von Gerd Held

Die Beherrschung der Republik durch willkürlich herbeigeführte ›Notstände‹ scheint auf den ersten Blick übermächtig. Aber es gibt andere Krisen, die eine fundamentale Schwäche dieser Herrschaft offenbaren. (Wie Deutschland ein anderes Land wurde, Teil III)

In der bisherigen Darstellung wurde gezeigt, wie Deutschland mehr und mehr in den Bann eines hochdramatischen Krisenszenarios geraten ist. Und wie dieses Szenario immer mehr auf eine negative, zerstörerische Lösung hinauslief: auf die Opferung fundamentaler Aufbauleistungen der vergangenen Jahrzehnte und Jahrhunderte. Dieser Wandel scheint übermächtig und ausweglos zu sein – nicht zuletzt deswegen, weil der größere Teil der Gesellschaft in diesem Drama nichts zu sagen, sondern nur die Opfer zu ertragen hat. Während ein anderer, durchaus beträchtlicher Sektor der Gesellschaft in diesem extremen Krisenszenario an Umfang, Macht und Einkommen gewinnt. Diese Konstellation kann zu einem Gefühl der Ohnmacht führen. Sie kann auch dazu verführen, alle Hoffnung auf eine Art Gesellschafts-Duell mit den Krisengewinnern zu setzen. Doch damit hat man noch keinen konstruktiven und tragfähigen Ausweg für das Land gewonnen. Man verkämpft sich in die Widerlegung des herrschenden Krisentheaters – und bleibt ihm doch noch verhaftet.

Um einen konstruktiven Ausweg finden zu können, muss die Entwicklung Deutschlands noch etwas anders dargestellt werden. Die Darstellung in dieser Artikelfolge war noch unvollständig – sie muss um etwas Elementares ergänzt werden, denn es gibt neben den lauthals ausgerufenen Krisendramen noch ganz andere Krisen – stillere, alltäglichere, zähere Krisen. Sie offenbaren eine fundamentale Schwäche. Aber es ist keine Schwäche des ganzen Landes, sondern eine Schwäche der Herrschaft durch Notstands-Mobilisierung. Diese Herrschaft erweist sich als unfähig, die elementaren Aufgaben einer modernen Zivilisation zu bewältigen. Zugleich werden in diesen Krisen die Kräfte sichtbar, die sich von den künstlich erzeugten Notständen nicht beeindrucken lassen, sondern sich mit den wirklichen Problemen dieses Landes befassen müssen und auch können. Mittelfristig werden sie die Träger eines deutschen Wiederaufbaus sein.

›Wo sind sie geblieben?‹

Dieser Alarmruf geht seit einiger Zeit in Deutschland um. Gemeint sind die Arbeitskräfte. Sie fehlen an allen Ecken und Enden. So erschien der Spiegel vom 16.7.2022 mit einem Titelblatt, auf dem in großen Lettern stand: »Wo sind die nur alle hin?« Und die Unterzeile lautete: »Wie der Mangel an Arbeitskräften das Land lahmlegt«. Dabei geht es vor allem um elementare Berufe, die keine höhere, akademische Bildung erfordern, sondern Fachkenntnisse und Erfahrungen aus der praktischen Berufsausübung – wie sie für Facharbeiter und angelernte Arbeiter typisch sind: Bauarbeiter, Feldarbeiter, Maschineneinrichter und Maschinenführer, Monteure, Schlosser, Klempner, LKW-Fahrer, Lagerarbeiter, Fachkräfte und Helfer im Einzelhandel, Brief- und Paketzusteller, Pflegekräfte, Fleischer, Bäcker, Klempner, Köche und Kellner, Busfahrer, Lokführer und Begleitpersonal bei der Bahn, Bühnenarbeiter, Texter, Zeichner und so weiter. Es geht um sogenannte ›einfache‹ Tätigkeiten – aber sie sind nicht einfach. Denn ihr gemeinsamer Nenner besteht darin, dass sie sich mit den Widrigkeiten der physischen Welt auseinandersetzen müssen, mit ihrer Muskelkraft, aber auch mit ihrer Aufmerksamkeit und Konzentration. Sie üben oft sehr kleinen Teilfunktionen aus, und tragen dabei doch eine hohe Verantwortung. Da sie ›hart an der Realität‹ gebaut sind, müssen sie oft unter schwierigen oder wechselhaften Bedingungen ausgeübt werden: Sie sind häufig Wind und Wetter ausgesetzt, müssen Lärm, Schmutz, Staub, Rauch, Gestank aushalten. Sie müssen mit Menschen eng zusammenarbeiten oder sie als Kunden bedienen, und können sie sich nur in den seltensten Fällen aussuchen. Sie müssen früh aufstehen oder in Schichten rund um die Uhr arbeiten, und ihre Leistung immer auf einem bestimmten Niveau durchhalten. Und das über lange Jahre.

