russischen Führung wird niemand eine Ideologie vorhalten können, ihr wichtigstes Ziel ist ihre eigene Selbstbehauptung und damit auch die ihres Imperiums. Das Regime erfreut sich auch deshalb allgemeiner Zustimmung, weil die Selbstbehauptung Russlands im Interesse der Mehrheit in der Bevölkerung liegt. Westliche Idealisten können nur schwer verstehen, dass das Bedürfnis vieler Bürger nach Selbstbehauptung ihrer Schutzgemeinschaft größer ist als jenes nach demokratischer Mitsprache.

Aus Sicht fast aller Russen befindet sich ihr Land in der strategischen Defensive. Je geringer die Chancen auf Kooperation und Konnektivität mit dem Westen wurden, desto wichtiger wurde die Ukraine als Baustein für eine eurasische Kooperation zwischen China, Russland und Europa.

Nachdem es Putin nicht einmal gelungen ist, Kiew zu erobern, stellt sich die These vom ›Angriff auf Europa‹ eigentlich nicht mehr. Er kann überhaupt kein offensiver Imperialist sein, der Europa bedroht, selbst wenn er es wollte. Er hat genug Mühe, das fragile russische Imperium zu erhalten.

Putin hat nicht den Zerfall der Sowjetunion, sondern den drohenden Zerfall Russlands in Tschetschenien und die prekäre Lage russischer Minderheiten an zwei Stellen zu korrigieren versucht, mit der Verteidigung und Ausrufung russischer Gebiete innerhalb Georgiens 2008 und im Falle des Angriffskrieges auf die Ukraine. Beide Staaten waren 2008 zu künftigen Nato-Staaten bestimmt worden.

Zum engeren Kreis dieses Imperiums werden nicht alle früheren Staaten der Sowjetunion – wie etwa das Baltikum – gezählt, wohl aber aus geokulturellen Gründen heraus die Zugehörigkeit Georgiens und insbesondere der Ukraine. Die Ausprägungen der Orthodoxen Religion spielen dabei eine wesentliche Rolle, ein Faktor, den westliche Politiker aufgrund ihres Kulturrelativismus nicht zu beachten in der Lage sind.

Eine Kapitulation Russlands in der Ukraine oder auch nur die Aufgabe der Krim würde das Ende des russischen Imperiums einleiten. Wer dies fordert, hat den Boden geopolitischen und realistischen Denkens verlassen. Einen Endsieg der Ukraine mögen wir uns im Herzen wünschen, aber mit dem Verstand können wir ihn nicht wollen. Russland ist die zweitstärkste Atommacht der Welt und je erbärmlicher und erfolgloser die konventionelle russische Kriegsführung wütet, desto größer wird die Gefahr taktischer Atomschläge oder auch einer weitgehend konventionellen Zerstörung der Westukraine.

Ein Sieg der Ukraine würde zu einem Kollaps des Regimes in Moskau führen und – wie nach dem Zerfall Jugoslawiens – Diadochenkämpfe der Völker und Mächte auf russischem Boden auslösen, nicht zuletzt um den Besitz der Atomwaffen.

Der Globalismus der Europäischen Union

Die EU wurde auch gegründet, um ihre zur Selbstbehauptung jeweils zu schwachen Nationalstaaten gemeinsam zu stärken. Dieser geopolitische Plan ist gescheitert. Die EU ist nicht einmal in der Lage, ihre Grenzen zu sichern und auch nicht, sich militärisch ohne die USA zu behaupten. Deshalb sind umgekehrt ihre Staaten auch gezwungen, sich an den Kriegen der USA in aller Welt zu beteiligen.

Die Nationalstaaten haben im Vertrauen auf die Sicherung der europäischen Grenzen im Rahmen des Schengen-Abkommens auf eine eigene Grenzsicherung verzichtet, im Gegenzug aber keine europäische Sicherheit erhalten. Manche EU-Kritiker – wie der Schweizer Publizist Roger Köppel – kommen bereits zu dem Befund, dass die EU weniger ist als die Summe ihrer Teile.

