1. 1982 erschien das von Wolfgang Venohr herausgegebene Buch »Die deutsche Einheit kommt bestimmt«, an dem auch Sie mitgeschrieben haben. Warum haben Sie an die Einheit geglaubt?

Die deutsche Einheit war für mich keine Glaubensfrage, die Teilung Deutschlands war ein ungelöstes Problem und, davon war ich aufgrund meiner analytischen Überlegungen stets überzeugt, nicht das letzte Wort der Geschichte. Bis etwa 1970 ging übrigens auch die SED von der Fortexistenz einer einheitlichen deutschen Nation aus, deren staatliche Reorganisation man sich natürlich ganz anders vorstellte als bei den politischen Faktoren Westdeutschlands. Mit der späteren Zwei-Nationen-Theorie wollte die SED-Führung ihre Herrschaft stabilisieren – angesichts der auf eine subversive Weise als bedrohlich empfundenen »Neuen Ostpolitik« Bonns. »Aggression auf Filzlatschen« nannte das der DDR-Außenminister Winzer. Es spricht einiges für die These des Völkerrechtlers Wolfgang Seiffert, der selbst mehr als 20 Jahre in der DDR wissenschaftlich und politisch tätig war, der Übergang von der Zwei-Staaten‑ zur Zwei-Nationen-Konzeption habe die strukturelle Legitimationskrise der DDR nicht entschärft, sondern zugespitzt.

2. Wenn die deutsche Einheit also kommen musste, ist die Nation ein Wert an sich?

Ich würde nicht so weit gehen zu sagen, die deutsche Einheit musste im buchstäblichen Sinne kommen (das war Venohrs Formulierung), schon gar nicht in den Formen und auf dem Weg, wie es dann geschah. Ganz sicher war ich aber zu jeder Zeit, dass es so etwas wie eine »deutsche Frage« gäbe und dass der deutsche und der europäische Status quo nicht dauerhaft Bestand haben würden. In der Nation als einer auf historischen sowie muttersprachlich-kulturellen Bindungen beruhenden Bewusstseins- und Gefühlsgemeinschaft sah ich auch in den Zeiten der Teilung eine Realität, keine biologische, überhistorische, sondern eine soziale und mentale Realität. Verbunden mit dem Anspruch auf politische Selbstbestimmung und demokratisch-soziale Ausgestaltung des Gemeinwesens ist die Nation für mich durchaus ein Wert, wenn auch kein absoluter Wert. Demgegenüber würde ich den traditionellen, souveränen Nationalstaat nicht als eigenen Wert, sondern als ein über weite historische Strecken und teilweise noch heute unverzichtbares, inzwischen teilweise aber auch überholtes politisches Instrument charakterisieren. Die Entfaltung der Nationen muss der Einigung Europas nicht im Wege stehen, sondern kann sie bereichern.

3. Von manchen deutschen Intellektuellen, so von Jürgen Habermas, wird dem alten, zu verdammenden Nationalpatriotismus ein so genannter Verfassungspatriotismus gegenübergestellt. Wie stehen Sie dazu?

Ich habe nicht nur nichts dagegen, sondern halte es für einen großen Fortschritt, dass die deutsche Nationalidentität heute mit den Menschenrechten und der Demokratie verknüpft ist. Das muss aber nicht bedeuten, die üblicherweise als Patriotismus bezeichnete Identifikation mit dem eigenen Land und Volk – nicht mit einer bestimmten Regierung, Außenpolitik oder Wirtschaftsordnung! – völlig in einem weltbürgerlichen Universalismus aufzulösen. Wenn der Begriff des »Verfassungspatriotismus« einen Sinn haben soll, dann muss er sich nicht zuletzt auch auf die spezifisch deutsche Freiheits- und Verfassungstradition beziehen, wie das übrigens bei Dolf Sternberger, der den Begriff ursprünglich geprägt hatte, noch der Fall war.

4. Die Feierlichkeiten zum Tag der Deutschen Einheit am 3. Oktober mutieren immer mehr zu einem »Wurst- und Fressmeilen«-Event. Ähnlich habe ich den 17. Juni vor 1989 in Erinnerung. Begehen wir unseren Nationalfeiertag angemessen?