Die neue Arbeitskrise

Hier ist nun eine Krise da: Diese Krise hat die tonangebende ›postindustrielle‹ Gesellschafts-Vorstellung gewissermaßen auf dem falschen Fuß erwischt. Man hatte erwartet, dass sich die schweren Tätigkeiten und schwierigen Arbeitsplätze allmählich erledigen würden – entweder durch den technischen Fortschritt oder durch Auslagerungen aus den sogenannten ›hochentwickelten‹ in die ›weniger entwickelten‹ Länder. Für die Fälle, wo diese Rechnung nicht aufging, hatte man die Erwartung, dass es im Lande eine Unterschicht gäbe, die so dumm und brav wäre, dass sie die schlechten Arbeiten einfach weiter erledigen würde. Der andere Teil der Gesellschaft könnte als ›Modernisierungsgewinner‹ an ihnen vorbeiziehen und in ganz neuen, selbstbestimmten Arbeitsverhältnissen unterkommen, in denen man die Arbeit weitgehend für sich selbst definieren und als ›wertvolle Leistung‹ interpretieren könnte.

Doch nun gilt das alles offenbar nicht mehr. Jedenfalls nicht in dem Maße, dass es die Verhältnisse eines ganzen Landes bestimmen kann. Das gilt für das allmähliche Verschwinden der ›einfachen‹ Arbeitsplätze: Sie sind nicht verschwunden. Auch das Auslagern in andere Länder klappt nicht mehr zuverlässig, denn die internationale Arbeitsteilung läuft nicht mehr so, dass die einen sich mit den Widrigkeiten der physischen Welt auseinandersetzen müssen, und die anderen sich den freieren Tätigkeiten widmen können. Und nun fehlen ›auf einmal‹ auch in Deutschland massenweise Arbeitskräfte – und zwar gerade in den harten Realberufen, die man schon als erledigt abgehakt hatte. Diese neue Arbeitskrise liegt nicht an einer plötzlich ausgebrochenen allgemeinen Arbeitsscheu. Aber viele Menschen, die ihre Arbeit schätzen und über Jahre und Jahrzehnte das Land am Laufen gehalten haben, ziehen sich jetzt – ganz oder teilweise – zurück.

Ein stiller, aber tiefgreifender Rückzug

Es handelt sich nicht um einen bewussten, großen ›Streik‹, sondern um einen weitgehend stillen, aber tiefgreifenden Rückzug. Man verlässt Arbeitsplätze, geht vorzeitig in Rente, geht auf Teilzeit, nimmt häufiger einen Krankenschein oder verrichtet seine Arbeit ganz einfach mit weniger Einsatz. Und dieser Rückzug aus der Arbeit ist im Ergebnis so bedeutend, dass er »das Land lahmlegt«, wie der Spiegel im Juli 2022 schrieb, und diese Situation dauert an. Es handelt sich nicht um ein vorübergehendes, konjunkturelles Problem, das durch ›mehr Geld‹ (Lohnerhöhungen) zu beheben wäre. Es handelt sich um ein tieferes Problem. In Deutschland sind Verhältnisse eingetreten, in denen es nicht mehr gelingt, Menschen zu motivieren, dauerhaft elementare Arbeiten zu verrichten. Dies Land hat etwas ganz Grundlegendes verloren, was es über lange Jahrzehnte besaß: Ihm ist der Wert der Arbeit abhandengekommen. Lange Zeit konnte dieser Wert, quer durch Branchen und soziale Schichten, einfach vorausgesetzt werden. Jetzt ist an dieser Stelle eine elementare Krise ausgebrochen.

›Die demotivierte Gesellschaft‹

Die Stimmungslage in Deutschland, die das Allensbacher Institut für Demoskopie monatlich in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung veröffentlicht, trägt für Januar 2024 die Überschrift: »Die demotivierte Gesellschaft« (FAZ 25.1.2024). Es geht um die Beobachtung, dass »die Einsatzbereitschaft im Beruf zurückgeht«. Auf die Frage »Ist in Deutschland der, der sich anstrengt und viel arbeitet, allmählich der Dumme?« antworten von den Befragten mit niedrigem sozioökonomischen Status 67 Prozent mit ›Ja‹, mit mittlerem Status sind es 55 Prozent, während es mit hohem Status nur 38 Prozent sind. Eine Mehrheit der Befragten sagt, dass die Bereitschaft der Menschen, im Beruf großen Einsatz zu zeigen, in den letzten Jahren eher ab- als zugenommen habe.