Dem Krieg ging ein fast zwanzigjähriger Konflikt über die Integration der Ukraine in den Westen voraus. Über das Veto Deutschlands und Frankreichs gegen eine Mitgliedschaft der Ukraine in der Nato 2008 setzte sich die amerikanische Politik hinweg. Die EU spielt im machtpolitischen Konzert der drei Weltmächte nur noch eine Nebenrolle. Ihr Demokratie-Idealismus ergänzt jedoch die Macht- und Interessenpolitik der USA, was die zunächst seltsam erscheinende Koalition von grünem Regenbogen mit der amerikanischen Machtpolitik erklären hilft.

Die Ukraine galt Idealisten wie Imperialisten als Teil der ›freien Welt‹, obwohl es sich – wie in Russland – eher um eine Oligarchie handelte. Die Behandlung der russischen und ungarischen Minderheiten und das Verbot aller Oppositionsparteien bei Kriegsausbruch entspricht nicht dem Minderheitenschutz in einer rechtsstaatlichen Demokratie. Im Weltkorruptionsindex findet sich die Ukraine nicht in der westlichen, sondern inmitten der afrikanischen Welt.

Die Europäische Union »glaubt nicht an Einflusssphären« (José Manuel Barroso), womit sie im Grunde die ganze Welt zu ihrer ideellen Einflusssphäre erklärt. Und nach längerem Zögern auch die Ukraine, obwohl diese weder zur EU noch zur Nato gehört. Während der Westen bei Tibet, Georgien und Transnistrien die realen Machtverhältnisse akzeptierte, zählt er die Ukraine zum Westen.

Es ist kein Geheimnis, dass die Maidan-Revolution dem Sturz der gewählten, aber dem Westen zu indifferent gegenüberstehenden ukrainischen Regierung diente. Dieser ›Staatsstreich‹ war aber verzeihbar, weil er der Demokratisierung und Verwestlichung diente.

Unipolare oder multipolare Weltordnung?

Dem westlichen Werteuniversalismus und Regenbogenglobalismus gelten Einflusssphären von Großmächten als völkerrechtswidrig und vorgestrig. Doch weder die islamische Welt, noch Russland oder China akzeptieren die Universalität westlicher Werte. Der islamische Fundamentalismus und der neu entfachte Nationalismus von China, Russland oder auch der Türkei sind Reaktionen auf das mit dem Universalismus verbundene Ausdehnungsstreben des Westens.

Die Rückkehr der Taliban widerlegte die Möglichkeit eines Demokratieaufbaus in Regionen, in denen keine historisch gewachsenen Vorbedingungen der Demokratie wie Säkularität und Aufklärung gegeben sind. Die globalistische Moral ist nicht durchhaltbar, denn im Falle des von Aserbaidschan angegriffenen Armenien oder des von Saudi-Arabiens angegriffenen Jemen zeigt der Westen keine Anteilnahme. Sie ist inkonsequent, wenn sie andere für unsere Freiheit kämpfen lässt.

Die Konflikte zwischen Internationalisten und Realisten spitzen sich heute zu zwischen den Vertretern einer unipolaren demokratischen Weltordnung, sei es unter amerikanischer Führung oder unter dem Zeichen des Regenbogens, und den Realisten, die eine multipolare Weltordnung fordern. Letztere fordern ein Gleichgewicht und die Koexistenz der Weltmächte.

Der Aufbau einer neuen Weltordnung muss mit der Klärung unserer Weltbilder beginnen. Von der Entscheidung für Internationalismus/Globalismus oder Realismus hängt ab, ob der Westen sich in die multipolare Weltordnung einfügt, seine Grenzen bestimmt und sichert, aber nicht über diese hinausgeht.

