1. Herr Brandt, wofür brauchen wir ein Denkmal der deutschen Einheit?
Die friedliche Revolution und die Wiederherstellung der staatlichen Einheit sind Grund genug und zugleich Anlass, sich an die freiheitlichen Traditionen Deutschlands zu erinnern. Natürlich gehört die Erinnerung der nationalsozialistischen Massenverbrechen zum Kernbestand unseres nationalen Selbstverständnisses. Aber wir können den Jüngeren nur zumuten, dieses Erbe auf sich zu nehmen, wenn wir ihnen auch positive Identifikation anbieten. Ich erinnere mich an ein Transparent bei den Leipziger Demonstrationen 1989, auf das jemand die Zahlen geschrieben hatte: «1789 – 1848 – 1918 – 1989«. In dieser Tradition sollte das Denkmal gesehen werden.
2. Warum ist der erste Versuch gescheitert, dem Denkmal eine Gestalt zu geben?
Die meisten großen Denkmalprojekte waren ja kompliziert. Auch beim Holocaust-Mahnmal dauerte es lange, bis eine Richtung gefunden war. Und im Nachhinein sagten viele, es sei gut gelungen. Das ist wichtiger als irgendein Zeitplan. Ich vermute, in diesem Fall haben die Schwierigkeiten damit zu tun, dass die Deutschen sich mit nationaler Symbolik aus naheliegenden Gründen schwertun, sei sie auch noch so »demokratisch«.
3. Kann es daran liegen, dass nicht alle Deutschen dasselbe, durchweg positive Bild von der Einheit haben?
Ja, das ist sicher so. Wenn man konkret fragt, möchte die übergroße Mehrheit an der Einheit festhalten. Wichtig ist aber, zwei Dinge auseinanderzuhalten: Die Kritik an bestimmten Elementen des Einigungsprozesses – Tempo, staatsrechtliche Form, gesellschaftspolitischer Inhalt – muss man trennen von der Einheit als solcher. Uns fehlt die Selbstverständlichkeit eines nationalen Bewusstseins, wie sie andere demokratische Länder haben. Insofern ist die Diskussion über das Denkmal mindestens ebenso wichtig wie das Monument selbst.
4. Haben Sie selbst vor 1989 an eine Wiedervereinigung geglaubt?
Langfristig ja, doch; mit der staatlichen Einheit, wie sie dann kam, habe ich nicht gerechnet. Andererseits erwartete ich seit den frühen 80er-Jahren, dass etwas in Bewegung kommen würde zwischen den Blöcken, zwischen der Bundesrepublik und der DDR. Mit dieser Einstellung hat man sich damals nicht nur Freunde gemacht. Manche hielten es für Abenteurertum, für naiv oder zumindest illusorisch. Andere meinten über die Paktzugehörigkeit Deutschlands auch nur nachzudenken, über die Auflösung der Blöcke, bedrohe die Sicherheit des Westens.
5. Haben Sie Antworten auf deutsche Fragen gefunden?
Zusammen mit einem Kreis Gleichgesinnter bemühte ich mich darum, die deutsch-deutschen Beziehungen unterhalb der staatlichen Ebene praktisch zu intensivieren. Offiziell ging das natürlich nur mit Zustimmung der SED, zu der ebenso Kontakte hergestellt wurden wie zu Oppositionellen und – parteiübergreifend – zu den politischen und gesellschaftlichen Kräften in der Bundesrepublik. Als dann der Umbruch kam, gründeten wir gleich im Januar 1990 die Deutsche Gesellschaft als ersten gesamtdeutschen Verein mit einer großen politischen Breite. Lothar de Maizière war dabei, Heiner Müller, Armin Mueller-Stahl, Jens Reich, Johannes Rau und Martin Walser und viele andere.