Nun bringen die Meinungsforscher das mit der Höhe der staatlichen Unterstützung bei Nicht-Arbeit (›Bürgergeld‹ etc.) in Verbindung, die kaum niedriger liegt als die Arbeits-Löhne in den unteren Lohngruppen. Man vermutet also eine Demotivierung ›von unten‹ und das ist seit längerer Zeit die vorherrschende Sichtweise. Sie hat durchaus ihre Berechtigung, aber sie verdeckt eine andere Demotivierung, die noch folgenreicher ist. Es gibt eine andere Form fehlender Leistungsbereitschaft, die gleichfalls durch einen riesigen und aufwendigen Apparat gefördert wird: die Schein-Arbeit durch eine aufgeblähte Akademisierung. Sie nimmt mittlerweile mehr als die Hälfte eines Bildungsjahrgangs in Anspruch. Hier geht es nicht um eine zu Untätigkeit verführte Unterschicht, sondern um die Verführung einer wuchernden ›gehobenen‹ Mittelschicht durch Schein-Beschäftigungen. Um eine ›Demotivation von oben‹, die alle anderen Arbeitsverhältnisse entwertet. Natürlich gibt es sehr anspruchsvolle wissenschaftliche Qualifikationen und akademische Berufe, ohne die ein modernes Land nicht denkbar ist – genauso, wie es in einem modernen Land unverzichtbare Sozial-Leistungen gibt. Aber all das muss in einem vernünftigen Verhältnis zur Produktivität eines Landes stehen.

Die Inflation höherer Bildungsgänge

In Deutschland ist viel von den Grenzen des Wachstums die Rede. Doch von einem völlig unverhältnismäßigen Wachstum ist erstaunlich wenig die Rede: vom Wachstum höherer Bildungsgänge. Die folgenden Zahlen zeigen, dass der Anteil der Studienanfänger pro Alters-Jahrgang von 1950 5,0 Prozent auf 2020 56,6 Prozent gestiegen ist.

Die Entwicklung der Studienanfänger-Quote in Deutschland (1950 bis 2020)

Jahr

Studienanfänger

pro Alters-Jahrgang

1950

5,0 Prozent

1960

6,0 Prozent

1970

12,0 Prozent

1980

19,5 Prozent

1990

30,4 Prozent

2000

33,5 Prozent

2010

46,0 Prozent

2020

56,6 Prozent

 

Die Bildungs-Ausgaben der öffentlichen Hand (Band, Länder, Gemeinden) sind von 75,9 Milliarden Euro im Jahr 1995 auf 176,3 Milliarden Euro in 2023 gestiegen. Man kann davon ausgehen, dass dieses Wachstum ganz wesentlich auf das zunehmende Gewicht höherer Bildungsgänge zurückzuführen ist, und dass dieses Wachstum sich immer weiter von den Erfordernissen der Arbeitswelt gelöst hat. Ein Beleg dafür ist die Zahl der Studiengänge. Im Jahr 2008 gab es in Deutschland 13 000 verschiedene Studiengänge – was schon eine erstaunliche Zahl war. Aber im Jahr 2023 ist diese Zahl auf 21 000 Studiengänge angewachsen! Es liegt auf der Hand, dass hier ein Systemproblem liegt: Man kann im akademischen Bereich ständig zusätzliche Themen finden, die irgendeine feinere Unterscheidung oder neue Akzentuierung versprechen, doch bedeutet ›Thema‹ nicht, dass daraus irgendwelche Produktivitätsgewinne folgen, die die Kosten solcher ›höheren Bildung‹ und ›höheren Arbeitsplätze‹ tragen könnten. Wenn Jahr für Jahr mehr als die Hälfte eines Jahrgangs auf diese Bahn geschickt wird, gerät das Gesamtgebäude einer Gesellschaft in eine unhaltbare Schieflage.

