von Ulrich Schödlbauer

Vergessen wir nie: Jede Art von Notstand, gleichgültig, ob kriegs- oder seuchenbedingt, allgemein oder speziell, entmündigt den Souverän, soll heißen, verlagert die Souveränität ins Feld der Exekutive, die nach Ausnahmerecht, das heißt nach gehegter Willkür verfährt. Wer das – womöglich wütend – bestreitet, der betreibt ganz einfach Falschmünzerei. Der Gründe dafür gibt es viele – von der nicht besonders ausgeprägten Bereitschaft der Regierenden, auch verbal die volle Verantwortung für das zu übernehmen, was sie nun einmal veranlassen, über die propagandistische Beflissenheit einer maßnahmenhörigen Medienlandschaft bis zur hochgradigen, durch Ängstlichkeit gesteigerten Verwirrung der Regierten.

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Nichts leichter als die Beendigung eines Notstandes, nichts schwerer – wer einmal gefällte Entscheidungen wie eine bequemerweise ›Lockdown‹ genannte Ausgangs-, Konsum- und Produktionssperre zurückdreht, der wirft viele Fragen auf: Fragen nach Anlass und Verlauf des Geschehens, Fragen nach Berechtigung und Effizienz der ergriffenen Maßnahmen, Fragen, die den angerichteten Schaden neben den propagierten Nutzen stellen und, neben dem Schadenersatz, auch die menschlichen und ideellen, nicht wieder gutzumachenden Schäden ins Blickfeld rücken. Kommt die Aussicht auf eine explosionsartig sich bemerkbar machende Wirtschaftskrise hinzu, deren Scheitelpunkt sich noch hinter den dichten Wolken akademischen Rätselratens verbirgt, dann wächst die Zögerlichkeit, zur staatlichen Normalität zurückzukehren und den Bürgern die Rückkehr in ihre Alltagsnormalität zu ermöglichen, im umgekehrten Quadrat zur noch immer grassierenden, aber rapide abnehmenden Angst der Vielen, die den Ausnahmezustand rechtfertigte und, Hand aufs Herz, erst ermöglichte.

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Wie verlängert man zweckmäßig eine im Schwinden begriffene Angst? Nun, man bedient sich der Stärke des Gegners, soll heißen derjenigen Minderheit, die als erste dem Gefängnis der Angst entronnen ist und mit wachsender Beklemmung das Unmündigkeitsregime empfindet, unter das sie selbst, wie die nach wie vor einverstandene Mehrheit, sich gestellt hatte. Wenn Empfindung sich in Protest verwandelt, dann sind meist mehrere Faktoren im Spiel: der Wille, über das Geschehene unzensiert zu kommunizieren (das heißt, jene jetzt als Zensur empfundene Benommenheit abzuschütteln), der Wunsch, die ›Freiheit in der Bewegung‹ zurückzugewinnen, die Schiller einst als Schönheit bezeichnete und die das Grundgesetz in bewegenden Worten garantiert), schließlich die nicht zu unterschätzende Entschlossenheit des im parlamentarischen Eilverfahren zum Untertanen degradierten Bürgers, sich seine verfassungsmäßigen Rechte zurückzuholen, das heißt die Forderung nach sofortiger Beendigung des Ausnahmeregiments. Kein Wunder also, dass für eine gesellschaftliche Sekunde die Wortführerschaft an jene fällt, die dem Staat von ihrer Disposition und Denkungsart her ohnehin am meisten misstrauen: Während sie sich durch die entstandene Situation bestätigt fühlen, dient ihre Präsenz jenen, die nun einmal am Drücker sind, dazu, den Popanz einer von Verschwörungstheoretikern und notorischen Verfassungsfeinden geführten beziehungsweise ›missbrauchten‹ (und überdies unverantwortlich handelnden) Protestszene an die Wand zu malen – ein argumentativer deadlock, der sich dem verordneten lockdown würdig zur Seite stellt.