6. Die politische Entwicklung nach 1989 war nicht genau das, was Sie sich vorgestellt hatten.
Auch wenn ich für mich in Anspruch nehme, in den 80er Jahren unter vielen Blinden ein Einäugiger gewesen zu sein: Ich muss offen gestehen, dass ich die Asymmetrie des Prozesses, die Einseitigkeit des Zusammenbruchs des Sowjetimperiums – gesellschaftlich und sicherheitspolitisch – nicht vorhergesehen habe. Ich hatte immer mit einer völlig neuen, blocküberwindenden Sicherheitsstruktur in Europa gerechnet. Für Deutschland hatte ich auf einem sozusagen dialektischen Annäherungsprozess zwischen beiden Staaten gehofft, der in der Vereinigung münden würde. Das eindeutige Votum der Ostdeutschen für die Beitrittslösung war dann natürlich nicht zu bestreiten.
7. Was hat Sie geprägt? Ihre Eltern, Ihre Jugend in Berlin, die deutsche Teilung?
Alles drei und sicher manches mehr. Ich war ja an allem dicht dran, und ich wuchs in einem sehr politisierten Elternhaus auf. Man bekam viel mit. Zum Beispiel, als ein Jahr nach dem Mauerbau Peter Fechter auf der Flucht an der Mauer verblutete. Ich habe meinen Vater nur selten so zornig erlebt. Es war eine ungeheuer angespannte Situation in der Stadt, die Berliner demonstrierten an der Mauer und vorm Rathaus Schöneberg. Mein Vater, damals Regierender Bürgermeister, nahm uns alle, die ganze Familie, mit zum Rathaus und sprach zu den Demonstranten. Es waren Steine auf sowjetische Fahrzeuge geworfen worden, die sich ja auch im Westteil bewegen durften. Aber die Leute hatten auch schon die Steine in der Hand, um sie auf amerikanische Fahrzeuge zu werfen.
8. Sie sind schon als ganz junger Mensch eigene politische Wege gegangen, wurden Mitglied der »Falken«, der sozialdemokratischen Jugendorganisation, die deutlich links von der SPD stand.
Ja, das war meine eigene Entscheidung. Der Anfang eines Prozesses, wenn man so will.
9. Die politische Ablösung vom Vater?
Ja auch, doch konnte er sich nicht beklagen. Er hatte ja, durch seine Familiengeschichte bedingt, sich selbst sehr früh eine eigene Meinung bilden und entscheiden müssen. Das hat er uns auch abverlangt.
10. Was bedeutete das?
Eines Abends nahm er mich beiseite und sagte sehr ernst: Es könne sein, dass er demnächst für lange Zeit nicht mehr nach Hause käme. Es war 1962, ein Jahr nach dem Mauerbau, kurz vor der Kubakrise. Wenn er nicht wiederkäme, sagte er, müsse ich als ältester Sohn die Verantwortung für die Familie übernehmen. Damals war ich noch nicht einmal 14 Jahre alt – die Situation war beängstigend.
11. Was war passiert?
Die Senatsregierung befürchtete, die Russen könnten im Handstreich West-Berlin einnehmen. In diesem Falle planten sie, einen inneren Kreis rund um das Schöneberger Rathaus bis zum Letzten zu verteidigen. So sollte zumindest symbolisch West-Berlin gehalten werden, bis Gegenmaßnahmen oder Verhandlungen in Gang kämen – um den Eindruck zu verhindern, die Berlin-Frage sei abgeschlossen.
12. Sie haben später gegen den Vietnamkrieg protestiert, gehörten zur linken Studentenbewegung. Wie wurden politische Differenzen im Hause Brandt ausgetragen?
Mein Vater war ein sehr geduldiger Gesprächspartner, auch wenn er mal aus der Haut fahren konnte. Einmal hat er mir sogar den Rücktritt als Bürgermeister angedroht – er wollte mir wohl die Tragweite meines Handelns klarmachen. Die 60er-Jahre in Berlin waren eben sehr angespannt. Einerseits waren die Amerikaner die Schutzmacht in Berlin, andererseits wurde hier lautstark gegen deren Krieg in Vietnam protestiert. Willy Brandt sah wohl, dass dieser Krieg mehr als problematisch war. Aber als Berliner Bürgermeister wollte er sich nicht gegen die Amerikaner stellen. Paradoxerweise wurde das etwas einfacher für ihn, als er 1966 Außenminister wurde.
