von Josef Ludin

Es waren offenbar deutsche Denker des 18. und 19. Jahrhunderts, die Kultur und Zivilisation voneinander getrennt betrachten wollten. In der englischen und französischen Tradition war diese Unterscheidung ungewöhnlicher, und man bevorzugte den Begriff der Zivilisation, meinte damit aber alles, was zu kulturellen Phänomenen gehörte. Zuletzt war Freud einer, der sich in seiner berühmten Schrift, »Das Unbehagen in der Kultur«, von der Unterscheidung lossagen wollte und forderte, man solle die Begriffe synonym benutzen. Tatsache war, dass er von einem anthropologisch geprägten Kulturbegriff ausging, von der Frage nach der Menschwerdung des Menschen in der Abgrenzung vom Tierreich, und davon dass die menschliche Kultur eben Triebverzicht benötige.

 

Die Frage, die sich uns stellt, ist die, ob eine Wiederaufnahme der Diskussion nicht sinnvoll wäre. Der Begriff ›Kultur‹ ist heute ein Allerweltsbegriff, alles Mögliche kann darunter subsumiert werden. Vom Oktoberfest bis zu den späten Streichquartetten Beethovens, von Religionen bis zu Essgewohnheiten, wie auch das, was Historiker unter dem Begriff der ›Mentalitätsgeschichte‹ erforschten. Jede Art von noch so schlichter Folklore wird mit dem Etikett Kultur versehen und kann gar ein Festival beanspruchen. Der Begriff wurde in den letzten zwei Jahrzehnten über die zunehmende ›Multikulturalität‹ unserer Gesellschaften nochmals neu erfunden. Die Ausdrucksformen der Völker der Erde sollen respektiert werden, und es soll ihnen Raum zur Entfaltung gegeben werden. Die Moderne empfindet dies als eine hohe Idee von Toleranz.

Von Zivilisation spricht man hierzulande jedoch viel weniger. Obwohl es den ›kultivierten‹ und den ›zivilisierten‹ Menschen gibt, scheint man mit dem zweiten Begriff weniger anfangen zu können. Mit ›kultiviert‹ meint man ein bestimmtes Bildungsniveau und eine gewisse Haltung. ›Zivilisiert‹ ist hier entschieden aggressiver gemeint, denn es scheint noch deutlicher ein Abgrenzungsbegriff zum ›Unzivilisierten‹ zu sein. Freud hatte sicherlich nicht ganz unrecht, wenn er die Unterscheidung als schwierig und mühselig empfand. Doch sie lohnt vielleicht.

Die Schwierigkeit der Unterscheidung dieser Begriffe ist unter anderem mit ihrer Herkunft verbunden. Jede Zivilisation baut ursprünglich auf einer Kultur auf, wenn man Kultur mit Kant als die innere Moralität des Menschen fassen will. Kultur ist dann auch die ursprüngliche, in religiöse Vorstellungen eingebettete innere Moralität des Menschen, die sein Schuld-und Schamgefühl festlegt, sein Verhältnis zum anderen und zur Gemeinschaft, die die Riten und Rituale einer vom Individuum verinnerlichten Gemeinschaft ausmachen und die von seiner Beziehung zur Existenz des Menschen in seinem Kosmos und zum Göttlichen spricht. Kultur ist von Religion nicht wirklich zu trennen, auch wenn es für den Europäer gängig geworden ist, auf die Frage, ob er katholisch oder protestantisch sei, zu antworten, er sei aus der Kirche ausgetreten. In anderen Regionen der Welt – auch in Nordamerika – ist man sich der Tatsache bewusster, dass man aus seiner Herkunft nicht austreten kann, und man schaut etwas verwundert auf den Europäer, der sich so areligiös definiert. Für die Differenzierung, die wir vornehmen wollen, scheint es jedenfalls notwendig festzuhalten, dass es kein Menschsein ohne Kultur gibt. Der Mensch, so primitiv er auch sein mag, ist per se ein Kulturmensch. Er lebt nicht vom Brot allein, er ist in Kultur eingebettet.