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Man könnte, wenn es sich lohnte, lang und breit darüber diskutieren, welche Aufgabe den Medien bei seiner Auflösung zufiele, schöbe sich hier nicht ein anderer Aspekt in den Vordergrund: das Spiel mit dem Demonstrationsrecht, das bekanntermaßen kein Recht unter anderen, sondern ein demokratisches Ur-Recht darstellt, ohne das die Volkssouveränität ganz schnell zur Makulatur gerät. Hier rächt sich, ganz nebenbei, die von Juristen und Parlamentariern über Jahre selbstgefällig betriebene Marginalisierung des Souveräns, der sich, so ein ehemaliger Parlamentspräsident vor wenigen Jahren in feierlicher Rede, mit der einmaligen Annahme der Verfassung ›erübrigt‹ habe. Dass, wenn der Souverän sich ›erübrigt‹, auch die parlamentarische Repräsentation sich ›erübrigt‹, dieser recht einfache Schluss wurde, nicht zuletzt durch die interne Disziplinierung der Regierungsparteien und ihrer affinen Bundesgenossen in den Ländern, zu einer Art Raison d’Etat der späten Merkel-Jahre umgegossen. Der sich erübrigt habende Souverän ist das Volk ohne Stimme, da es sie ohnehin alle vier Jahre ›abgibt‹, wie der Ausdruck schließlich lautet. Auch das Volk ohne Stimme bedarf der Spielwiese der Demonstrationen, beispielsweise um sich zu räuspern und sich die Nase zu putzen, um anschließend den weisen Beschlüssen der Regierenden umso begieriger Folge zu leisten. Da liegt es nahe, den Narrensaum öffentlichen Aufbegehrens gleich selbst als Disziplinierungsmittel zu verwenden: »Seht her, mit wem ihr euch einlasst!«

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Wird die Spielwiese ungebührlich beschnitten, gibt es Ärger. Wird der Ärger billigend in Kauf genommen, dann liegt die Frage nahe, welcher höhere Zweck damit erreicht werden soll. Auch dreißig Jahre nach den Ereignissen, welche die Welt veränderten, sind die Leitfiguren des demokratischen Widerstandes, der das DDR-Regime zu Fall brachte, Personen des öffentlichen Lebens: die spektakuläre Festnahme einer der ihren auf einem der symbolträchtigsten Plätze der Republik, sollte sie mehr sein als eine Episode aus dem donquichotesken Kampf der Behörden gegen die Tücken eines unsichtbaren Feindes, ist ein starkes Stück Einschüchterung, das auf den noch vorhandenen Bürgerstolz in der Bevölkerung zielt. Da wird dem kurzfristigen Interesse demokratische Substanz geopfert – ohne Not, nebenbei, denn diese Demonstrationen mögen alles Mögliche sein, aber gewiss keine Gefahr für die Demokratie, wie manche eilfertig raunen, und für die Gesundheit der Vielen offenbar auch nicht, falls sich das Schweigen der Statistiker an dieser Front korrekt so deuten lässt. Im Gegenteil: ein Souverän, der nicht sein Recht auf Freiheit aktiv zurückforderte, sobald er, dem eigenen Urteil vertrauend, den richtigen Zeitpunkt für gekommen hält, wäre bloß eine jämmerliche Karikatur seiner selbst.

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Gibt es das: ein spontanes Mandat des Souveräns? Die Frage steht im Raum, seit (und sooft) die 1989er Parole »Wir sind das Volk« auf öffentlichen Plätzen vernehmbar wird. Gleichgültig, was Verfassungsjuristen (und Pegida-Verächter) darüber denken: Nichts anderes bedeutet es, wenn Corona-Demonstranten symbolisch Exemplare des Grundgesetzes bei sich führen oder an Passanten verteilen. Hier zeigt sich der Verfassungspatriotismus, der in vergangenen Jahren zwar vollmundig beschworen, aber offenbar nicht vollständig begriffen worden ist, einmal von seiner populären Seite, und approbierte Volksaufklärer schrauben sich von Anlass zu Anlass steiler in die dünnen Regionen der Volksverachtung empor. Wie könnte ›das Volk‹ sich wohl versammeln, solange nicht Einzelne vorpreschen? Soll jeder warten, bis die Mehrheit bereits vor Ort ist, um Jedermannsrechte einzufordern? Einen solchen Volksbegriff kennt das Verfassungsrecht nicht. Volk ist Volk und Mehrheitsmeinung ist Mehrheitsmeinung. Jeder besitzt das Recht auf freie Meinungsäußerung in freier Versammlung: in eben dem Augenblick, in dem der Einzelne seine Verfassungsrechte in Gefahr sieht, ist er ›Volk‹ (wenngleich nicht ›das Volk‹).