Wenn ›Bildung‹ an die Stelle von ›Leistung‹ tritt

Man kann diese Schieflage präzisieren: Es bildet sich in der Mitte der Gesellschaft ein beträchtlicher, vielfältig zusammengesetzter Sektor heraus, der über sogenanntes ›höheres Wissen‹ verfügt und entsprechend höhere Einkommen beansprucht. Aber die Arbeitswelt dieses Sektors unterliegt nicht den harten Zwängen und Maßstäben, denen die Arbeitswelt der ›Realberufe‹ unterliegt, der jetzt die Arbeitskräfte ausgehen. Die Arbeitswelt der so stark angeschwollenen höheren Mittelklasse, ist ganz überwiegend eine weiche Welt. Naturnähe bedeutet hier nicht Knappheit, Gefahr, Mühe, Anpassungszwang. Hier muss einer gegebenen Welt nichts abgerungen werden, sondern hier herrscht eine wunderbare Leichtigkeit, Erneuerbarkeit, Gratis-Produktivität. Man muss sich die Hände nicht schmutzig machen, sondern braucht eine großzügige Natur nur ›selber machen‹ lassen. Alles das, was anstrengend, monoton, widrig ist, wird jener bemitleidenswerten, bildungsfernen, aus der Zeit gefallenen ›alten Mitte‹ überlassen, die gar nicht mehr als Mitte der Gesellschaft anerkannt ist. So sind höhere Bildungsabschlüsse zu einer Art Adelstitel geworden, der ein Anrecht auf eine leichte Welt und auf ›Renten‹ mit sich bringt – ›Renten‹ verstanden als Positions-Einkünfte, die in keiner Relation zu einer erbrachten Leistung stehen. Je mehr dieser ›gehobene‹ Sektor wächst und um sich greift, desto stärker sinken alle anderen Bildungsgänge und Arbeitswelten herab zu ›Verliererwelten‹, die man kaum noch eines Blickes würdigt. Der dortige Alltag ist zu ›langweilig‹, um wirklich einmal genau angeschaut zu werden. Und diese herablassende Behandlung gilt auch ganz brutal materiell: Da gibt es eine ständige wachsende gehobene Mittelklasse mit Haushalts-Einkommen von 5000, 10000 oder 15000 Euro pro Monat, die dann Güter und Dienste von anderen Menschen erwarten, die nur 1000, 1500 oder 2000 Euro erhalten. Und dabei viel härteren und engeren Arbeitsbedingungen unterworfen sind.

Der Gesellschaftsvertrag ist zerbrochen

Damit wird das, was man den modernen Gesellschaftsvertrag nennen kann, zerbrochen. Dieser Vertrag, der nicht auf Positionen und Rängen beruhte, sondern auf messbaren Leistungen, gilt nicht mehr. ›Leistung‹ gilt nun als falscher, primitiver Maßstab. An die Stelle der Arbeit tritt ein neuer Maßstab. Die Legitimität der gesellschaftlichen Verhältnisse, wird daran gemessen, ob sie ›sozialen Aufstieg‹ ermöglichen. Damit sind Arbeit und Arbeitsleistung aus dem normativen Zentrum der Gesellschaft entfernt. Normativer Maßstab sind jetzt die höheren Bildungsgänge und Berufe. Die Realberufe sind nun zu ›niederen Berufen‹ degradiert, die von Menschen ausgeübt werden, die ›es nicht geschafft haben‹. Sie werden offen oder insgeheim als Verlierer-Berufe angesehen. Vor diesem Hintergrund wird verständlich, warum in Deutschland nun der große Rückzug aus der Arbeit begonnen hat. Man hört besorgte Fragen, als sei hier irgendeine rätselhafte psychische Krankheit ausgebrochen: ›Wo sind sie nur geblieben?‹ ›Wie können sie das nur tun?‹

Dabei ist dieser Rückzug völlig logisch. Er ist die Antwort auf den Bruch des Gesellschaftsvertrags. Auf die Gleichgültigkeit und Arroganz, mit der die Zufriedenheit und Anerkennung zerstört wurden, die man zuvor als Facharbeiter oder angelernter Arbeiter finden konnte. Jetzt kommt die Quittung. Der Rückzug aus der Arbeit ist keine geplante Aktion und kein symbolischer Aktivismus, sondern eine tieferliegende, gesellschaftliche Reaktion: ein nachhaltig und auf breiter Front sinkender Einsatzwille. Die Bereitschaft, einer besserwissenden, besserverdienenden ›Zivilgesellschaft‹ die Lasten dieser Welt abzunehmen, ist drastisch gesunken. Diese Bereitschaft ist durch etwas mehr Geld nicht wiederherzustellen.

Zu Teil Eins

Zu Teil Zwei

 

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