Diese Aussage lässt sich so für die Zivilisation nicht machen. Denn diese betrifft nicht die innere Moralität des Einzelnen und seiner Gemeinschaft, sondern sie bezieht sich auf die daraus entstandene äußere Ordnung einer Gesellschaft. Zivilisationen sind dann Rechtssysteme, Institutionen, öffentliche Verkehrsformen, Bildungseinrichtungen, haben mit Gesundheitsversorgung ebenso viel zu tun wie mit innerer und äußerer Sicherheit, also auch mit Polizei und Armee. Zivilisationen sind Infrastruktur, Konservierung von Reichtümern, Technologie und Wissenschaft. Die Kunst, wiewohl in anthropologischer Hinsicht religiösen Ursprungs, wurde immer mehr Gestaltung und Ausdruck zivilisatorischer Ordnung. Sie ist von Zivilisiertheit nicht wegzudenken. Zivilisationen sind objektive Realitäten, zu denen nach den Genoziden des 20. Jahrhunderts auch die Idee der Menschenrechte hinzugekommen ist. Die Unterscheidung dieser zwei Begriffe erscheint mir vor allem deswegen so wichtig, weil erst mit ihr erfasst werden kann, welche Probleme wir heute mit Fragen von ›Integration‹ und Multikulturalität haben. Ein ›clash‹ der Zivilisationen ist mit dieser Differenzierung schwer vorstellbar – es sei denn, man meint damit die hegemonialen Machtansprüche und ihre kriegerischen Auseinandersetzungen, die wir aus der Geschichte kennen – und ein ›Dialog der Kulturen‹ ist nicht unbedingt anstrebenswert, da ohnehin nicht möglich.

Zur Erläuterung dieser These mag uns das Beispiel Japan dienen. Wir haben seit dem zweiten Weltkrieg einen regen Austausch mit Japan und zwar auf der Ebene zivilisatorischer Leistungen: Wissenschaft, Technologie, Kunst, Know how in allen Bereichen, Handel und Wirtschaft und Grundlagen demokratischer Prinzipien, die europäischen Ursprungs sind, doch Universalität beanspruchen. Es gibt auf dieser Ebene erstaunlich wenig Reibungspunkte. Japanische Streicher, die Schubert spielen, werden genauso bewundert wie europäische Philharmoniker in Japan. Wo Kunst universale Größe erlangt hat, ist sie nicht mehr regionales Eigentum. Austausch, Dialog und Kommunikation sind auf der Ebene dieser universalen Werte kein wirkliches Problem. Was die Kultur anbetrifft, d. h. die innere Moralität der einen oder der anderen, so lassen wir uns – Japaner und Europäer – in zivilisierter Manier gegenseitig in Ruhe. Was die Empfindungen und Empfindlichkeiten betrifft, wie die Wertvorstellungen, die inneren Repräsentanzen der psychischen Realität, da respektiert der Eine die innere Welt des Anderen. Hier gibt es vielleicht kulturwissenschaftlichen Austausch – was auch wieder Zivilisation wäre – aber keinen Dialog im Sinne von ›wir verstehen uns und suchen unsere Differenzen zu überbrücken‹ usw. Kultureller Dialog scheint eine Illusion zu sein, weil die inneren psychischen Ordnungen und Moralitäten des Einen und des Anderen nicht deckungsgleich zu machen sind. Schon der Austausch zwischen dem einen Individuum und dem anderen, auch zwischen Frau und Mann, steht zuweilen vor unüberbrückbaren Schwierigkeiten. Als Psychoanalytiker sind wir mit dem Verstehen des Anderen beschäftigt und kennen die Abgründe, die dies in sich birgt. Wir sind auch skeptisch gegenüber allem zu schnellen Verstehen, da es sich zumeist als Missverständnis herausstellt. Was wir können, ist, innerhalb eines inszenierten Dialogs miteinander zivilisiert umgehen, überbrücken werden wir die Differenzen nicht. Wir sind und bleiben verschieden. Die Verschiedenheit unserer kulturellen und psychischen Repräsentationen werden sicherlich in einer vom Internet beherrschten, globalisierten Weltzivilisation in weiten Bereichen nivelliert werden, aufheben werden wir sie jedoch nicht können.