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Aber die vom Virus ausgehende Gefahr: Verpflichtet sie nicht die Regierenden darauf, zum Wohle des Volkes just die Maßnahmen zu ergreifen, die von den Demonstranten vehement abgelehnt werden? Die Frage ist geeignet, eine andere zu verdecken: Da die Gefahr, die von diesem Virus ausgeht, nach bisheriger Unterrichtung der Öffentlichkeit keine schützenswerte geheime Dimension besitzt, ist auch die Auseinandersetzung um die ergriffenen und zu ergreifenden Maßnahmen eine öffentliche Sache und ihre öffentliche Austragung ein schützenswertes Gut. Wer maximale Zustimmung der Bevölkerung zum Regierungshandeln sucht (und dabei nicht einfach auf Angst setzt), der muss für eine maximal offene sachhaltige Diskussion plädieren – mit und unter Fachleuten, aber auch in der ›breiten‹ Bevölkerung, deren Lebenswirklichkeit drastische Eingriffe erlitten hat und weiter erleidet. Dass beides lässt sich sinnvoll nicht voneinander trennen lässt, dafür gibt es neben stichhaltigen Gründen auch anschauliche Beispiele.

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Wer die Wissenschaftsseite arXiv der New Yorker Cornell University aufruft, der findet dort unter der Adresse https://arxiv.org/pdf/2005.10237.pdf einen Artikel mit dem trocken anmutenden Titel A Critical Assessment of Some Recent Work on COVID-19 . Der Name des Verfassers lautet Jörg Stoye, die Publikation trägt das Datum des 21. Mai 2020. Aus dem Abstract erfährt der schnelle Leser, dass es sich um eine ›versuchsweise‹ Datenanalyse zu zwei der deutschen Öffentlichkeit wohlbekannten, mit den Namen der Virologen Christian Drosten von der Berliner Charité und Hendrick Streeck, Direktor des Instituts für Virologie und HIV-Forschung an der Medizinischen Fakultät der Universität Bonn, verknüpften COVID-19-Studien handelt: viral load in children sowie seroprevalence in Heinsberg/Gangelt. In beiden Fällen wird das öffentliche Interesse durch die Frage bestimmt, ob Kinder eine signifikant geringere COVID-19-Anfälligkeit besitzen als Erwachsene: eine nicht unerhebliche Information angesichts geschlossener Kitas und Schulen im Lande.