Letzteres wäre im Grunde nur eine Rückkehr zur Weltordnung des Kalten Krieges. Der damalige US-Außenminister Henry Kissinger hatte zu jener Zeit die Weltordnung nach dem klassischen Muster eines ›Gleichgewichts der Mächte‹ aufgebaut. Bei der Übertragung der Ergebnisse des Wiener Kongresses von 1815 auf seine Zeit konnte er aus seiner Dissertation über Metternich schöpfen und mit den Regimen in Peking und Moskau eine Politik der friedlichen Koexistenz in die Wege leiten. Es lohnt sich schon, wenn ein Außenminister sein Studium zu Ende geführt hat.

Auf dieser Grundlage kann der Aufbau einer neuen multipolaren Weltordnung beginnen, in der wir mit Russland – wie mit einer Vielzahl anderer, ›verbrecherischer‹, jedenfalls autoritärer und sogar totalitärer – Mächte in Koexistenz leben. In ihr würde die Selbstbehauptung der Mächte durch Selbstbegrenzung erfolgen. Eine politische und kulturelle Koexistenz wäre die Basis für eine wirtschaftliche und technische Konnektivität über die Blöcke hinweg.

Russlands Versuche, von Peter dem Großen bis zu Gorbatschow, ein Teil Europas und der westlichen Welt zu werden und etwa ein »Gemeinsames Haus Europa« (Gorbatschow) zu begründen, sind von den USA für beendet erklärt worden. Russland wird auf unabsehbare Zeit nur neben dem westlichen Europa bestehen. Demnach wird es nicht motiviert sein, sich an den moralischen Maßstäben des Westens messen zu lassen.

Wie geht es weiter in der Ukraine?

Mit der Entneutralisierung der Ukraine ist die Chance auf eine eurasische Kooperation zerstört worden. Dabei wäre die Neutralität der Ukraine auch aus innenpolitischen Gründen von überragender Bedeutung gewesen, denn in diesem Land treffen die westeuropäischen und osteuropäischen Kulturen unmittelbar aufeinander.

Auf dieser auch kulturellen Drehscheibe der eurasischen Landmasse hätte daher alles getan werden müssen, durch eine Föderalisierung bis hin zur Autonomisierung anders geprägter kultureller Regionen wie der russischen oder auch ungarischen im Westen den neutralen Status von innen auszugestalten. Sofern dies nicht möglich ist, wäre gegebenenfalls auch die Scheidung zwischen Landesteilen anzudenken gewesen.

Da diese Chance auf Neutralität verspielt worden ist, hilft – um den geopolitischen Gegebenheiten Rechnung zu tragen nur noch die Scheidung – wie in Korea, in der Tschechoslowakei, Zypern und Deutschland. Die Ostdeutschen konnten 40 Jahre lang nicht verlangen, dass für ihre Freiheit ein Dritter Weltkrieg riskiert wird. Die Ukrainer werden die Teilung ihres Landes in Kauf nehmen müssen.

Auf der internationalen Ebene könnte sich aus den Trümmern der Illusionen ein neuer Minimalkonsens abzeichnen. Keiner der Akteure in der Ukraine hat seine Ziele erreicht: Russlands Angriff hat im Ergebnis den Zusammenhalt der zuvor als hirntot geltenden Nato gestärkt.

Die Vereinigten Staaten scheinen auch diesen Krieg nicht gewinnen zu können und müssen sich mit dem westlichen Teil der Ukraine als Bündnispartner zufrieden geben. Die USA haben eine eurasische Kooperation unterbunden, dafür aber eine umso engere Kooperation zwischen Russland und China, dem Iran und Indien etc. auf den Weg gebracht. Moskau ist als geostrategischer Rivale aus Europa verdrängt.

Dafür entsteht eine multipolare Ordnung ohne den Westen und womöglich sogar gegen den Westen. Bundeskanzler Scholz musste in Brasilien und Indien zur Kenntnis nehmen, dass diese zuvor als westlich geltenden Mächte nicht am Krieg teilhaben wollen, weder mit Waffenlieferungen noch mit Sanktionen.