Volks- und Freudenfeste, sogar in großer Ausgelassenheit begangen, stehen nicht unbedingt im Gegensatz zu einem, verglichen mit Deutschland, stabileren und positiveren Nationalgefühl, denken Sie an den 14. Juli in Frankreich oder den 17. Mai in Norwegen. Das Problem hierzulande scheint mir in der mangelnden gefühlsmäßigen und bewusstseinsmäßigen Verankerung des Feiertags zu liegen. Vermutlich liegt das auch am Datum selbst: Am 3. Oktober wurde das Resultat der diplomatischen Verhandlungen vollzogen. Gewiss ein wichtiger und unverzichtbarer Vorgang. Doch »das Volk«, der Urgrund der Demokratie, war längst nicht mehr auf der Straße. Es gab keine verfassunggebende, gesamtdeutsche Nationalversammlung und kein legitimierendes Plebiszit.

5. Welche Symbole braucht die Nation?

Wie schon angedeutet, halte ich den Nationalfeiertag für unglücklich terminiert. Unsere Nationalflagge und ihre Farben sind dagegen ein gutes und brauchbares Symbol, wie man ja auch jüngst bei der Fußballweltmeisterschaft hat sehen können. Die Farben Schwarz-Rot-Gold, sozusagen die deutsche Trikolore, haben eine uneingeschränkt positive Tradition: von der Urburschenschaft über die Revolution von 1848 bis zur ersten deutschen Demokratie, der von Weimar, wo sie in einem permanenten Abwehrkampf gegen das Schwarz-Weiß-Rot der Republikgegner standen. Nach 1945 knüpften alle relevanten politischen Kräfte Deutschlands, auch im Osten, daran an. Inwieweit andere nationale Symbole – etwa Bauwerke wie die Wartburg oder der Kölner Dom – als nationale Erinnerungsorte noch einmal populäre Bedeutung erhalten, wird man sehen. Ich denke, dass z. B. das neu gestaltete Reichstagsgebäude geeignet ist, die Verbindung des Alten und des Neuen in der Geschichte der deutschen Demokratie zu verkörpern.

6. Worauf sollten wir als Deutsche stolz sein?

Ich neige nicht dazu, mit einem Schild herumzulaufen: »Ich bin stolz, ein Deutscher zu sein!« Vor dem Nationalstolz geht es mir um das nationale Selbstverständnis einschließlich seiner selbstkritischen Elemente. Ein reflektiertes, kritisch-selbstkritisches Verhältnis auch zur eigenen Nation ist etwas anderes als die Obsession ständiger, unfruchtbarer Selbstanklagen. Ich will Ihrer Frage aber nicht ausweichen. Der kulturelle und wissenschaftliche Reichtum unseres Volkes, das nicht ohne Grund das »Volk der Dichter und Denker« genannt wurde, darf uns stolz machen. Die Deutschen haben – wie andere Völker auch – einen besonderen, unverwechselbaren Beitrag zur Menschheitsentwicklung geleistet. Auch als typisch deutsch geltende Tugenden wie Gründlichkeit und Ordnungsliebe dürfen wir durchaus schätzen, wenn sie nicht absolut gesetzt werden. Das ist übrigens der eigentliche Sinn des Ausdrucks »Sekundärtugenden«. Nur wer als Deutscher empfindet, kann in Selbstachtung auch Verantwortung für die von Deutschen (nicht den Deutschen) begangenen Verbrechen übernehmen.

7. Nationales Denken spielt bei den im Bundestag vertretenen Parteien keine Rolle mehr. Von wem könnte eine erneute Zuwendung zur Nation ausgehen?

Was wollen Sie, der letzte sozialdemokratische Kanzler, Gerhard Schröder, hat doch mit seiner Weigerung, den Irak-Krieg zu unterstützen, deutsche (und ebenso europäische) Interessen vertreten.

8. Ihr Vater hat die Zeit der Nazi-Diktatur in Norwegen und Schweden verbracht. Welche Beziehung haben Sie zu diesen Ländern?

Speziell zu Norwegen bestehen starke Bindungen, weil meine Mutter von dort stammt und wir dort Verwandte und Freunde haben. Trotzdem fühlte ich mich hinsichtlich der nationalen Zugehörigkeit immer hundertprozentig als Deutscher. Da ich zweifellos von der Abstammung her zu 50 % Norweger bin, die Sprache spreche und mit dem Land vertraut bin, bin ich gewissermaßen ein Hundertfünfzigprozentiger.