Um uns verständlich machen zu können und dialogfähig zu sein, müssen wir uns auf ›Universalien‹ beschränken. Die Wissenschaft ist heute die wesentlichste Universalie, gefolgt von Technologie und jeglicher Art von Kunstproduktion, wenn Kunst eine universale Ausdrucksform musikalischer, bildlich-plastischer, szenischer, literarischer und auch kinematographischer Herkunft meint und nicht Folklore. Hinzu kommt, dass Wirtschaft, Handel, Verkehr, Ressourcen und Ökologie heute universal und global gedacht werden müssen, d. h. zivilisatorische Themen sind. Darüber kann es Austausch geben, darüber muss es Dialog und Kommunikation geben. Die Zivilisation bestimmt die Rechtsgrundlage dieser Kommunikation und schafft dafür die institutionellen Voraussetzungen.

Wenn wir mit den islamischen Kulturen heute Schwierigkeiten haben, so liegt es daran, dass diese, anstatt uns auf dem zivilisatorischen Feld zu begegnen, von ihrem kulturellen Selbstverständnis sprechen. Während wir keine Schwierigkeiten haben, einen türkischen Schriftsteller oder einen iranischen Filmschaffenden als uns zugehörig zu empfinden, so haben wir beträchtliche Bauchschmerzen, wenn wir einen Dialog über den Islam führen sollen. Nicht nur, weil wir ihn nicht kennen, sondern weil er uns auch fremd bleibt, weil er im Gegensatz zur Kunst und zur Wissenschaft keine universale Sprache spricht. Wir haben dann zwangsläufig mit einer inneren Abwehr zu kämpfen, auch wenn wir besten Willens sind. Nicht anders geht es unserem Gegenüber, der auch beim bestem Willen hier und da Befremden verspürt, wenn es darum geht, das genuin Christliche der europäischen Kultur verstehen zu wollen.

Die Geschichte der jüdischen Assimilation, zuerst zaghaft im 18. Jahrhundert, dann immer rasanter und radikaler bis zur Katastrophe, ist von allen Seiten beleuchtet und erforscht worden. Sie hat das eben nur aus der jüdischen Geschichte verstehbare Besondere, dass es sich um die Assimilation von Einheimischen handelte, von Menschen, die seit Jahrhunderten dazugehörten und nur ›kulturell‹ eine Differenz markierten, selber markieren wollten, von außen stigmatisiert und diskriminiert wurden. Ab Mitte des neunzehnten Jahrhunderts begann dann diese stark und dominierend gewordene Gruppe unter den Juden sich zum Teil bis zur Selbstverleugnung mit dem, was man die abendländische Kultur nannte, zu identifizieren.