Die westlichen Sanktionen haben dem globalen Süden Schaden zugefügt und eher gegen den Westen aufgebracht. Die Universalisierungsversuche des Westens scheinen den gegenteiligen Effekt zu haben. An ihrem Ende steht vielleicht nicht Russland, sondern der Westen isoliert da. Der EU bleibt nur eine Juniorrolle mit den USA. Sollte sie sich zu einer eigenen Machtrolle durchringen, droht darüber die ›atlantische Wertegemeinschaft‹ zum Ende zu kommen.

Der EU ist es bisher nicht gelungen, der Weltherrschaftspolitik der USA eine eigene Strategie und Teilhabe an einer multipolaren Weltordnung entgegenzustellen. Dafür müsste sich Europa von den USA emanzipieren, eine Scheidung wäre unvermeidlich. Es sei denn, die Amerikaner entschließen sich in den nächsten Wahlen, von der unipolaren Weltpolitik Abstand zu nehmen.

Ungarn bleibt in der EU und in der Nato, nicht weil es deren Irrwege etwa in der Ukraine mittragen, sondern weil es dazu beitragen will, EU und Nato von offensiven zu defensiven Akteuren zu verwandeln. Statt andere Weltmächte will Ungarn die westlichen Institutionen EU und Nato verändern, mit autoritären politischen Weltmächten wie Russland politisch in Koexistenz leben und wirtschaftlich mit ihnen kooperieren.

Auf diese Weise verbindet Ungarn die Gebote der politischen Koexistenz mit wirtschaftlicher Konnektivität. Es betreibt eine Politik der Selbstbehauptung durch Selbstbegrenzung, die anderen Staaten als Modell gelten sollte.

Vom Moralismus zum Realismus?
Wie der Ukraine-Krieg unser Denken verändert?

Pazifisten wurden über den Ukraine-Krieg über Nacht zu den eifrigsten Waffenlieferungsbefürwortern und zu Bellizisten, die vor allem den Kampfeswillen anderer begrüßen. Europas Globalisten begeisterten sich für den Kampf um die nationalstaatliche Souveränität der Ukraine und feministische Außenpolitikerinnen unterstützen die Flucht der Frauen und die Standhaftigkeit der ukrainischen Männer.

Im Lichte ihrer globalistischen Gesinnung muss das Verhalten der Linken zum Krieg in der Ukraine als eine kopernikanische Wende verstanden werden. Wenn einstige Wehrdienstverweigerer in der deutschen Regierung – wie Kanzler und Vize-Kanzler – für die nationale Selbstbestimmung der Ukrainer kämpfen, können sie dies dem eigenen Staat nicht länger verweigern. Der Nationalismus ist damit rehabilitiert.

Um den Kampf gegen rechts ist es ruhiger geworden. Die realen äußeren Bedrohungen könnten den weitgehend eingebildeten Feind ersetzen. Als ›rechts‹ gilt, wer für das Eigene streitet, ob für die eigenen Interessen oder die eigene Kultur.

Statt der Begriffe ›rechts‹ und ›links‹ wird eine Gegenüberstellung von Universalität und Globalismus auf der einen Seite und Koexistenz und Abgrenzung, von Unipolarität und Multipolarität auf der anderen Seite die strategischen Alternativen begreifen helfen. Der Anspruch auf Demokratie und Freiheit wird wesentlich stärker als bisher mit der Realität des Oligarchentums konfrontiert werden müssen.

Sodann sind die Reichweite und Mitgliedschaft westlicher Bündnisse im Hinblick auf das Sicherheitsbedürfnis sowohl angrenzender Mächte als auch auf den Zusammenhalt des eigenen zu reflektieren. In Zukunft wird genauer über Bündnisse und ihre Mitgliedschaften, über Einflusssphären und Grenzen nachgedacht werden müssen. Die Bereitschaft zur Selbstbehauptung muss am angemessenen Ort und zu realistischen Bedingungen erfolgen. Die erneuerte Begeisterung für Freiheit und Demokratie sollte als defensive Strategie genutzt werden, einhergehend mit dem Sinn für die zu schützenden Grenzen der Freiheit und des Westens.