9. Was können wir von den Norwegern lernen?

Da wir viel über das Nationale gesprochen haben: der norwegische Patriotismus ist untrennbar mit der Demokratie verknüpft und beinhaltet darüber hinaus eine starke sozial­egalitäre Komponente. So etwas hat natürlich seine Wurzeln in der jeweiligen historischen Entwicklung, in diesem Fall weit zurückreichend. Wenn die einschneidenden politischen Ordnungswechsel – vom absolutistisch regierten Nebenreich Dänemarks über den mit Schweden in einer Union verbundenen, sich aber weitgehend selbst regierenden monarchischen Verfassungsstaat und weiter zur vollen Unabhängigkeit und parlamentarischen Demokratie unter einem Bürgerkönig sowie schließlich zum sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaat, nach wie vor monarchisch repräsentiert – in Norwegen fast ohne Blutvergießen erfolgten, kann man das nicht einfach übertragen, aber es zeugt von einer anderen, stärker auf Konsens und Gewaltfreiheit gerichteten Tradition politischer Kultur. Im Alltag fällt auf, dass die Menschen sich in der Mehrzahl disziplinierter verhalten, auch ohne Kontrollen und zudem auf der Grundlage von dezidiert nicht-autoritären Erziehungs- und Umgangsformen.

10. Ihr Vater war Regierender Bürgermeister von Berlin. Klaus Wowereit hat gerade die Wahlen zum Abgeordnetenhaus gewonnen, während die CDU auf niedrigem Niveau noch einmal einen prozentualen Rückgang verzeichnen musste. Insgesamt lässt die Bindewirkung der so genannten Volksparteien nach, abzulesen u. a. an der sinkenden Wahlbeteiligung. Mit den »Grauen«, der WASG und der NPD stehen ferner – teilweise extremistische –Kleinstparteien auf dem Sprung in die Bezirksverordnetenversammlungen. Was ist zu tun, um Weimarer Verhältnisse zu verhindern?

Es ist unabdingbar, dass die etablierten Parteien, insbesondere die Volksparteien, wieder Zugang zu den »normalen« Menschen, ihren Sorgen und Bedürfnissen finden. Es reicht nicht aus, die Leute über das angeblich Unvermeidliche belehren zu wollen. Die Parteien, namentlich meine eigene Partei, die SPD, müssen die soziale Frage wieder ernst nehmen. Die Landtagswahl in Mecklenburg-Vorpommern und die Art und Weise, wie die jüngste Debatte, die über die Existenz einer von der Gesellschaft abgehängten Unterschicht (und zusätzlich, nebenbei gesagt, einer noch deutlich größeren, sich bedroht fühlenden Arbeitnehmergruppe) geführt worden ist, haben gleichermaßen sichtbar gemacht, dass ganze soziale Segmente und Landstriche von der etablierten Politik gar nicht mehr erreicht werden. Zur Erneuerung der Demokratie würde auch gehören, statt sich der Diktatur der vermeintlichen Sachzwänge im Sinne des neoliberalen Einheitsdenkens zu fügen, in Sach‑ wie Wertfragen wieder Alternativen sichtbar zu machen. Das schließt für mich die Öffnung der politischen Debatte ein – in beide Richtungen.

11. Anders als in der früheren Nachkriegszeit beherrschen heute Berufspolitiker die parlamentarische Szene, denen häufig jedes Verständnis für das Leben und die Gedankenwelt von »Otto Normalverbraucher« abgeht und die oftmals eine politische Karriere beginnen, ohne zuvor einen ordentlichen Beruf ausgeübt zu haben. Wäre es nicht besser, unsere gewählten Vertreter würden im Leben »etwas werden«, bevor sie in der Politik »etwas werden«?