Wissenschaft und Kunst waren die universalen Träger dieser Assimilation. Doch nirgendwo wurde diese ›Assimilation‹ so deutlich wie in der Rezeption von Musik. Sie ist deswegen so interessant für unseren Sachverhalt, weil sie mit den tiefsten affektiven Strukturen der psychischen Realität des Menschen, d. h. zwangsläufig sehr viel mit Kultur zu tun hat. Wenn der Dirigent Klemperer über die H-Moll Messe Bachs meinte, sie sei das Größte der Musikgeschichte, und über das genuin christliche Motiv dieser Musik nicht stolperte, so meint man, war das Verstehen des anderen so tief verinnerlicht, dass es zum Eigenen wurde. Aus dieser Perspektive war die Erfahrung der Shoah, jenseits des Mordens und der Verbrechen, noch mit einer besonderen Verbitterung verbunden, die in Schönbergs ›Verrücktheit‹ (Adorno: Schönberg ist verrückt geworden) einen tragischen Ausdruck fand. Er konvertierte zurück zum Judentum, nachdem er zum Protestantismus übergetreten war, verzweifelte über nur geringste Zeichen von Antisemitismus in der Musikszene und fühlte sich zuletzt von allen verfolgt und verraten. Von Gustav Mahler hieß es im Nachhinein, er sei ein dreifach Heimatloser gewesen: Als Böhme unter den Österreichern, als Österreicher unter den Deutschen und als Jude unter allen Nationen der Erde. So erging es Menschen, die die Besonderheit jüdischer Geschichte in sich trugen und das kulturelle Verstehen auf den Gipfel gebracht hatten, die zu den Europäischsten aller Europäer wurden. Sie vermochten ihre kulturelle Differenz nicht zu verlieren, obwohl aus dem gleichen Land, der gleichen Zivilisation und Sprache stammend wie ihre »Wirtsvölker« (Freud). Wenn der radikale jüdische Atheist in einem so freundlich kursierenden Witz sich über die Trinitätsidee empört und meint, es gebe nur einen Gott und an diesen glaubten wir nicht, so will dies zum Ausdruck bringen, dass es für einen Juden unmöglich sei, kein Jude mehr zu sein, wiewohl auch Freud sich stolz als gottlosen Juden titulierte und damit meinte, irgendwie ›ausgetreten‹ zu sein. Ich hätte ihm gerne die Frage gestellt, wie er sich dies vorgestellt hat, da es doch über die ganze, lange jüdische Tradition identisch war, einen Gott zu haben und Jude zu sein. Nun ist die jüdische Kultur – und Kultur meint immer auch Tradition, d.h. was genealogisch weitergegeben wird – eine so immens große und tief verwurzelte Kultur, dass sie sich bei noch so gründlicher Assimilation tatsächlich nicht überwinden lässt. Es ist denkbar, dass Individuen aus anderen Kulturen sich binnen zwei, drei Generationen soweit assimilieren, dass sie ihre Wurzeln verlieren.

Dennoch gibt der Verweis auf die jüdische Situation und Erfahrung seit dem 18. Jahrhudert eine gewisse Orientierung für unsere Diskussion. Juden strebten keinen ›kulturellen Dialog‹ an, dieser wurde ihnen ›vorgeschlagen‹ und oktroyiert. Sie wussten vielleicht auch immer schon, was uns Wittgenstein empfahl, nämlich dass man lieber schweigen sollte, wenn man über etwas nicht sprechen kann. Sie suchten und fanden den Dialog auf der zivilisatorischen Ebene, schon seit der Antike im Handel, dann zunehmend in den Wissenschaften und Künsten. Wenn sie in der Moderne in die Politik gingen, dann nicht, um ihr Recht auf das Tragen einer Kippa zu verteidigen, sondern um im zivilen Sinne politisch aktiv zu werden. Von dieser Idee zivilisatorischen Handelns muss die Idee aller Integration und Assimilation getragen werden. Mit seiner Kultur sollte man, selbst was die Kleiderordnung anbetrifft, zu Hause bleiben.

Josef Ludin wurde 1951 in Kabul geboren, seit 1960 in Deutschland. Studium der Philosophie, Pädagogik und Medizin. Nervenarzt u. Psychoanalytiker, Mitglied der Association Psychanalytique de France und der International Psychanalytical Association. Lehr- und Ausbildungsanalytiker mit Lehrtätigkeit in Paris/Berlin/Lausanne/Istanbul. Langjähriger Mitherausgeber der »Libres Cahiers pour la Psychanalyse«. Veröffentlichungen zum Verhältnis von Psychoanalyse und Kultur.

 

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