Ein neuer realistischer Kulturalismus, der um die Grenzen der jeweiligen Kulturen weiß, würde aber zunächst die Anerkennung der Bedeutsamkeit von Kultur voraussetzen. Insbesondere das von fremden Kulturen und Mächten umtoste Europa bräuchte einen neuen Sinn für seine Identität und die aus ihr abzuleitenden Grenzen. Die Bewahrung des eigenen Kulturraums setzt voraus, dass man diesen kennt und abgrenzt.

Die Selbstbehauptung Europas in einer multipolaren Weltordnung

Im Zusammenprall der Mächte erweist sich die Eindämmung des einen als Einkreisung des anderen und beide Motive schaukeln sich in tragischer Dialektik gegenseitig hoch. Eine Lehre des Ukrainekrieges wird sein, dass Großmächte Einflusssphären haben und wir diese in Rechnung zu stellen haben. Damit wird die Frage nach Mitgliedschaft in der Nato und in der EU noch gravierender.

Die Abkehr von universalistischen Herrschafts- und globalistischen Wunschvorstellungen erfordert eine neue Strategie für den Westen, wie ich sie in dem Strategieentwurf einer »Selbstbehauptung durch Selbstbegrenzung« darzustellen versucht habe. (vgl. Heinz Theisen, Selbstbehauptung. Warum Europa und der Westen sich begrenzen müssen, Reinbek 2022). Sie könnte die Notwendigkeiten von Multipolarität, Koexistenz und Neutralität verbinden helfen.

Die Strategie einer ›Selbstbehauptung durch Selbstbegrenzung‹ bedeutet den Abschied von einer mal imperialistisch, mal moralisch motivierten Einmischung in fremde Kulturkreise. Fremd ist, was wir nicht verstehen und wo wir daher auch nicht bestehen. Der politische Universalismus des Westens war ein Irrweg.

Er hat ganze Regionen durch Interventionen destabilisiert und andere Kulturen gegen den Westen aufgebracht, ihren Fundamentalismus und Nationalismus angeheizt. Im Rahmen einer neuen Strategie der ›Selbstbehauptung durch Selbstbegrenzung‹ würde sich der Westen dagegen weit mehr zurücknehmen, sich auf seine eigenen Angelegenheiten konzentrieren und gegenüber den Konflikten in anderen Machtsphären eher eine Haltung der Neutralität einnehmen.

Die Stärke des Westens entspricht schon lange nicht mehr der Höhe seiner Moral, mit der er sich für allzuständig bei allen Problemen der Welt zu empfinden scheint. Ein Achtel der Weltbevölkerung, so viele umfassen die Länder des Westens etwa, kann auf Dauer nicht den Rest der Welt dominieren und auch nicht alle entwickeln.

Wir können für unsere Werte werben, aber niemand, nicht einmal das bevölkerungsmäßig kleine Afghanistan, konnten wir – trotz zwanzigjährigem Einsatz – zu ihrer Übernahme zwingen. Der Mangel an Selbstbegrenzung, auch hinsichtlich der den Interventionen im Irak und in Libyen folgenden Flüchtlingsströme, schwächt unsere eigene Selbstbehauptung.

Das Fehlen jeder Ordnung ist oft schlimmer als eine unterdrückerische Hegemonialmacht. Ein politischer Zerfall Russlands würde eine Vielzahl von neuen Mächten im eurasischen Raum auf den Plan rufen und das Vordringen Chinas nach Sibirien erleichtern.

Schon heute betreiben Mittelmächte wie die Türkei oder Aserbaidschan ungeniert eine revisionistische Politik, da ihnen die auf die Ukraine fixierten westlichen Mächte und auch Russland keine Grenzen mehr setzen. Russland fällt durch den Krieg in der Ukraine als Schutzmacht Armeniens aus. Deshalb gäbe es selbst im Falle einer russischen Niederlage und sogar eines Regimewechsels in Moskau keinen Anlass für einen demokratischen Triumphalismus. Nach einem etwaigen Sturz von Diktatoren droht ein Machtvakuum, in dem sich die Höllentore des Bürgerkriegs und der Anarchie öffnen.