Gewiss ist es ein Vorteil, wenn Menschen mit Berufserfahrung ins Parlament gelangen. In der Regel wird dabei vor allem an Unternehmer und gut situierte Freiberufler gedacht. Da darf man dann doch fragen, ob in diesen Kreisen das Leben und die Gedankenwelt des nicht privilegierten Arbeitnehmers – und das ist die große Mehrheit – besser verstanden werden als von den Berufspolitikern. Neben dem Fehlen der beruflich­-sozialen Repräsentativität der Parlamente fällt vor allem auf, dass profilierte, eigenwillige Persönlichkeiten mit Substanz dort heutzutage kaum eine Chance haben, jedenfalls als so genannte Quereinsteiger, die nicht die »Ochsentour« durch die Parteigremien gemacht haben. Ein aktuelles Beispiel: Der bedeutende Jurist und Steuerfachmann Paul Kirchhof ist politisch gewiss nicht »mein Mann«; doch wie man mit ihm umgegangen ist, wird die Neigung anderer Wissenschaftler bzw. unabhängiger Denker nicht gerade vergrößern, sich einer vergleichbaren Aufgabe zu stellen. Dabei trifft die Kritik weniger Kirchhofs politische Gegner, die natürlich ihre Chance wahrnahmen, sondern hauptsächlich seine Parteifreunde und Auftraggeber, die ihn schnell wieder fallen ließen.

12. Sie treten bescheiden auf und leben offenbar bescheiden. Joachim Femau nannte sein Buch über Preußen: »Die Geschichte der armen Leute«. Wie preußisch sind Sie als Person?


Das können andere besser beurteilen. Es kommt ja auch darauf an, auf welche Züge des historischen Preußentums man abhebt. Jedenfalls versuche ich nach dem Motto zu leben und zu arbeiten: »Mehr sein als scheinen«. Das ist in einer Gesellschaft, wo Eigenlob und Wichtigtuerei inzwischen fast zu jeder Tätigkeit gehören, gar nicht so einfach.

13. Wie viel an preußischer Gesinnung täte unserem Gemeinwesen gut?


Vor allem das Preußen der Reformzeit nach 1807, das die besten Geister Deutschlands anzog und zum Kristallisationskern der antinapoleonischen Befreiungsbewegung wurde, kann uns nach wie vor eine Quelle der Inspiration sein. Generell würde ich mich der – gewiss vereinfachten – Unterscheidung anschließen, die der nonkonforme Intellektuelle Alfred Kantorowicz 1947 in Berlin der damals einhelligen Verdammung des gerade v on den Alliierten aufgelösten Preußen entgegenhielt. Demnach habe sich der Nationalsozialismus zwar die Untugenden des bedingungslosen Gehorchens, des Strammstehens und des widerspruchslosen Durchführens von Befehlen zu Nutze machen können; andere preußische Eigenschaften wie Nüchternheit des Denkens, Rechtlichkeit und Ordnungsliebe seien mit der Zuchtlosigkeit, dem Fanatismus und der Großmannssucht des »Dritten Reiches« jedoch unvereinbar gewesen. Das heutige demokratische Deutschland hingegen kann, so möchte ich ergänzen, solche Merkmale gut gebrauchen.

14. Gehen wir in Deutschland angemessen mit dem Leiden unseres eigenen Volkes im Zweiten Weltkrieg und in der frühen Nachkriegszeit um?

Ich möchte zunächst darauf hinweisen, dass die vom Nationalsozialismus verfolgten deutschen Juden, politischen bzw. weltanschaulichen Gegner sowie so genannten Gemeinschaftsfremden verschiedener Kategorien zu den deutschen Opfern gehören. Diese Feststellung ist wichtig, weil die Beschwörung eines vermeintlich geschlossen nazifizierten deutschen Volkskörpers seitens mancher Kreise des In‑ und Auslands die Funktion hat, die Äußerungs‑ und Handlungsfreiheit des neuen, demokratischen Deutschland zu beschränken. Was die gegenüber den deutschen NS-Verfolgten zweifellos größeren Gruppen der Bombengeschädigten, Kriegsgefangenen und Heimatvertriebenen betrifft, so war ihr Schicksal bis weit in die 60er Jahre sehr präsent. In dieser Periode waren stattdessen die NS-Massenverbrechen gegenüber den Juden, Polen, Russen und anderen Völkern zu wenig im Bewusstsein der Bevölkerung präsent. Vor allem die ganze Dimension des Judenmordes, nicht nur in quantitativer Hinsicht, hat die bundesdeutsche Öffentlichkeit erst mit dem Jerusalemer Eichmann-Prozess und dem Frankfurter Auschwitz-Prozess seit den frühen 60er Jahren wahrzunehmen begonnen. Während der nachholenden Auseinandersetzung der westdeutschen Gesellschaft mit den Schrecken der NS-Vergangenheit trat die Erinnerung an die deutschen Kriegs‑ und Kriegsfolgeopfer – das lässt sich nicht leugnen – zeitweise unangemessen weit zurück. Von einem gezielten Verschweigen oder gar einer Tabuisierung zu sprechen, hielte ich allerdings für übertrieben.

