von Ulrich Siebgeber
Scilla Elworthy/Gabrielle Rifkind: Making Terrorism History, London/Sydney/Auckland/Johannisburg (Rider) 2006, 96 S.
Ein Buch, das nicht die Freiheit des Lesens gewährt, ist keines. In dieser Perspektive enthält jedes Handbuch der Deeskalation eine Anleitung, wie sich Konflikte anschärfen, Gewaltspiralen in Gang halten und ausweglose Situationen herbeiführen lassen. Wer auf die Fülle wohlmeinender Publikationen blickt und dabei den Fokus öffentlicher Aufmerksamkeit nicht aus dem Blick entlässt, kann leicht zu der Auffassung gelangen, dass ihre geheime Mission eher auf diesem als auf dem Feld angestrebter Effekte liegt. Wenn Deeskalation bedeutet, dem 'normalen Leben' in Gestalt von Selbstbestimmung und physischer, rechtlicher und materieller Sicherheit eine Chance zu geben, dann reduzieren sich die einschlägigen Anleitungen rasch auf den Status von Binsenweisheiten, denen aus der Realität Peachums unschlagbare Einsicht entgegengrölt:Doch die Verhältnisse, sie sind nicht so.
Wie die Verhältnisse sind - im Nahen Osten und dort an den Brennpunkten Irak und Palästina -, darüber geben Scilla Elworthy, Gründerin, und Gabrielle Rifkind, Mitarbeiterin der Oxford Research Group, in klaren und distinkten Worten Auskunft, ohne sich an Einzelheiten und Geschichten zu verlieren. Sie können das, weil sie sich nicht mit Schuldzuweisungen und dem Lamento über vergangene Entscheidungen aufhalten, sondern das, was getan werden kann, in den Vordergrund rücken. Ihr Hauptaugenmerk liegt auf der Psychologie der sogenannten Selbstmordattentäter: sie widersprechen vehement der Elendshypothese, nach der materielle Not und Analphabetismus die Haupttriebfeder dieser Personengruppe bilden. Das ist nicht so überraschend angesichts der Täter des 11. September und anderer einschlägig bekannt gewordener Viten, doch auch im palästinensischen Spektrum scheinen die Verhältnisse nicht sonderlich anders zu liegen.
Für die Autorinnen ist der Zusammenhang zwischen Trauma und Fundamentalismus einerseits, zwischen Erniedrigung und Rache andererseits die zentrale Figur. Auch wenn die Verwendung des Trauma-Begriffs in Bezug auf kollektive Gemütsverfassungen umstritten bleiben muss, so wird doch klar, was sie meinen: Menschen, die unter dem anhaltenden Diktat von Gewalt, Willkür und krassem Unrecht leben, tendieren zu Welt- und Lebensauffassungen, die durch ihre Rigidität und das Verbot jeglichen Zweifels die fundamentale Unsicherheit der Verhältnisse kompensieren. Gerade gut ausgebildete, intelligente und 'normale' junge Menschen erleben die Demütigung ihrer Gruppe oder ihres Landes durch Okkupation und anhaltende Schikanen intensiv, so dass sie im Extremfall in die Abrichtung zum terroristischen Selbstmörder einwilligen - vorausgesetzt, die Hoffnung, das Blatt auf andere Weise zu wenden, ist unter ein verkraftbares Minimum gesunken.
Wendet man diese Darlegungen auf den Irak an, so bedeutet das: es existiert eine kausale Verbindung zwischen dem vergangenen Gewaltregime im Lande und der Gewalt, die sich gegen die heutigen Besatzer und ihre Kollaborateure im Lande ebenso wie gegen das unter den gegebenen Bedingungen etablierte und agierende, wenngleich aus freien Wahlen hervorgegangene Zivilregiment entlädt. Die empfohlenen Mittel, die Potentiale zu entschärfen und so die aktive Szene zu reduzieren, haben ihre Bewährungsproben in Nordirland und - mit unterschiedlichem Erfolg - auf dem Balkan hinter sich: strikte Verhältnismäßigkeit der Mittel, Kooperation mit den örtlichen Autoritäten, also vor allem der Geistlichkeit, Sicherung des Alltags und Gewährung von praktischer Autonomie, wo immer es geht, Einrichtung von Vermittlungs- und Beschwerdestellen, eintrainierter Respekt vor der anderen Kultur beim eigenen Personal und die Pflege ziviler Kontakte auf allen Ebenen. Dass der britischen Besatzung in all diesen Punkten ein eher gutes Zeugnis ausgestellt wird, zeigt, dass die Ermahnungen dem großen Bruder gelten, für dessen entsetzliche Fehler der Name Falludscha steht. Als problematisch dürften viele das Rezept empfinden, gewaltbereite und Gewalt praktizierende Gruppierungen in den Prozess der Restituierung und Festigung des zivilen Lebens einzubeziehen und sie nicht ausschließlich militärischen Lösungen zu überantworten.