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Stoye ist Professor für Ökonomie mit dem Schwerpunkt Statistik. Sein Interesse an COVID-19 Studien ist daher nicht virologischer Natur, sondern bemisst sich an ihren politischen, also wohl auch: ökonomischen Implikationen. So jedenfalls lassen sich seine im ›Abstract‹ zusammengefassten Hauptpunkte ohne Verrenkung verstehen: (1) Beide Studien erhielten weltweite Aufmerksamkeit und hatten wohl politische Auswirkungen, (2) ihre Ergebnisse spiegeln die unterschiedlichen politischen Präferenzen der Hauptautoren wider, (3) seine, Stoyes, Lesart der Gangelt-Studie neutralisiert ›vorläufig‹ ihre Stoßrichtung und kehrt diejenige der Charité-Studie um. Ein unvoreingenommener Leser muss also des guten Glaubens sein, in seinem Beitrag führe der Verfasser den Nachweis, beide Studien leisteten gerade das nicht, was zu leisten sie behaupten, und eine methodenkritische Re-Lektüre der Charité-Studie ergebe darüber hinaus in ihr valide Anhaltspunkte dafür, dass Kinder sehr wohl eine geringere COVID-19-Anfälligkeit aufweisen könnten als Erwachsene, also für das Gegenteil dessen, was ihre Verfasser behaupten. Und so steht es dann auch in der Studie selbst. Stoye findet seine Ergebnisse brisant genug, um im Anschluss an sie die Frage zu stellen, ob sich hier nicht unbeabsichtigte Effekte (»inadvertent effects«) von »researcher degrees of freedom« zeigten – sprich, ob hier nicht vielleicht Forscher die Freiheit der Auslegung ihrer eigenen Forschungsergebnisse etwas überzogen hätten.

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Huch, ist das gefährlich. Wie gefährlich, das zeigte sich, als die BILD-Zeitung sich vier Tage später der Sache annahm und in gewohnt brachialer Weise titelte: Drosten-Studie über ansteckende Kinder grob falsch. Das war zwar grob formuliert, aber in der Sache, nimmt man die von Stoye und anderen von BILD hinzugezogenen Wissenschaftlern geäußerten Zweifel ernst, nicht falsch – schließlich darf das Interesse der Öffentlichkeit am wissenschaftsinternen Überbietungswettkampf als begrenzt, an der Öffnung von Schulen und Kindergärten hingegen als unmittelbar und schlagend gelten. Wer am Tag danach in die bundesdeutschen Medien blickte, der konnte sich die Augen reiben über den gewohnt wahrheitssicheren Qualitätsjournalismus, der sich zwar weigert, in wissenschaftliche Studien hineinzusehen, aber stets weiß, was Sache ist: von einer ›Kampagne‹ gegen den ›wohl prominentesten Virologen Deutschlands‹ war da die Rede, am bündigsten vielleicht zusammengefasst auf den streitbar in eigener Sache unterrichtenden Lehrerseiten NEWS4TEACHERS: »Streit um Schulöffnungen wird nun schmutzig – ›Bild‹-Kampagne gegen Drosten … Sollen Schulen und Kitas umgehend wieder komplett öffnen? War die Schließung der Bildungseinrichtungen überhaupt nötig? Der Streit darum wird immer erbitterter geführt – angetrieben von der ›Bild‹-Zeitung, die daraus eine Kampagne macht. Deren Verleumdungen fallen in einer genervten und gereizten Gesellschaft, die so schnell wie möglich in die Normalität zurückmöchte, wohl leider auf einen fruchtbaren Boden.« (26. Mai 2020)

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Man kann ja verstehen, dass die von BILD zitierten Kollegen des streitbaren Chefvirologen, Herr Stoye eingeschlossen, umgehend den Kopf einzogen und reihum beteuerten, mit der Sache nichts zu tun zu haben oder jedenfalls völlig falsch verstanden worden zu sein. Wissenschaftler-Mut vor den Fürstenthronen der vierten Gewalt ist nun einmal ein rares Gut, besonders da Herr Drosten bereits per Twitter Alarm geschlagen hatte, bevor der BILD-Artikel überhaupt erschienen war. Ein kleiner Faktencheck hätte die ehrenwerten Kollegen zwar umgehend galoppierender Zaghaftigkeit überführen können, aber im Getümmel der Schlacht ist die Frage ›Was ist dran?‹ wenig mehr als ein rhetorischer Fetzen, mit dem der Kämpfer seine argumentative Blöße bedeckt, auch wenn sie die Größe eines Scheunentores besitzt. Für die passive Öffentlichkeit ergibt sich daraus das Bild des ehrenwerten Herrn Drosten, dem ›wir alle‹ vertrauen und der jetzt unverschämterweise von bösen Buben, ihres Zeichens Corona-Leugner und Schlimmeres, mit Schmutz beworfen wird. Kinder, seid vorsichtig, man infiziert sich schneller mit schlechten Meinungen als mit einem ordentlichen Virus.