Wird die Neuordnung der Welt multi- oder bipolar oder nur anarchisch sein?

Im Kampf um den Einfluss auf die eurasischen Staaten würde die bipolare Konkurrenz zwischen China und den USA und der neue Nationalismus zwischen den Staaten Nullsummenspiele befeuern. Russland ist bei weitem nicht so isoliert, wie vom Westen erwünscht. Das russische Eingreifen in Syrien hat den Krieg zu beenden geholfen, während der Westen mit seiner einseitigen Dämonisierung Assads keine Beiträge zur Befriedung der Situation geboten hat. Eine multipolare Weltordnung wäre ein Mittelweg zwischen utopischem Globalismus und regressivem Nationalismus.

In einer multipolaren Weltordnung müssten die Player ihre Einflusssphären in Analogie zu den Ergebnissen des Wiener Kongresses von 1815 gegenseitig respektieren. Auf ihm haben die europäischen Großmächte ihre Sphären in Europa aufgeteilt. Diese Ordnung hatte trotz einzelner Kriege im Kern ein Jahrhundert Bestand.

Stabilisierende politische Strukturen in einer multipolaren Ordnung wären eine Voraussetzung für den Aufbau wissenschaftlich-technischer Vernetzungen. Den Kampf für emanzipatorische gesellschaftliche Entwicklungen sollten die auf Stabilität ausgerichteten Staaten gesellschaftlichen Akteuren aus Wissenschaft, Technik und Ökonomie überlassen.

Verändert der Ukraine-Krieg die Europäische Union ?

Am wahrscheinlichsten wäre ein Perspektivenwechsel zur Ukraine durch einen Wahlsieg von Donald Trump. Die weltweite Herrscherrolle der USA ist dort keineswegs unumstritten und zeigt nicht zuletzt in der unterfinanzierten Sozial-, Gesundheits- und Bildungspolitik der USA ihre Schattenseiten. Aber auch Trump war kein Isolationist, hielt sich aber mit missionarischem Eifer, anderen Staaten die Demokratie und Freiheit bringen zu wollen, zurück. ›America First‹ bedeutete für ihn jedenfalls, keine Kriege für Ideale führen zu wollen.

Die Frage nach Europas Rolle stellt sich vor allem im Hinblick auf dessen Haltung zum offensiven Imperialismus der USA und zum defensiven Imperialismus Russlands. Die Europäische Union könnte als Imperium gedacht werden, welches in sich viele Nationen enthält. Vielfalt nach innen, Stärke nach außen. Die Stärke nach außen könnte die EU im Nato-Verbund realisieren, indem sie ihre Stellung darin durch stärkere Verteidigungsanstrengungen ausbaut und festigt.

Nationalstaaten sind unverzichtbare Bausteine, jedoch noch keine schützenden Gebäude. In einem geostrategischen Welthandel wären die zu kleinen europäischen Nationalstaaten Spielbälle der großen Mächte. Im Rahmen des europäischen Binnenmarkts und einer Welthandelsmacht EU wäre hingegen eine Selbstbehauptung gegenüber China und auch den USA möglich.

Wo der europäische Nationalstaat aufgrund der globalen Probleme, wie in der Klima-, Migrations- und Sicherheitspolitik, zu klein ist, wäre großregionales Handeln geboten. Die USA, China und Russland sind zu großregionalem Handeln und damit zur globalen Selbstbehauptung in der Lage, Dänemark und Deutschland nicht.

Ein Geburtsfehler der Europäischen Union liegt darin, dass sie vielfach als eine Art neuer Nationalstaat über allen Nationalstaaten gedacht worden ist. Die Logik des Nationalstaates liegt in dessen Einheitlichkeit, was der inneren Vielfalt Europas nicht gerecht werden kann. Eine konföderierte staatenbündische Union könnte hingegen – vergleichbar zu den Imperien der Vergangenheit – der inneren Vielfalt der Kulturen gerecht werden, den Nationalstaaten Souveränität nach innen belassen und sich auf die gemeinsame, im Unterschied zu früheren Imperien rein defensive Selbstbehauptung gegenüber außen konzentrieren.

