von Rainer Paris
»Die gefährlichsten Unwahrheiten sind Wahrheiten, mäßig entstellt.« Der Aphorismus Lichtenbergs verweist auf ein aktuelles Problem: Nicht die direkte, gar dreiste Lüge, sondern eine unmittelbar einleuchtende ›einfache‹ Wahrheit vermag oftmals Mobilisierungen anzustoßen, die elementare Dummheiten befördern und verstetigen.
»Kein Mensch ist illegal.« Richtig: Menschen können nicht illegal sein. Illegal können nur Handlungen sein, die Menschen ausführen: Mord, Diebstahl, Hausfriedensbruch. Auch Aufenthalte und Einreisen können illegal sein, wenn sie den Gesetzen des Landes, in dem sie festgestellt werden, widersprechen. Dadurch, dass diese Handlungen als illegal eingestuft werden, werden die Menschen, die sie begehen oder begangen haben, keineswegs illegal. Auch verurteilte Straftäter behalten – von wenigen Ausnahmen abgesehen – die bürgerlichen Ehrenrechte und bleiben Teil des Staatsvolks.
Es handelt sich also um eine wahre Aussage. Was ist daran »mäßig entstellt«? Nun, schon die Wortwahl ist pejorativ: »Mensch« wird assoziiert mit »Menschenwürde«, »illegal« ist eine formale Etikettierung. Grundwert gegen Bürokratie. Vor allem aber sind es, wie in vielen anderen Fällen auch, der spezifisch strategisch-politische Kontext und der konkrete Gebrauch, die die Wahrheit des Satzes in eine »gefährliche Unwahrheit« verwandeln und ihn für eine Politik verfügbar machen, die die Lasten und die Verantwortung für alle Folgeprobleme auf andere abwälzt. Was in der Sache hinter dieser hundertfach auf Aufmärschen und Versammlungen hochgehaltenen Parole steckt, enthüllen andere, parallel gezeigte Spruchbänder und Demonstrationstafeln. Hier eine Auswahl:
»Refugees Welcome«
»Sichere Fluchtkorridore für Migrant*innen«
»Bleiberecht für alle!«
»Stop Deportation«
»Grenzen töten«
Die Liste ließe sich beliebig verlängern. Es handelt sich um ein Konglomerat einer begrenzten Anzahl von Aussagen und Forderungen, die sich gegenseitig stützen und ergänzen und sich dabei zugleich gegen jeden Widerspruch immunisieren. Solche Humanität überstrahlt alles. Sie begründet einen Intensitätsgrad von Konflikten, in denen der andere als der schlechthin Fremde, eben als Feind, definiert wird, mit dem es letztlich keinerlei Ausgleich oder Kompromisse geben kann (so die bekannte Bestimmung des Politischen bei Carl Schmitt). Eine Umhängetasche, die in diesem politischen Spektrum gern getragen wird, dekretiert neben den üblichen Parolen »No Racism«, »No Sexism«, »No Homophobia« unmissverständlich: »No Discussion«.
Die ›Entstellung‹ der Wahrheit liegt also darin, dass sie den Unterschied zwischen Person und Handlungen verwischt und damit Forderungen legitimiert, deren Erfüllung eine Vielzahl von Problemen aufwerfen würde, zu deren Lösung die Demonstranten keinerlei Beitrag leisten. Die Wahrheit bleibt abstrakt, mit den konkreten Problemen sollen sich andere herumschlagen. Und wenn sie diese nicht lösen (und zwar am besten sofort), so belegt das nur ihre Unfähigkeit und Verantwortungslosigkeit. Auf diese Weise lässt sich mit Wahrheiten perfide spielen. Dennoch hat ein solcher Umgang mit wahren Sprüchen einen großen Vorteil und erfüllt eine wichtige Funktion der Selbststilisierung: Er ermöglicht es, Ahnungslosigkeit und Dummheit mit moralischem Hochgefühl zu verbinden und, was auch immer geschieht, sich stets auf der richtigen Seite zu wissen.