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Mag sein, dass es sich hier um ein weiteres Beispiel des zwischen Wissenschaft und Journalismus üblichen, vom Klimawissenschaftler Hans von Storch bereits seit Jahr und Tag beklagten Kommunikations-Desasters handelt, das darin gipfelt, dass eine glaubenswillige Öffentlichkeit von Wissenschaftlern politische Führung einfordert, während letztere verzweifelt die Freiheit des Zweifels und der Falsifikation für ihre Forschungen verteidigen. Doch vielleicht ist dieses Bild ein wenig geschönt angesichts des Stils, dessen sich führende – und von Politik und Medien prominent gesetzte – Wissenschaftler seit Ausbruch der Corona-Krise befleißigen. Man kann nicht alle Vorteile der privilegierten Position bis zum Äußersten nutzen, etwa indem man abweichende Forschermeinungen als ›Unsinn‹ und ›Quatsch‹ deklariert und flächendeckend vor Publikationen ›im Internet‹ warnt, wohl wissend, dass Vorab-Publikationen auf Internet-Plattformen wissenschaftlicher Standard sind, während man gleichzeitig mimosenhaft den Respekt für die eigene Person und ihre Standpunkte einfordert, den man selbst in solchen Äußerungen fahren lässt. Es sei denn, man vertraut der altbewährten Devise: Wer kann, der kann.

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Vergessen wir für einen Moment die Namen Drosten, Streeck, Wodarg, Bhakdi, Montagnier, Stoye und wie sie alle heißen mögen. Vergessen wir das mediengesteuerte Getümmel samt dem Anteil, den die Politik daran haben mag: Das neuerdings auch von Virologen, denen angesichts der menschlichen und ökonomischen Folgen des Lockdowns der Boden unter den Füßen zu heiß wird, beklagte Kommunikations-Desaster zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit besitzt eine bislang unerörterte Dimension. Mag sein, sie zeichnet angesichts der weltweit praktizierten Corona-Politik samt ihren vorderhand unabsehbaren Folgen rascher als erwartet für eine neuartige Katastrophenanfälligkeit der fortgeschrittenen Industriegesellschaften verantwortlich, die sich selbst als Wissensgesellschaften bezeichnen.

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Wissensgesellschaften sind Risikogesellschaften. Dasselbe kann zwar von allen bekannten Gesellschaftsformen behauptet werden, aber gemeint ist damit etwas Spezielles: Wissensgesellschaften liefern sich an Risikokalkulationen aus, die von den politischen Entscheidungsträgern ebenso wenig überschaut werden können wie von der unqualifizierten Masse der Bürger, in deren Namen und namens deren Interesse die Entscheidungen ›zum allgemeinen Wohl‹ getroffen werden. Die Anti-Atomkraft-Bewegung bietet das frühe Beispiel eines – bislang in Deutschland – erfolgreichen Aufbegehrens von Bürgern, die darauf bestanden, das mit dieser Form der Energieerzeugung verbundene ›Restrisiko‹ – und damit die gesamte Technologie – auf Null zu setzen. Ein ähnliches, wissenschaftsgetriebenes Begehren in Sachen CO2-Vermeidung scheitert bislang daran, dass die von involvierten Wissenschaftlern und Umweltlobbyisten als ›effektiv‹ bezeichneten Maßnahmen beim gegenwärtigen Stand der Technologie das abrupte Ende des Industriezeitalters (mit katastrophalen Folgen für die Menschheit) einleiten würden und daher realistischerweise für die Mehrzahl der Menschen nicht in Betracht kommen.