13. Ihr Vater ging 1966 als Außenminister nach Bonn. Sie selbst blieben – obwohl noch Schüler – in Berlin.
Ich hatte meine Freunde hier, stand ein Jahr vor dem Abitur. Und Bonn, das war für mich Provinz. Außerdem war ich eigentlich ganz froh, dass es etwas mehr Distanz zwischen meinem Vater und mir geben würde.
14. Zu den Gründungsmitgliedern der Deutschen Gesellschaft gehörte auch Ihr Vater. Waren Sie 1990 an einem Punkt politisch mit ihm einer Meinung?
In gewisser Weise ja, denn die deutsche Einheit war uns beiden seit jeher ein großes Anliegen, wo auch immer sonst unterschiedliche Vorstellungen noch vorhanden gewesen sein mögen.
15. Haben Sie an jener Demonstration gegen den Schah-Besuch am 2. Juni 1967 teilgenommen, bei der der Student Benno Ohnesorg erschossen wurde?
Nein, aber mehr aus Zufall. Ich war noch Schüler und musste für eine Mathematikarbeit lernen. Von den Schüssen habe ich aber noch in der Nacht erfahren und war erschüttert. Dass jemand zu Tode kam, war trotz aller Härte, mit der die Auseinandersetzungen ausgetragen wurden, ein Novum. Was die Enttarnung des Schützen Kurras als Stasi-Agent und SED-Mitglied angeht – es ist berechtigt, jetzt alle Fragen aufzuwerfen. Aber diese Fragen sind noch nicht die Antworten.
16. Hätten Sie es damals für möglich gehalten, dass jemand wie Karl-Heinz Kurras, ein West-Berliner Polizist, Stasi-Spitzel war?
Nein, und es erscheint mir auch heute wie eine absurde Geschichte des Kalten Krieges. Die Angelegenheit muss zunächst erforscht werden. Natürlich wussten wir alle, dass es Spitzel der Stasi in unseren Reihen gab. Auch ich bekam einmal Besuch von einem Studenten aus der DDR, bei dem es ganz offensichtlich war, dass er nicht einfach mal so vorbeigekommen war, um den Einmarsch der sowjetischen Truppen in die CSSR zu diskutieren. Er kam dann nicht mehr wieder. Offenbar war ihm klar geworden, dass meine Positionen mit denen seiner Partei nicht vereinbar waren.
17. Welchen Einfluss hatten Stasi und DDR auf die Studentenproteste?
Man muss die Phasen unterscheiden: Die Bewegung von 1967/68 war mehrheitlich kritisch gegenüber den Ostblock-Ländern eingestellt. Das heißt nicht, dass sie demokratisch im Sinne des Grundgesetzes war. Aber die starke Tendenz pro SED und Sowjetunion gab es erst etwas später, als eine Ausweitung der Bewegung stattfand. Es war auch keine beherrschende, aber immerhin eine beträchtliche Tendenz. Für die Ost-Seite war das Ganze nicht unproblematisch. Auf der einen Seite stand das Interesse, den Westen in Schwierigkeiten zu bringen. Aber das Antiautoritäre war natürlich für die DDR ein Problem. Ein Mann wie Rudi Dutschke hielt ja bewusst Kontakte zu oppositionellen Kräften des Ostblocks, zum Beispiel in der CSSR.
18. Die Geschichte von 1968 muss also nicht neu geschrieben werden?
Selbstverständlich sollte weiter geforscht und kritisch nachgefragt werden. Doch man darf nicht vergessen: Die Proteste um 1968 waren ein internationales Phänomen, das sogar einige der kommunistischen Staaten erfasste. Außerdem waren die Proteste am 2. Juni 1967 bereits einige Zeit im Gang – auch wenn die Erschießung Ohnesorgs das Ganze noch einmal verschärfte.
DIE WELT vom 7. Juli 2009