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Wie die Verhältnisse sind, darüber verfügen in der Regel diejenigen unter den Beteiligten, die sich dem 'Diktat des Alltags' nicht beugen möchten, in dem alles nur relativ zu haben ist, was sich dem Begehren als Fülle vor Augen stellt, als erfülltes Dasein für einen selbst, die Personengruppe, für die man steht, oder für die Gemeinschaft, die einen umfängt. Ansonsten wären die Verhältnisse - die Verhältnisse. Erst das Projekt, das die Muskeln strafft, lässt sie unerträglich erscheinen. Vollends erzeugt die Konkurrenz der Projekte jene verhängnisvollen Spiralen, in denen sich Konflikte so gern bewegen. Deeskalation, so gut sie gemeint ist, enthält die Aufforderung an die Konfliktparteien, sich ihrer Projekte ganz oder teilweise zu entschlagen. Das Problem wird häufig dadurch verstellt, dass man die Wahl der Mittel in den Vordergrund stellt. Gewalt ist aber nicht einfach ein Mittel zur Durchsetzung von Zielen, die auch auf anderen Wegen zu haben sind. Gewalt ist der Weg der Durchsetzung selbst, und welche Form der Gewalt als akzeptabel oder inakzeptabel gilt, gehört, anders als es die allgemeine Überzeugung will, in den innersten Bereich dessen, was man heute 'Kultur' nennt und was man genausogut die Unkultur einer Region oder Gemeinschaft oder 'Weltmacht' nennen könnte, weil diese Pythia nur befragt wird, damit sie Auskunft gibt, aber nicht, damit sie Rede und Antwort steht.
In solchen Überlegungen bekommt das Wort von der 'Überdehnung' einen guten nicht-militärischen und nicht-ökonomischen Sinn. Überdehnung im mentalen, 'kulturellen' Sinn setzt dort ein, wo die notwendige Konkurrenz der Konzeptionen, das von der anderen Seite in Anspruch genommene Recht, aus eigenen Ressourcen spiritueller, rechtlicher, ökonomischer Art zu leben, nicht mehr wahrgenommen wird. Auch der vielgepriesene Respekt vor der Religion des Anderen kann zur Farce verkommen, wenn gleichzeitig die Lebensweise und das Recht auf Selbstbestimmung ganzer Erdteile unter Beschuss geraten. Man kann sagen, daran sei nichts Besonderes, die Geschichte sei nichts anderes als die Erzählung solcher Übergriffigkeiten, man kann auch sagen, dies sei der Weg, auf dem Aufklärung, Bildung und Wohlstand unter die Menschen kommen, man kann auch sagen, das in der eigenen Zivilisation ausgebildete Recht des Einzelnen gegenüber jeder Art von Gemeinschaft sei ein universales Gut, das nach universaler Verbreitung verlange, man kann auch sagen, in dieser Hinsicht sei die Geschichte längst an ihr Ende gelangt und was man erlebe, seien reaktionäre, im Kern faschistische Rückschläge, für die es kein Pardon geben dürfe. Man kann das alles sagen. Die alte Frage, wo die unsichtbare Linie überschritten und die Bekämpfung des Bösen selbst zum universalen Ärgernis wird, hat man sich damit noch gar nicht gestellt. Es wäre aber besser, man stellte sie sich, bevor andere sie stellen - theoretisch, praktisch, mit jener Unerbittlichkeit, die historischen Prozessen eignet.