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Das Ungewohnte der Corona-Krise liegt darin, dass eine hochspezialisierte Wissenschaft, in diesem Fall die Virologie, Gefährdungsdaten auswirft, die es der Politik geraten erscheinen lassen, gesellschaftliche Teilsysteme (Bildung, Konsum, Kultur, Alltagsleben, bestimmte Produktionssparten) wie in einer riesigen virtuellen ›Sandbox‹ auf Zeit herunterzufahren, um das Risiko in dem von den zu Rate gezogenen Wissenschaftlern errechneten vertretbaren Rahmen zu halten. Vertreten muss allerdings die Politik die von ihr getroffenen Maßnahmen, ohne auf den Faktor ›Vertretbarkeit‹ einen (gegenüber dem Fach- und Wahlvolk) vertretbaren Einfluss nehmen zu können. An dieser Stelle hängt sich, um die von den Entscheidern so geliebte Computer-Rede fortzuführen, das System auf: Um seriös zu agieren, muss die Politik sich an den wissenschaftlichen Vorgaben orientieren, wie die ›Besonnenen‹ aller Parteien zu sagen pflegen. Doch das erste Opfer dieser Politik ist die Seriosität der Wissenschaft, zumindest der Wissenschaftler, die von der Politik als Galionsfiguren verbraucht werden und in dieser Rolle die eigene wie konkurrierende Forschung mit forschungsfernen oder forschungsfremden Zwängen aufladen.

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Ein ›Lockdown‹ in der Bedeutung, die dieses Wort in den letzten Wochen gewonnen hat, ist keine einfache Sache. Da er sich praktisch über die Gesamtheit der gesellschaftlichen Aktivitäten erstreckt, ruft er, abgesehen von den unmittelbaren gesellschaftlichen Folgen, Risikoanalytiker wie Glücksritter aller wissenschaftlichen Disziplinen auf, die sich mit den verschiedenen Dimensionen von Gesellschaft befassen. Wer glaubt, daraus ließe sich ein Gesamtmodell entwickeln, das Politikern irgendwann eine rationale Handhabe angesichts aktueller und kommender Problemlagen bietet, der hat nicht verstanden, dass der Disziplinenvielfalt der Wissenschaft keine Systematik zugrunde liegt, die es erlaubte, ihre Ergebnisse in einem Modell, quasi einer Gesamtlösung zusammenzuführen. Im Klartext: Es steht nicht zu erwarten, dass aus der Kakophonie der aufgerufenen – und aufgescheuchten – Disziplinen sowie der in ihnen praktizierten Ansätze sich irgendwann die eine Stimme der wägenden Vernunft erhebt, der alle zwanglos und im guten Glauben, den besten aller denkbaren Wege zu gehen, zu folgen vermögen.

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Der Kakophonie der Risikoanalysen entspricht die Kakophonie der ›gesellschaftlichen Kräfte‹, die ihre Interessen angesichts des unvermutet aufgerissenen Veränderungshorizontes mit einer Vehemenz nach vorn tragen, die sich aus dem Umfang der erwarteten Chancen und Gefährdungen errechnet, aber in wesentlicher Hinsicht eine irrationale Größe jenseits aller Berechnungen darstellt. Das heißt, die Gesellschaft nähert sich just zu dem Zeitpunkt einem chaotischen System, zu dem die ergriffenen Maßnahmen einer Notstandsrechte in Anspruch nehmenden Regierungsgewalt ihre Effektivität unter Beweis stellen müssen. In der angebrochenen Auseinandersetzung um die Wiederöffnung von Schulen und Kitas wetterleuchtet, so gesehen, mehr als die Glaubwürdigkeitskrise einer übermächtig-dienstbaren Wissenschaft, die den Mächtigen mehr verspricht, als sie zu halten, und der Bevölkerung mehr androht, als sie zu beweisen imstande ist. Es droht eine Zeit, in der das – mangels anderer Ordnungsmuster – wiederhergestellte Freund-Feind-Verhältnis der wirksamen politischen Kräfte gerade die Erträge der Wissenschaft verächtlich macht und in wesentlichen Teilen neutralisiert, deren das Land, soll heißen, die Bürgergesellschaft zu ihrem Überleben, jedenfalls aber für ein gutes Leben bedarf.

 

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