15. Damit sind wir beim Schicksal der ostdeutschen Heimatvertriebenen. Die Vertreibung wird von manchen als gerechte Strafe für die Verbrechen des Hitler-Regimes angesehen. Was halten Sie davon?

Das ist schon von der Logik her nicht stimmig, weil ja nur ein bestimmter, geographisch definierter Teil der Deutschen Objekt dieser Maßnahmen wurde – und zwar unabhängig vom persönlichen Verhalten in den Jahren davor oder dem Grad der Verantwortung, Kinder, Frauen und Greise eingeschlossen. Allgemein ist jede kollektive »Bestrafung« von Menschengruppen – gleich mit welcher Begründung – moralisch, politisch und völkerrechtlich vollkommen unakzeptabel. Das gilt auch für eine systematische Kriegführung gegen Zivilbevölkerung. Die rassenimperialistische Gewaltherrschaft der Nationalsozialisten in Polen mit fürchterlichen Verlusten unter den Unterworfenen gehört zur unmittelbaren Vorgeschichte der Vertreibung, die sich aber nicht automatisch daraus ergab. Auch die machtpolitischen Winkelzüge der Siegermächte sowie der aggressive und chauvinistische Charakter der verschleierten Militärdiktatur, die in den 30er Jahren Polen regierte und gegen die nationalen Minderheiten, darunter die deutsche, durchaus repressiv vorging, gehört zum historischen Zusammenhang. Mit der heute breiten Akzeptanz der Ostgrenze auch bei den Vertriebenen – ich selbst habe diese, seit ich eigenständig denken konnte, für unvermeidlich gehalten –, sollte es erlaubt sein, die Erinnerung an den früheren deutschen Osten zwischen Königsberg und Breslau mit seinen großen Beiträgen zur gemeinsamen Geschichte im kulturellen Gedächtnis nicht nur der Vertriebenen, sondern der Deutschen insgesamt zu bewahren, ohne deshalb in den Verdacht des Revisionismus zu geraten.

16. Wie stehen Sie zu dem von Erika Steinbach initiierten »Zentrum gegen Vertreibungen«?

Nachdem ich mich in der Ausstellung »Erzwungene Wege« im Berliner Kronprinzenpalais überzeugen konnte, dass es sich jedenfalls bei einem Teil der Kritik an den Zielen des Projekts um Unterstellungen handelt, hoffe ich umso mehr auf die Einbindung der Initiative von Frau Steinbach in die offizielle Gedenkkultur der Bundesrepublik und ihre Anbindung an ein größeres europäisches Netzwerk. Von der Sache her scheint mir das nahe liegend und außerdem dringend wünschenswert, auch wenn das zur Zeit in polnischen Regierungskreisen und anderswo gar nicht gewünscht wird. Den Bund der Vertriebenen, die diesbezüglich wohl wichtigste Opfer-Organisation in Europa, auszuschließen, hielte ich für abwegig. Beteiligung müsste aber auch Beschränkung bedeuten, wie das bei der Einbeziehung von Opfergruppen in vergleichbaren Fällen üblich ist. Bestimmend haben im Auftrag des demokratischen Gemeinwesens stets die professionellen Historiker und Museumsleute zu sein. – Wenn ich, bei allem Respekt, abschließend noch eine kritische Anmerkung machen darf: Ich habe den Eindruck, dass auch beim Bund der Vertriebenen manches reflexartig geschieht. Mir ist völlig unverständlich geblieben, dass man dort meinte, sich in die öffentliche Debatte um die kurzzeitige Waffen-SS-Angehörigkeit von Günter Grass mit der Forderung nach Rückgabe seines Literatur-Nobelpreises einmischen zu sollen. Mit Interventionen solcher Art wird die gewünschte überparteiliche Unterstützung für das Projekt des »Zentrums gegen Vertreibungen« nicht gerade gefördert.


Das am 16. September 2006 in Berlin geführte Interview war für die »Preußische Allgemeine Zeitung« bestimmt, die dann aber von der Veröffentlichung Abstand nahm.

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