Vielfalt und Dezentralität nach innen stehen eigentlich im Einklang mit dem Subsidiaritätsgebot der Europäischen Verträge. Dem Gebot von mehr Dezentralität nach innen steht umgekehrt das Bedürfnis und die Notwendigkeit von mehr Einheit und Stärke nach außen gegenüber. Eine imperiale Schutzmacht gegenüber Außen würde gegenüber dem erstarkten Islamismus, aber auch gegenüber der neuen Koalition von Russland und China und zudem gegen eine zu starke Dominanz der USA innerhalb des Westens gebraucht werden. Die Selbstbehauptung der Europäischen Union begänne an den Grenzen nach Süden und Osten.

Aus diesen anschwellenden Narrativen zu einem »Europa, das schützt« (E. Macron), müssten kontrollfähige europäische Grenzen und ein gemeinsames Asylgesetz hervorgehen. Polen und Ungarn könnten als Wegbereiter eines der Realität angepassten Europas in der neuen Weltordnung gelten. Die EU müsste zur Realpolitik und damit zur Interessenpolitik zurückkehren. Für die Bekämpfung illegaler Migration könnte auch die Entwicklungspolitik als Instrument der Sicherheitspolitik dienen. Die EU und ihre Staaten stellen 66 Prozent der Weltentwicklungshilfe und sie könnten die Hilfe an Bedingungen etwa zur Wiederaufnahme von illegalen Flüchtlingen binden.

Die innere Spaltung der EU zwischen den Mittelosteuropäern und den Westlern verläuft zwischen den Vorstellungen von einem zentralisierten, modern vereinheitlichten Europa und dem Europa der Nationen, welches Respekt vor der Souveränität fordert, wobei die neue Anlehnung an die USA die Union außenpolitisch fundamental spalteten könnte.

Viele Osteuropäer zeigen Skepsis gegenüber einem libertären Laisser-faire, wie es sich heute in der westlichen Gesellschaftspolitik ausdrückt. Der ›Links-Liberalismus‹ sei eine neue Form der Freiheitsgefährdung, die den Umbau Europas zu einem traditionsbefreiten Siedlungsraum flexibler, postnationaler und hybrider Patchwork-Existenzen vorantreibt. Umgekehrt gilt der Osten vielen im Westen als ›rückwärtsgewandt‹, ›illiberal‹, ›autoritär‹.

Die Bedeutung Polens und Ungarns für Europa liegt darin, dass sie sowohl moralische Grenzen nach Innen als auch physische Grenzen nach Osten und Südosten zu verteidigen bereit sind, wozu die EU-Grenzschutzbehörde Frontex nicht in der Lage gewesen wäre. Ob die neuen Protektionisten in Europa, von Victor Orban bis vielleicht demnächst auch Georgia Meloni Europas Zukunft als bloßes Anhängsel der Weltpolitik noch einmal wenden können, ist offen, das heißt auch von unserer Willensbildung abhängig.

Ohne eine Europäische Verteidigungsgemeinschaft wird die EU keinen Machtpol in der multipolaren Welt bilden können. Diese muss gegebenenfalls auch innerhalb der Nato aufgebaut werden. Als zweiter Pfeiler könnte sie dazu beitragen, die Nato wieder von einem global agierenden Bündnis zu einem Defensivbündnis zurückzuentwickeln.

Die Rufe nach mehr nationaler Stärke stehen dazu nicht im Widerspruch. Ein starkes Europa setzt ein starkes Deutschland voraus und dieses benötigt zu seiner Existenzsicherung ein starkes Europa. Die Zusammensetzung eines Großraums sollte sich – so schon Carl Schmitt – aus den geforderten Fähigkeiten zur Problembewältigung definieren.

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